grenzenlos

Ein langer Weg zum Frieden

Eine Reise nach Irakisch-Kurdistan

| Steff Brenner

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Foto: Steff Brenner

Im Folgenden veröffentlichen wir einen subjektiven Bericht über die Teilnahme an der Friedensdelegation #Delegation4Peace in der Autonomen Region Kurdistan. Über die Reise nach Irakisch-Kurdistan, die Eindrücke vor Ort ebenso wie über die Repression, die die Delegationsteilnehmer_innen bei ihrer Rückkehr nach Deutschland erfahren haben, schreibt für die GWR Delegationsteilnehmer und Mitglied des Internationalen Komitees der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) Steff Brenner. (GWR-Red.)

Mitte Juni 2021. Wir fahren durch die Berge der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Unsere Busse sind voller Internationalist_innen. Das Rattern der Motoren mischt sich mit dem Hupen überholender Pickups, dem Klicken von Kameras, Sprachfetzen angeregter Diskussion auf Englisch, Deutsch, Kurmandschi und Französisch. Die Busse winden sich die steilen Schotterstraßen des Zagros-Gebirges (Çiyayên Zagrosê) hinauf, wir sind keine 20 Kilometer von der Front entfernt. Als Gewerkschafter_innen der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) sind wir Teil einer internationalen Delegation zur Unterstützung der kommunalistischen Bewegungen der Region und zum Protest gegen einen drohenden türkischen Invasionskrieg im Nordirak. Unsere heterogene Delegation soll auf über 150 Vertreter_innen verschiedenster Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und Medien aus über 20 Ländern anwachsen. Wir sollen uns mit Vertreter_innen von Parteien und Zivilgesellschaft, aber auch mit Geflüchteten und Kriegsopfern treffen. Ziel ist es, einen Eindruck von der Lage in der Autonomen Region Kurdistan zu bekommen, wo seit dem 24. April 2021 (Jahrestag des türkischen Völkermords an den Armenier_innen) eine groß angelegte türkische Militäroffensive begonnen hat. Offiziell gilt diese der Niederschlagung der PKK im Zagros-Gebirge, viele Beobachter_innen befürchten indes darüber hinaus eine dauerhafte türkische Besetzung, Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik in den attackierten Gebieten.

Blick zurück

2012: Mit über 25 Freund_innen sind wir auf dem anarchistischen Weltkongress in St. Imier (Schweiz). In diesem Schmelztiegel libertärer Bewegungen macht eine Nachricht die Runde: Die kurdische PKK, verknüpft mit parteiinternen Machtkämpfen und Säuberungen, habe eine Kehrtwende gemacht. Von einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei soll sie sich den anarchistischen Ideen des Anarcho-Kommunismus und Kommunalismus angenähert haben. Langjährige Freund_innen, exilierte Anarchist_innen aus der Türkei, bestätigen, dass sich die Entwicklung schon mehrere Jahre vollziehe und dass die kommunalistisch-kurdische Bewegung mittlerweile größere Teile Nordsyriens und auch Teile der Türkei unter Kontrolle halte. Zu Hause beginne ich zu recherchieren. Ein paar Artikel im Internet geben sehr unterschiedliche Einschätzungen.

Foto: Steff Brenner

Zwei Jahre später: Die nordsyrische Stadt Kobanê wird vom Daesh („Islamischer Staat“, IS) bedrängt. In meiner Stadt kommt es am 10. Oktober 2014 zu einer ersten großen Demonstration. Für viele der aufgetauchten deutschstämmigen Linken ist es der erste Kontakt mit den kurdischen Genoss_innen der Stadt. Wir sind verblüfft und berührt von der Masse und der Stimmung der Demonstration. (1) Wie mir ging es vielen in und außerhalb unserer Gewerkschaftsbewegung. Wir begannen Reportagen, Einschätzungen und Dokus zu sichten und uns ein Bild von der Situation zu machen. Gleichzeitig wurde die Bewegung durch ihren erfolgreichen Bodenkampf gegen den Daesh weltberühmt, Rojava ein Schlagwort, welches vielen Menschen auch außerhalb der linken Bewegung ein Begriff wurde.

Daneben hielten uns als ostdeutsche Linke in dieser Zeit aber v. a. auch lokale Geschehnisse auf Trab: Die Zahl rechter Anschläge und Gewalttaten schoss in die Höhe, weit über ein Jahr waren 35 rechtsradikale Demonstrationen pro Woche (!) in Sachsen keine Seltenheit. Meine Genoss_innen und ich fuhren mehrmals die Woche los, vor irgendeine Geflüchteten-Unterkunft, wo wir mit den Betroffenen, nur mit ein paar Fahnenstangen und Pfefferspray bewaffnet, notdürftig den Selbstschutz gegen einen besser bewaffneten und weit größeren rechten Mob organisierten. Heidenau, Freital, Bautzen, Dresden und Clausnitz sind nur einige der Ortsnamen, die uns zu dieser Zeit mehr im Ohr klangen als Kobanê, Dirbêsiyê, Qamişlo oder Afrîn. (2)
Gerade in dieser Zeit lernten wir immer wieder Menschen kennen, die vor Ort gewesen waren, die in uns ein differenzierteres Bild von den gesellschaftlichen Dynamiken entstehen ließen, die sich im Nord-Osten Syriens und wenig später auch im Sindschar-Gebirge (Çiyayê Şingal) abspielten.

Eigene Verantwortung

In den Jahren 2016 und 2017 beschäftigten wir uns in unserem Syndikat (lokale Gewerkschaft der FAU) intensiv mit der bevorstehenden Gründung unserer neuen Gewerkschaftsinternationale, der Internationalen Konföderation der Arbeiter_innen, (3) und im Zuge dessen auch mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der zapatistischen, kommunalistischen und syndikalistischen Bewegungen. Diese drei Strömungen versuchen gerade, mit libertär orientierten Konzepten Tausende von Menschen zu organisieren und sich dabei weltweit mit anderen Bewegungen zu koordinieren.
Ein großes Problem für die kommunalistischen Bewegungen in der Türkei, in Nord-Ost-Syrien, im Iran und Nordirak ist, dass ihnen internationale Aufmerksamkeit meist nur während akuter Kriegszeiten zuteilwurde und -wird. Ich war da leider zunächst keine Ausnahme. Mit dem 19. Januar 2018 sah sich die Revolution in Nord-Ost-Syrien einer neuerlichen türkischen Invasion gegenüber. Anders als bei vorherigen Konflikten nahm ich diesmal sehr aktiv an der Solidaritätsarbeit teil, lernte Menschen vor Ort kennen, sichtete tägliche Berichte über Frontverläufe und Menschenrechtsverletzungen. Natürlich hatte mich all dies schon vorher beschäftigt, doch diesmal verzweifelte ich ob unserer Machtlosigkeit und der Desinteressiertheit der deutschen Öffentlichkeit, deren Regierung den türkischen Diktator deckte, Panzer und Drohnentechnologie lieferte, um im nächsten Moment wieder etwas von humanistischen Werten und Rechtsstaatlichkeit zu faseln.
Für mich begann eine intensive Auseinandersetzung mit mir selbst, mit den eigenen Privilegien, die wir als Mitglieder von linken Bewegungen in Konsumländern wie Deutschland genießen, wie diese Gesellschaftsformen unsere Aushandlung von individuellen und kollektiven Zielen und unser Verantwortungsgefühl prägen. Am Ende der Überlegungen stand der Entschluss, mich im Internationalen Komitee der FAU-Bundesföderation zu engagieren und mich durch Korrespondenz und Recherche so gut wie möglich mit den Verhältnissen vertraut zu machen.

Foto: Steff Brenner

Auf dem Weg…

Es ist der 10 Juni. Nach 40 Grad im staubig-abgasbelasteten Erbil und fünf Stunden Busfahrt atmen wir endlich kühle Bergluft. Wir blicken auf die angrenzenden iranischen Berge und den Cheekha Dar (den höchsten Berg des Iraks). Es ist mein dritter Tag in Kurdistan, und unsere Gastgeber_innen wollen uns zunächst die Schönheit des Landes nahebringen. Das ist gelungen! Mit Blick auf das zerklüftete Gebirge, die leidvolle Geschichte der Minderheiten der Region und die immer mangelhafte Unterstützung für diese wird mir die Tragweite des kurdischen Sprichworts „Keine Freunde außer den Bergen“ voll bewusst.
Die Fahrt geht weiter, es werden Projekte besprochen, Pressemitteilungen geschrieben, Perspektiven aus verschiedenen Ländern ausgetauscht. Unterbrochen wird das rege Treiben von Checkpoints der Peschmerga-Einheiten, die meist entweder der stärksten Regierungspartei PdK (auf deutsch KDP abgekürzt) oder der zweitgrößten YNK (auf deutsch PUK abgekürzt) unterstehen. Innerhalb von zwei Tagen sehe ich so viele Sturmgewehre wie vermutlich in meinem ganzen Leben zuvor nicht. Schon am gestrigen Tag wollte eine Abordnung unserer Delegation zum Parlament fahren und sich mit Vertreter_innen der verschiedenen kurdischen Parteien treffen. Daraus wurde nichts, vorm Hotel hielten bewaffnete Kräfte die Fahrt auf. Auch wir machten erste Bekanntschaft mit Militär-Transportern und Agent_innen in Zivil, die uns begleiten.
Während unserer heutigen Fahrt beginnen Sicherheitskräfte der Autonomen Region Kurdistan, am Flughafen Erbil ankommenden Mitgliedern unserer Delegation die Einreise zu verweigern. Zum Schluss werden es weit über 50 sein. Viele sitzen tagelang bei mangelnder Versorgung im Transit-Bereich fest, manche gehen in den Hungerstreik. Das deutsche Konsulat in Erbil schweigt zu den Vorgängen. Am selben Tag werden drei Mitglieder der syrischen PKK-Schwesterpartei PYD, teils offizielle Vertreter in der Autonomen Region Kurdistan, in Erbil festgenommen und ohne Gerichtsverfahren und Beistand oder Informationen über ihren Verbleib in Haft genommen. Zwei kommen nach 50 Tagen ohne Erklärung wieder frei. Der dritte Aktivist ist Anfang August weiterhin vermisst.

Treffen mit Vertretern der Êzîd_innen

Wieder im Bus. Wir singen revolutionäre Lieder oder blicken, unseren Gedanken nachhängend, aus dem Bus ins schwindende Tageslicht. Wir sind fertig vom Tag. Es sind die Widersprüche des Erlebten, die an uns nagen und in unseren Köpfen ihre Kreise drehen.
Am Morgen des 4. Tages unseres Aufenthalts haben wir nach mehrstündiger Fahrt das religiöse Oberhaupt der Êzîd_innen getroffen, den „Bavê Şêx“ Ali Elias, der seit Ende 2020 im Amt ist. Die Êzîd_innen sind eine religiöse Minderheit, die seit Jahrhunderten verfolgt wird. Internationale Aufmerksamkeit erhielten sie ab dem 3. August 2014, als der Daesh vor ihrem Hauptsiedlungsgebiet, dem Sindschar-Gebirge, stand, mit der festen Absicht, sämtliche Êzîd_innen samt ihrer kulturellen Stätten zu vernichten. Das Sindschar-Gebirge im Westen des Nordirak, nahe der Autonomen Region Nord-Ost-Syrien, unterstand damals dem Schutz der Autonomen Region Kurdistan. Die Peschmerga der PdK, von der Bundesrepublik Deutschland später für die Abwehr des Daesh mit Waffen ausgerüstet, räumten die Stellungen des Sindschar-Gebirges, ohne einen einzigen Schuss abzugeben, und überließen Zehntausende vorher entwaffnete Êzîd_innen ihrem Schicksal. Schlussendlich waren es revolutionäre Einheiten aus Nord-Ost-Syrien und der PKK, die mit US-Luftunterstützung einen Fluchtkorridor freikämpften. Für Tausende kam diese Hilfe allerdings zu spät.
Die Audienz ist widersprüchlich. Einerseits weil es um die Person Ali Elias wie auch anderer kürzlich gewählter Oberhäupter innerhalb der êzîdischen Gemeinschaften Streit gibt. Neben den tradierten Wahlverfahren (die Führer der Êzîd_innen sind prinzipiell Männer, müssen bestimmten Familien entstammen und werden meist nur von den Eliten gewählt) wurden bei den letzten Wahlen auch besondere politische Einflussnahme und eine Nähe der Kandidaten zur Partei PdK unterstellt. Teile der Êzîd_innen erkennen die Wahl nicht an. Weiterhin werden bis heute Kinder aus IS-Vergewaltigungen von der êzîdischen Führung nicht anerkannt, und viele betroffene Frauen fühlen sich ausgestoßen und stigmatisiert. Nach Aussagen von Êzîd_innen und ehemaligen YPG-Kämpfer_innen, die ich treffe, befinden sich Hunderte betroffene Kinder in Waisenlagern der YPG in Nord-Ost-Syrien, zurückgelassen von verzweifelten Müttern. Auch die Selbstmordrate unter êzîdischen Frauen ist weiterhin hoch. Schließlich kommt mir zu Ohren, dass weibliche Kämpfer_innen der êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ und YJÊ (nach 2014 nach nord-ost-syrischem Vorbild von Kommunalist_innen aufgebaut) vom Bavê Şêx aus der êzîdischen Gemeinschaft ausgeschlossen worden sein sollen. Auf der anderen Seite vertritt der Bavê Şêx immer noch Tausende Êzîd_innen, bringt uns viele Probleme der Religionsgemeinschaft nahe und legitimiert mit seiner Audienz auch unsere Delegation auf dem diplomatischen Parkett der Autonomen Region Kurdistan.
Es folgt ein eindrücklicher Besuch von Lalisch (Laliş), dem höchsten Heiligtum der Êzîd_innen. Auch hier haben wir widersprüchlichste Eindrücke, und wir treffen eine auffällige Frau wieder, die uns schon beim Hinflug an den Fersen klebte und der wir noch verschiedentlich begegnen – ob sie BND-Agentin oder Mitglied eines anderen Geheimdienstes ist, lässt sich schwer feststellen.

Besuch im Flüchtlingslager Sheikhan

Anschließend fahren wir ohne offizielle Genehmigung ins êzîdische Flüchtlingslager Sheikhan. Sieben Jahre nach dem Genozid von 2014 leben hier ca. 12.000 Geflohene in Zelten – es ist nur eines von vielen Lagern in Syrien und Nordirak, und die Êzîd_innen sind nur eine von vielen Betroffenengruppen. Allein im Gouvernement Dahuk (Dihok) leben einer Übersichtskarte in der Lagerverwaltung zufolge über 700.000 „Displaced Persons“. Nur ein Bruchteil unserer Delegation wird ins Lager gelassen, nur für kurze Zeit und mit Polizeibegleitung. Der Rest unserer zu diesem Zeitpunkt 60-köpfigen Delegation wird von der Lagerleitung zum Tee eingeladen.

Foto: Steff Brenner

Auch hier Ambivalenz: Der Lagerleiter hat selbst Fluchtgeschichte, scheint sich sogar über die Delegation zu freuen, und doch bleiben die Menschen hier in elenden Lagerbedingungen, weil das Barzani-Regime, welches für die Lagerführung verantwortlich zeichnet, weder materielle noch militärische Sicherheiten für die Êzîd_innen garantiert. Viele von uns verzichten daher darauf, unter Barzani-Porträts und -Schriftzügen die Tee-Rationen der Insass_innen wegzutrinken, und suchen am Rande des Camps das Gespräch mit den Betroffenen – so auch ich mit zwei Genoss_innen. Wir und andere erhalten in unseren Gesprächen ähnliche Einschätzungen der aktuellen Lage: Die Leute trauen dem Barzani-Regime nicht, es waren PKK- und nord-ost-syrische Kräfte, die sie sowohl militärisch als auch humanitär unterstützt hätten. Sie erzählen, dass sie keine Hoffnung haben, da der Daesh immer noch stark in der Region sei, auch sonst viele Muslim_innen den Êzîd_innen feindlich gegenüberstünden und nun sogar Daesh-Gefangene im selben Lagerkomplex untergebracht würden. Die PKK sei schließlich abgezogen, um keine Legitimation für weitere türkische Angriffe auf die Region zu liefern, die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten würden von der kurdischen und irakischen Regierung bekämpft. Internationale Hilfen für den Aufbau êzîdischer Dörfer würden von der kurdischen Regierung in die eigene Tasche gesteckt, der Wiederaufbau und der Verkehr in und aus êzîdischen Ortschaften von Regierungsmilizen verhindert. Das Bild, das bleibt: Hunger, Elend, Trauma, Stillstand und Resignation. (4)

Der fünfte Tag beginnt mit einer Überraschung: Die Bundespolizei selbst ist am Flughafen Düsseldorf aktiv geworden und hat rund 20 unserer Delegierten an der Ausreise gehindert. Da davon auch deutsche Parlamentarier_innen betroffen sind und alles danach aussieht, dass die deutschen Sicherheitsorgane hier auf direkte Anfrage des türkischen Geheimdienstes handeln, erfährt die Geschichte eine größere Öffentlichkeit in linken und konservativ-rechten Medien. Der Tag besteht für uns im Wesentlichen aus Pressearbeit im Hotel.

Treffen mit einem PdK-Offiziellen

Durch die Medienberichte über unsere Delegation ändert die Regierungspartei PdK am nächsten Tag ihre Taktik: Nach diversen Treffen einer unserer Abordnungen mit verschiedenen Parteien und Gewerkschaften der Autonomen Region sagt der Regierungsverantwortliche für auswärtige Angelegenheiten überraschend ein kurzfristiges Treffen zu. Noch zwei Tage vorher hatte uns seine Partei in Pressestatements wüst als Terrorist_innen beschimpft.
Das Treffen findet bei uns im Hotel statt, über 80 Mitglieder der Delegation sind anwesend. Nach diplomatischen Nettigkeiten beginnt der Quasi-Außenminister einen längeren Monolog und wiederholt die gängigen Erzählungen der PdK: Dass es sich bei der Autonomen Region Kurdistan um einen Rechtsstaat handele, die PKK diesen nicht anerkenne, dass die türkischen Angriffe die Schuld der PKK seien und sie außerdem dafür verantwortlich sei, dass die Êzîd_innen nicht in ihre Siedlungsgebiete zurückkehrten. Manche Teilnehmer_innen werden in ihren Nachfragen eindringlicher: Ob nicht verschiedene Demokratie-Konzeptionen ihre Berechtigung hätten – und in jedem Fall mehr als der türkische Despotismus? Ob der Feind nicht eher die aggressive türkische Autokratie sei als die PKK? Unser Gegenüber verfällt in Realtalk: Welche Optionen die Autonome Region gegen das NATO-Land Türkei denn hätte? Ob die Regierungen unserer Herkunftsländer irgendetwas für den Schutz der irakischen Kurd_innen unternehmen würden, käme es zum Krieg? Es fallen die Worte „Politik ist ein dreckiges Geschäft!“, und auf die Nachfrage, ob nicht wenigstens die Grenzen nach Nord-Ost-Syrien geöffnet werden könnten, um die ausblutende Bevölkerung dort mit dem Nötigsten zu versorgen, folgt die klare Antwort: „Nein, weil wir überleben wollen!“ Nach diesem Wortgefecht verlässt der Politiker nebst seiner Leibwächter eilig und sichtlich wütend das Gebäude.
Noch in der Nacht steigt die Präsenz ziviler Agent_innen unerträglich an. Schon in den letzten Tagen waren offensichtlich Hotelzimmer in unserer Abwesenheit durchsucht worden und immer einige Spitzel zugegen, doch ab jetzt bis zur Abreise der Delegation aus Erbil bevölkern ganze Scharen die Lobbys der Hotels, in denen wir uns bewegen.
Eine Auswertung der Gespräche mit den restlichen Parteien und Organisationen kristallisiert später zwei Kernforderungen heraus, bei denen sich alle einig sind: 1. Die PKK muss von den internationalen Terrorlisten verschwinden, da diese Einordnung einerseits ungerechtfertigt ist und andererseits die internationale Legitimation für die türkischen Angriffskriege liefert. 2. Es darf zu keinerlei Gefechten zwischen PKK-Milizen und Peschmerga kommen.
Am darauffolgenden Tag wird unsere geplante Demonstration inklusive Pressekonferenz vor dem UN-Sitz in Erbil verboten. Unser Hotel wird von bewaffneten Kräften mit Sturmgewehren umstellt, wir dürfen das Gebäude nur einzeln für Besorgungen verlassen. Kurzerhand wird die Pressekonferenz unter Anwesenheit von Polizei und Peschmerga in der Hotellobby abgehalten. Ich schreibe eine Pressemitteilung, umringt von türkisch sprechenden Agenten und keine 20 Meter vom Lauf der nächsten AK-47 entfernt. Trotz des Verbots des Protests bleibt ein Erfolg: Alle namhaften Medien der Region sind vertreten, das Thema ist in der lokalen Öffentlichkeit voll gesetzt, kritische Stimmen aus der Region, vorgetragen durch uns Internationalist_innen, können vom Barzani-Regime nicht zum Schweigen gebracht werden.

Foto: Steff Brenner

Am achten Tag reise ich schweren Herzens ab, viele andere bleiben. Beim Flug treffen wir wieder auf die mutmaßliche BND-Agentin. In Düsseldorf empfangen uns eine große Solidaritätskundgebung und ein ebenso großes Polizeiaufgebot, das sich aber zurückhält – uns schützt vermutlich die gesteigerte Aufmerksamkeit deutscher Medien.
Der Rest der Delegation wechselt im Anschluss ins YNK-dominierte Gebiet, wo der Repressionsdruck nachlässt. Es kommt zu Fahrten in direkte Frontnähe, Treffen mit Kriegsopfern, Demonstrationen und Auftritten in diversen kurdischen Medien. Je später unsere Mitdelegierten nach Deutschland zurückkehren, desto unfreundlicher wird der Empfang. Zuletzt werden Gepäckstücke illegal durchsucht und entwendet, Rückkehrer_innen teils zu Boden geworfen, mehrere Stunden festgehalten und befragt. Weitere Repression wird sicher folgen, wenn das Medieninteresse völlig verebbt ist.

Relative Machtlosigkeit und fehlende Empathie

Unsere Delegationsreise kann sicher als ein Versuch begriffen werden, eine öffentliche Debatte auch dort herzustellen, wo sie unterdrückt wird. Sie war ebenso eine Suche nach neuen Konzepten in einer Situation, in der Großmächte mit einer historisch nie dagewesenen militärischen Übermacht das Leben Zigtausender Menschen und eben auch die Hoffnung auf (basis-)demokratische und humanistische Gesellschaftsformen bedrohen.
Trotzdem bleibt ein Gefühl relativer Machtlosigkeit in mir zurück, denn der PdK-Vertreter hatte an einem Punkt recht: Die Autonome Region Kurdistan und die Autonome Administration Nord-Ost-Syrien allein hätten gegen die NATO-Armee der Türkei kaum eine Chance, selbst wenn sie effektiv zusammen kämpfen könnten und wollten. Der Krieg wird in den Ländern entschieden, die das Erdoğan-Regime wirtschaftlich und politisch am Leben erhalten, also u. a. in Deutschland.
Je länger ich mich mit den sozialen Kämpfen außerhalb von Europa befasse, Freund_innen und Genoss_innen kennenlerne, die im Kampf fallen oder mir ihre Geschichten des Verlusts und ihrer Entbehrungen erzählen, desto mehr befremdet mich, welche Urteile, welchen Luxus und welche Privilegien sich selbst eine radikale Linke in Deutschland als scheinbar selbstverständlich herausnimmt. Diese mangelnde Empathie und das mangelnde Verantwortungsgefühl sind ein großes Problem. Ein anderes, noch schwerwiegenderes Problem ist, dass Öffentlichkeitsarbeit und Protest in Deutschland und anderswo wenig bis gar nichts bewirken werden, wenn die wirtschaftlichen Interessen in eine andere Richtung weisen. Als Belege für diese Aussage sei nur beispielhaft der Massenprotest gegen die Agenda 2010 (um 2004) genannt oder auf die völlig verzerrten Reaktionen der Politik bezüglich der Forderungen der aktuellen Klimabewegung verwiesen.
Als Internationalist_innen und Humanist_innen bleibt uns in Deutschland aus meiner Sicht deshalb nichts anderes übrig, als unsere eigenen Privilegien immer wieder kritisch zu überprüfen, uns in möglichst breiten, globalen und radikaldemokratischen Organisationen zu engagieren und darauf hinzuarbeiten, dass wir selbst wirtschaftlichen Schaden in solch einem Maße verursachen können, dass wir gegenüber den wirtschaftlichen Interessen an der Unterstützung der einen oder anderen Diktatur und Autokratie Gehör finden müssen. Dieser Weg ist lang, steinig, ein Kampf gegen die eigene Resignation und die Resignation der Mitmenschen. Auf diesem Weg sehen wir als Internationalist_innen immer wieder Freund_innen und Genoss_innen sterben. Ich kann daher nur alle Leser_innen bitten, sich den nötigen Organisierungs- und Bildungsprozessen anzuschließen und sie zu beschleunigen.

Steff Brenner
Mitglied des Internationalen Komitees der FAU
Ein detaillierter Bericht wird auf Direkte Aktion veröffentlicht.

(1) Es sollte die Demo werden, die an Lutz Bachmann vorbeizog und diesen dazu bewegte, Pegida zu gründen, was viele Antifaschist_innen Dresdens auf besondere Weise im gemeinsamen Kampf mit der Bewegung verbindet. Siehe: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/200901/pegida-eine-protestbewegung-zwischen-aengsten-und-ressentiments
(2) Eine längere Reportage über die ersten drei Jahre Pegida aus Sicht des Autors erschien in der Online-Zeitung Direkte Aktion unter dem Titel: „Drei Jahre Pegida, drei Jahre Belagerungszustand“
(3) Online erreichbar unter: https://www.iclcit.org/
(4) Da an Schlaf nicht zu denken ist, formulieren wir noch in der Nacht eine Pressemitteilung. Siehe: Presseerklärung der Gewerkschaft FAU: Besuch beim Oberhaupt der Êzîd*innen und im Flüchtlingslager Sheikhan vom 14. Juni, https://www.fau.org/artikel/presseerklaerung-der-fau-besuch-beim-oberhaupt-der-ezid-innen-und-im-fluechtlingslager-sheikhan

Glossar:

Kurmandschi: meistgesprochene kurdische Sprache

PdK: dt. Demokratische Partei Kurdistans; Regierungspartei der Autonomen Region Kurdistan im Irak; von der Familie Barzani dominiert Peschmerga: regierungsnahe Milizen der Autonomen Region Kurdistan

PKK: dt. Arbeiterpartei Kurdistans; inzwischen kommunalistisch orientierte Partei mit Schwerpunkt in den türkischen Gebieten Kurdistans, die großen Einfluss auf die gesamte kurdische Bewegung hat

PYD: dt. Partei der Demokratischen Einheit; syrische Schwesterpartei der PKK, die vor allem in Rojava aktiv ist

YNK: dt. Patriotische Union Kurdistans (PUK); wichtigste Oppositionspartei in der Autonomen Region Kurdistan

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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