Unter allen Autor*innen der anarchistischen Tradition ist Gustav Landauer (1870–1919) zweifellos derjenige, bei dem wir Reflexionen finden, die am ehesten auf unsere heutigen Fragen zur Präfiguration (Vorwegnahme, Vorbild, Beispiel) in der Verbindung mit einer libertär-sozialistischen Utopie antworten können. (GWR-Red.)
In einem Kontext, in dem es ihm um den Nachweis der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Konzeption der Revolution geht, schlägt Gustav Landauer (in „Die Revolution“, 1907 – d. Ü.) etwas ironisch die Parodie einer Geschichtsphilosophie vor, in der zwischen Topien und Utopien gewechselt wird. Die Topie der „relativen Stabilität“ einer gegebenen Gesellschaft stellt sich demnach als Folge einer Revolution ein, die eine frühere Topie im Namen einer Utopie umgestürzt hat. Bereits seit Thomas Morus (1478–1535) findet man zwei Bestandteile der Utopie, nämlich den der Kritik und den eines positiven Vorschlags. Die Utopie drückt daher die Ablehnung des Bestehenden und gleichzeitig das Projekt einer neuen Sozialordnung aus. Dieses Projekt wird sich im weiteren Verlauf sowohl konkretisieren als auch in einer neuen Topie erstarren. Die Lesart der Geschichte, in die sich diese halb-ironische Darstellung der Utopie einschreibt, erinnert an die sich abwechselnden kritischen und organischen Perioden in der Geschichtsvision der Saint-Simonist*innen (Henri de Saint-Simon, 1760–1825). (1)
Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass Landauer diese auf den ersten Blick zyklische Konzeption der Geschichte sehr ernst genommen hat. Möglicherweise hat er darin jedoch einen doppelten Vorteil erkannt: Einerseits bot diese Konzeption die Möglichkeit, jedes Ende der Geschichte, ja sogar jede Vorstellung eines historischen Fortschritts abzulehnen – und so dazu beizutragen, der damals sehr verbreiteten Versuchung zu widerstehen, sich einer Geschichtsteleologie hinzugeben nach dem Motto: „Die Geschichte arbeitet in unserem Sinne!“ Stattdessen solle man sich doch den Aufgaben der Gegenwart widmen.
Andererseits lag in dieser Konzeption ein permanentes Neu-Beginnen, und sie ignorierte weniger stark das Auftreten des Neuen in der Geschichte. Denn jeder utopische Ausblick war demnach bereits direkt von der „Topie“ der gegebenen sozialen Lage abhängig, in die er eingreifen sollte. Wenn diese Interpretation richtig ist, dann diente das Konzept der Utopie Landauer dazu, die Anmaßungen einer jeden Geschichtsphilosophie, die sich als Wissenschaft begreifen will, zurückzuweisen.
Doch dadurch war Landauer nunmehr eher zu einem Denker der Präfiguration [der Vorwegnahme; des Vorbild-Abgebens; des Beispielhaften – d. Ü.] geworden denn ein Theoretiker der Utopie: durch seinen Willen, die Zukunft in der Gegenwart abzubilden; durch sein Insistieren auf der Notwendigkeit, den Sozialismus (der nur der positive Name für die Anarchie sei) hier und jetzt zu verwirklichen.
Von der Präfiguration zum Beginnen
In der Gegenwart zu handeln, das bedeutet für Landauer nicht, sich im Hinblick auf ein hypothetisches revolutionäres Ereignis zu organisieren, sondern das bedeutet anzufangen, sich klar darüber zu werden, was man sich wünscht. Ausgehend von dieser Perspektive wird die Nutzung bestimmter Begriffe bei Landauer plausibel, die eine starke präfigurative Bedeutung besitzen. Am auffälligsten ist dabei der Begriff des „Vorbilds“. Hier ist zu bemerken, dass der Begriff des Vorbilds in Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ (1911) nicht direkt vorkommt, aber in drei Texten, die dessen Niederschrift umrahmen. Sie behandeln konkrete „Initiativen“ – als „Siedlungen“ bezeichnet –, die Landauer in seinem „Sozialistischen Bund“ zu föderieren gedachte, wofür wiederum der „Aufruf zum Sozialismus“ so etwas wie eine Art Manifest sein sollte.
Im elften Artikel von „Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes“ in der Version von 1908 schreibt er:
„Diese Siedlungen sollen nur Vorbilder der Gerechtigkeit und der freudigen Arbeit sein: nicht Mittel zur Erreichung des Ziels.“ (2) Es muss hier unterstrichen werden, dass sich Landauer gegen eine instrumentelle Logik ausspricht, welche diese Initiative nur auf ein simples, mehr oder weniger gleichgültiges Mittel für das zu verfolgende Ziel reduziert.
Zwei Jahre später, 1910, heißt es in „Das dritte Flugblatt: Die Siedlung“:
„Sind solche Siedlungen erst aus der gewaltigen Macht vereinigter Bedürfnisse geschaffen worden, ist das Freudeleben des Wirtschaftens in neu vom Geiste belebten Gemeinden erst da, dann wird es nicht mehr die Hoffnung in der Ferne sein, was die Massen erfüllt, sondern der Neid auf das, was sie greifbar um sich sehen: an allen Enden, in allen Gegenden sozialistischer Anfänge, Vorbilder der Kultur.“ (3)
Was sich hier ausdrückt, das ist zugleich die Notwendigkeit, die Bedürfnisse als Ausgangspunkt zu nehmen (und die entsprechende wirtschaftliche Organisierung, die sie befriedigt), sowie die Weigerung, sich auf „entfernte Hoffnungen“ zu verlassen – eine Anspielung auf die simple Erlösungsprophetie [klassenlose Gesellschaft – d. Ü.], die der Marxismus in jener Epoche propagierte. Dagegen betonte Landauer die unmittelbaren Wünsche und die dafür greifbaren Objekte. Die Präfiguration ist nicht etwa ein simples Bild der künftigen Gesellschaft, sondern sie besteht darin, die Wünsche gegenwärtig zu halten und mindestens die Bewegung für ihre Verwirklichung in Gang zu bringen. Die „Vorbilder“ sind deshalb nicht irgendwelche Utopist*innen, die sich damit zufriedengeben, ein radikales Woanders in schillernden Farben auszumalen, sondern sie sind, genau genommen, Initi-ator*innen.
Und dann schrieb Landauer noch in seiner „Zweiten Fassung“ von „Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes“ im Jahr 1912 (Artikel 7):
„Damit die große Umwälzung in den Bodenbesitzverhältnissen komme, müssen die arbeitenden Menschen erst auf Grund der Einrichtungen des Gemeingeistes, der das sozialistische Kapital ist, so viel von sozialistischer Wirklichkeit schaffen und vorbildlich zeigen, wie ihnen jeweils nach Maßgabe ihrer Zahl und Energie möglich ist.“ (4)
Dieser Passage ist ebenfalls zu entnehmen, dass es hier nicht um bildliche Darstellung, um eine Art Ästhetik, also um den Sozialismus als punktuelle Umsetzung geht. Um hier an die wohlbekannte Kritik von Murray Bookchin gegen präfigurative Versuche zu erinnern: Es geht hier nicht um so genannte „Lifestyle“-, Bohème- oder Dandy-Konzepte des anarchistischen Lebens oder um eine simple anarchistische „Pose“, sondern um eine umfassende und ernsthafte Strategie, die sich gegen den damaligen Attentismus (Tendenz des Abwartens im Marxismus, bis objektive Faktoren/Bedingungen für die Revolution erreicht sind, anstatt sie mit dem subjektiven Faktor oder Willen aktiv herbeizuführen – d. Ü.) der Sozialist*innen richtete, das heißt also: um eine wahre Politik der Präfiguration.
Durch Absonderung zur Gemeinschaft: Versuch und Scheitern
Diese Strategie besteht zunächst darin, gegen die ausschließliche Schwerpunktsetzung auf industrielle Arbeit die vordringliche Bedeutung des Bodenbesitzes und der Landwirtschaft zu betonen – die Garanten jeder Autonomie und Ökonomie, die sich auf die Bedürfnisse gründet. Die Strategie zählt des Weiteren auf das so genannte „Kapital“ der Sozialist*innen, das heißt den Geist der Föderation, der sich an der Quelle neuer Institutionen findet. Und schließlich wirkt sie durch eine Dynamik des Beispielgebens und der Ausbreitung. Die hierbei zugrunde gelegte Logik ist die der Separation oder der Absonderung [vom kapitalistischen Bestehenden – d. Ü.] – wir wissen, dass Landauer der Autor der bekannten Broschüre mit dem Titel „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ (1901) war. (5)
Dies bedeutet, dass solche Versuche im Herzen der kapitalistischen Wirklichkeit Zellen der sozialistischen Wirklichkeit hervorbringen, die gleichzeitig Ausgangstüren aus der Welt der kapitalistischen Produktion sind. Am Ende von „Aufruf zum Sozialismus“ meint Landauer, dass es darum gehe, „das Beispiel der Vorausgehenden“ (6) zu geben – und auch im Begriff „Vorbild“ gibt es ja diese Bedeutung der Exemplarität. Aber sie bedeutet keinesfalls, dass die von Landauer vorgeschlagenen sozialistischen Initiativen einfach nur knechtisch imitiert werden sollen. Ganz im Gegenteil: Zur Originalität von Landauers Denken gehört auch das unvermeidliche Scheitern solcher Initiativen – das nicht gefürchtet werden darf, sondern dem Nachdenken dienen soll, wie die nächsten Versuche verbessert werden können. In einer Passage greift er dabei direkt die Marxist*innen seiner Zeit an:
„Aber der Marxismus ist der Philister, und darum verweist er immer voller Hohn und Triumph auf Fehlschläge und vergebliche Versuche und hat solche kindische Angst vor den Niederlagen. Gegen nichts trägt er mehr Verachtung zur Schau, als gegen das, was er Experimente oder gescheiterte Gründungen nennt.“ (7)
Eine Bewegung zu initiieren, bedeutet selbstverständlich, sich auch einem möglichen Scheitern auszusetzen. Landauer fürchtete sich nicht davor, seinen Worten Taten folgen zu lassen – und hat mehr als nur einen Fehlschlag erlebt. Beim „Vorbild“ geht es also keineswegs um ein starres Modell, das andere nur kopieren oder nachäffen sollen. In der Präfiguration ist nicht das faktisch Konstruierte beispielgebend, sondern die Dimension der freiwilligen Initiative, die vom sozialistischen und libertären Geist belebt und befeuert wird.
Von der Präfiguration zur Revolution
Dieses Festhalten an der präfigurativen Aktion beinhaltet für Landauer jedoch nicht eine Absage an die Revolution. Noch einmal: Er verhöhnt im „Aufruf für den Sozialismus“ die Marxist*innen:
„Einer der schlimmsten Irrtümer der Marxisten (…) ist die Meinung, auf dem Wege über Revolutionäre könne man zur Revolution kommen, während man umgekehrt nur auf dem Wege der Revolution zu Revolutionären kommt. Ein paar Jahrzehnte lang Reinkulturen von Revolutionären schaffen, vermehren und beisammen halten wollen, um sie für den Fall der Revolution doch einmal sicher in der rechten Zahl zu haben, ist ein echt deutscher, kindisch pedantischer und schulmeisterlicher Einfall. Um die Revolutionäre braucht man nicht bange zu sein; sie entstehen wirklich in einer Art Urzeugung – wenn nämlich die Revolution kommt. Damit die Revolution, ein gestaltendes Neues, aber kommt, müssen die neuen Bedingungen geschaffen werden.“ (8)
(…) So ist es zum Beispiel schwer, die spanische Revolution zu verstehen, die Schaffung von Agrarkommunen und die Übernahme von Industriebetrieben durch die anarchistische und syndikalistische Bewegung, ohne die Jahrzehnte dauernde präfigurative Vorbereitung in Betracht zu ziehen, die ihnen vorausging. (…)
(1) A. d. Ü.: Zur Abfolge von Topie und Utopie bei Landauer vgl. sehr viel ausführlicher: Bernhard Braun: „Die Utopie des Geistes. Zur Funktion der Utopie in der politischen Theorie Gustav Landauers“, Reihe 11, Band 103, Schulz-Kirchner Verlag, Mannheim 1991.
(2) Gustav Landauer: „Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes“, 14.6.1908, in: „Die Freie Generation, Juni 1908, hier in: Gustav Landauer: „Antipolitik“, Ausgew. Schriften, hrsg. von S. Wolf, Verlag Edition AV, Lich 2010, S. 126.
(3) Gustav Landauer: „Das dritte Flugblatt: Die Siedlung“, in: „Der Sozialist“, 1.5.1910, hier in: Gustav Landauer: „Antipolitik“, a. a. O., S. 144.
(4) Gustav Landauer: „Die Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes. Zweite Fassung“, in: „Der Sozialist“, 1.1.1912, hier in: Gustav Landauer: „Antipolitik“, a. a. O., S. 128.
(5) Gustav Landauer: „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“, 1901, hier in: Gustav Landauer: „Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890-1919“, hrsg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzigkeit, Klaus Boer Verlag, Regensburg 1997, S. 80-99.
(6) Gustav Landauer: „Aufruf zum Sozialismus“, Erstauflage 1911, Reprint der Ausgabe von 1923, Büchse der Pandora, Wetzlar 1978, S. 152.
(7) Gustav Landauer, „Aufruf zum Sozialismus“, a. a. O., S. 47.
(8) Gustav Landauer: „Aufruf zum Sozialismus“, a. a. O., S. 72.
Jean-Christophe Angaud hat an der Universität ENS Lyon vom 6. bis 8. Juni 2019 ein von deutsch- und französischsprachigen Landauer-Kenner*innen besuchtes internationales Kolloquium zur „Aktualität von Gustav Landauer: Philosoph und Revolutionär“ organisiert. Er hat 2019 eine Neuübersetzung von „Aufruf zum Sozialismus“ auf Französisch veröffentlicht.
Übersetzung aus der französischen anarchistischen Vierteljahreszeitschrift „Réfractions“, Nr. 46, 2021: „Préfigurations :par ici, l’utopie!“ (Präfigurationen: Hierher, Utopie!), S. 105-112. Der längere Originaltext wurde hier ganz zu Beginn und insbesondere im letzten Abschnitt zum Teil stark gekürzt.
Übersetzung: loma