Chile zählt zu den am stärksten von Ungleichheit geprägten Ländern der Welt. Die Aufstände von Oktober 2019 und das darauffolgende Plebiszit haben deutlich gezeigt, dass die Bevölkerung die herrschenden Missstände ändern will. Wird die neue Verfassung die Neoliberalisierungsprozesse stoppen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ChilenInnen verbessern? Die letzten Entwicklungen beobachtete vor Ort Stephan Ruderer und analysiert diese für die GWR. (GWR-Red.)
Der 4. Juli 2021 war ein historischer Tag für Chile. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes trat eine vom Volk gewählte verfassunggebende Versammlung zusammen, um innerhalb des nächsten Jahres eine neue Verfassung auszuarbeiten. Alle bisherigen Verfassungen wurden immer in kleinen elitären Zirkeln erarbeitet und vom Militär durchgesetzt. Die aktuelle Verfassung von 1980 stammt aus der Zeit der Militärdiktatur und zählt zum dauerhaftesten Erbe des Pinochetregimes. Sie wird – zurecht – dafür verantwortlich gemacht, dass Chile immer noch eines der neoliberalsten Länder der Welt ist, in dem essentielle Grundrechte wie der Zugang zu Bildung, Gesundheit oder Wasser privatisiert und zu auf dem Markt verhandelbaren Gütern geworden sind. Diese Verfassung der Diktatur ist einer der wichtigsten Gründe, warum Chile zu den am stärksten von Ungleichheit geprägten Ländern der Welt zählt. Die Mitglieder der aktuellen verfassunggebenden Versammlung haben jetzt die Chance, sie durch eine moderne, sozial gerechtere Verfassung zu ersetzen.
Gegen Neoliberalismus
Dass es zu dieser Chance gekommen ist, verdankt das Land den sozialen Aufständen von Oktober 2019 und dem darauffolgenden demokratischen Wahlprozess, in dem sich die Bevölkerung mit großer Mehrheit gegen eine Fortsetzung des Neoliberalismus ausgesprochen hat. Um die Aufstände zu beenden, hatten sich fast alle politischen Parteien noch im November 2019 darauf geeinigt, ein Plebiszit über eine neue Verfassung abzuhalten, allerdings mit dem Zusatz, dass in der verfassunggebenden Versammlung der neue Text mit zwei Dritteln der Stimmen angenommen werden muss. Dadurch hatte sich die Rechte, so glaubte man, eine Sperrminorität erhalten, über die sie weitreichende Änderungen blockieren könnte, denn bis dahin hatten die rechten Parteien bei allen Wahlen immer mindestens ein Drittel der Stimmen erhalten. Im Oktober 2020 stimmten dann fast 80 % der ChilenInnen für eine neue Verfassung und für eine demokratisch gewählte verfassunggebenden Versammlung. Die Wahl zu dieser Versammlung im Mai 2021 brachte dann weitere Überraschungen. Zum einen verfehlte die Rechte mit 36 Sitzen weit das Ziel von 52 RepräsentantInnen, die ein Drittel der Stimmen und damit eine Blockademöglichkeit bedeutet hätten, und zum anderen ging auch keine der angestammten linken Parteien als Sieger aus der Wahl hervor, sondern die „lista del pueblo“ (Liste des Volkes), ein Bündnis von unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten, das sich während der Volksaufstände gebildet hatte. Insgesamt kommt die Linke (verschiedene linke Parteien zusammen mit den unabhängigen linken KandidatInnen) auf mehr als zwei Drittel der Stimmen, die Möglichkeit für eine progressive, geschlechtergerechte, umweltfreundliche und soziale Verfassung besteht also. Das ist umso überraschender, als die Rechte – im Gegensatz zu den linken Parteien – vereint zu der Wahl angetreten ist, mit wesentlich größeren finanziellen Ressourcen Wahlkampf machen konnte und die Umfragen die unabhängigen KandidatInnen kaum auf der Rechnung hatten. Die Wahl zeigte also, dass die ChilenInnen endgültig genug haben vom neoliberalen System, welches in der Diktatur errichtet wurde und auch die letzten 30 Jahre Demokratie kaum einschneidende Veränderungen erfahren hat.
Hoffnung auf Veränderung
Wie funktionierte die verfassunggebende Versammlung in ihrem ersten Monat und welches sind die wichtigsten Punkte, die eine historisch-politische Analyse bis jetzt hervorheben kann?
Der 4. Juli 2021 war nicht nur wegen des Beginns der ersten demokratisch gewählten verfassunggebenden Versammlung ein historischer Tag, sondern auch wegen der ersten Amtshandlung dieser Versammlung. Die VertreterInnen wählten nämlich eine indigene Frau zur Präsidentin des Organs. Mit Elisa Loncón steht eine Mapuche-Frau der wichtigsten politischen Institution des Landes vor – ein deutliches Zeichen für die neue Bedeutung der bisher in Chile stark diskriminierten indigenen Bevölkerung und ein deutliches Zeichen des Veränderungswillens der Mehrheit der Mitglieder der Versammlung. Die Wahl Loncóns wurde nämlich, zusammen mit der Wahl des Vizepräsidenten Jaime Bassa vom linken Parteienbündnis Frente Amplio, im Vorfeld vorgeschlagen und unter den linken Parteien ausgehandelt. Die Wahl der beiden Vorsitzenden zeigt, dass die linken VertreterInnen bereit sind, sich auch über Parteigrenzen hinaus zu einigen.
Noch deutlicher wurde dies bei der ersten offiziellen Veröffentlichung der neuen Versammlung, die sich auf die politischen Gefangenen des Volksaufstandes vom Oktober 2019 bezog. Seit dieser Zeit sind mehrere ChilenInnen wegen Vandalismus und Sachbeschädigung in Haft, ohne dass ihnen bisher ein Prozess gemacht wurde. In Solidarität mit diesen Gefangenen, die ja Teil der Bewegung sind, die den Verfassungsprozess erst ermöglicht hat und der „lista del pueblo“ nahestehen, beschloss die verfassunggebenden Versammlung eine öffentliche Stellungnahme, die auf eine Amnestie dieser Gefangenen drängt (entscheiden muss über diese Amnestie letztlich das chilenische Parlament). Diese Erklärung, die von den Rechten und der aktuellen chilenischen Regierung strikt abgelehnt wurde, wurde letztlich mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen angenommen. Dies ist als erstes starkes Zeichen zu werten, dass die VertreterInnen der Linken – von Mitte-Links-PolitikerInnen der gemäßigten Parteien bis hin zu den radikaleren VertreterInnen der „lista del pueblo“ – gewillt und bereit sind, zusammenzuarbeiten und auch durchaus deutlich linke Positionen zu vertreten. Ob dieser Wille zur Einheit und Mehrheit links der Mitte auch bei den Diskussionen um den neuen Verfassungstext fortbestehen wird, bleibt abzuwarten; Hoffnung besteht jedenfalls.
Der Staat reagiert auf die Forderungen nach mehr Autonomie bisher immer nur mit Gewalt und Repression, die indigenen Menschen gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung Chiles. Die hohe Beteiligung ihrer VertreterInnen im Verfassungsorgan lässt darauf hoffen, dass sich in Zukunft auch die Beziehung zwischen indigenen EinwohnerInnen und dem chilenischen Staat ändert.
Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass sich die Rechte an ihre neue Rolle als Minderheit mit wenig Einfluss erst noch gewöhnen muss. Das wurde einmal anschaulich an der Haltung der aktuellen Regierung um Präsident Piñera, die sich grundsätzlich gegen die neue Verfassung ausgesprochen hatte und auch für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen während der Aufstände seit Oktober 2019 verantwortlich ist. So konnte die neue Versammlung in den ersten Tagen nach dem 4. Juli nicht arbeiten, da die dafür nötige Infrastruktur – mehrere miteinander virtuell verbundene Räume, die den Corona-Schutzmaßnahmen entsprechen – nicht fertiggestellt war, obwohl der Zeitpunkt der Einberufung der Versammlung schon seit Monaten feststand. Dieses geringe Interesse erwies sich als weiteres Armutszeugnis der Regierung Piñera, der letztlich nur noch auf seine Abwahl im November 2021 wartet. Zum anderen fielen die rechten VertreterInnen in der Versammlung bis jetzt hauptsächlich durch heftige und zum Teil rassistische Kritik an der Präsidentin des Organs auf. Auch hier bleibt abzuwarten, ob sich die Rechte zu einer konstruktiven Beteiligung an den Verfassungsdiskussionen durchringen kann oder ob sie die Haltung der Totalablehnung beibehält. Da ihr Einfluss aufgrund des fehlenden Stimmendrittels aber gering ist, hängt das Resultat der neuen Verfassung mehr von der möglichen Einigung innerhalb des linken Lagers ab als von der rechten Blockadehaltung. Diese Situation ist neu im demokratischen Chile nach der Diktatur.
Allerdings weist der Verfassungsprozess weitere Neuheiten auf, die es in der Analyse festzuhalten gilt.
Bedeutung der Frauenbewegung
Als erster Punkt ist dabei die Beteiligung der Frauen zu nennen. Die verfassunggebende Versammlung in Chile ist weltweit die erste mit einer paritätischen Besetzung. Dies ist insbesondere einer kämpferischen Frauenbewegung zu verdanken, die seit einigen Jahren über massive Demonstrationen und kreative Protestformen das Thema Geschlechtergerechtigkeit stark in der öffentlichen Debatte verankert hat. Die von Argentinien ausgehende Bewegung „ni una menos“ (nicht eine weniger), die sich gegen die zahlreichen Femizide auf dem Kontinent richtet, ist seit Jahren auch in Chile sehr stark. Im Laufe der sozialen Aufstände symbolisierte sich die Bedeutung der Frauenbewegung in der weltweit berühmt gewordenen Protest-Performance „El violador eres tú“ (dt. „der Vergewaltiger bist du“) des chilenischen Künstlerinnenkollektivs LAS TESIS. Der feministische Einfluss griff auf die politische Debatte über, so dass schon im Vorfeld zur Wahl des Verfassungsorgans festgeschrieben wurde, dass es eine paritätische Besetzung der Wahllisten und der gewählten RepräsentantInnen in der Versammlung geben müsse. Letztlich führte diese Regelung dazu, dass nach der Wahl mehrere Männer von der Parität profitierten, da insgesamt mehr als 50 % Frauen in die Versammlung gewählt wurden, einige also zugunsten eines männlichen Listenkandidaten zurücktreten mussten. Das ist aber nicht als neuerliche Diskriminierung zu lesen, sondern (und so wird es auch in Chile interpretiert) als Ausdruck, dass eine 50-%-Quotenregelung sehr sinnvoll ist, denn sie führte dazu, dass zahlreiche hochkompetente Frauen in die verfassunggebende Versammlung gewählt wurden, die ohne die Quote wahrscheinlich gar nicht auf den ersten Listenplätzen zur Wahl gestanden hätten. Der chilenische Fall dient hier als weltweites Beispiel: Die paritätische Quotenregelung führt nicht dazu, dass Frauen, die es nicht verdient hätten, Männern die Plätze wegnehmen, sondern ganz im Gegenteil garantiert sie endlich die gerechte Besetzung von politischen Organen mit qualifizierten Personen.
Beteiligung der Indigenen
Als zweiter Punkt muss auf die Beteiligung der Indigenen in der verfassunggebenden Versammlung eingegangen werden. Auch hier einigte man sich im Vorfeld darauf, dass 17 der 155 Plätze in der verfassunggebenden Versammlung von indigenen VertreterInnen besetzt werden müssen, wobei sieben dieser Sitze auf das zahlenmäßige größte Volk der Mapuche entfielen und sich der Rest auf die neun weiteren Völker verteilt. In einem Land, in dem der Rassismus seit der Kolonialzeit strukturell verankert und der Mapuche-Konflikt im Süden des Landes von großer Gewalt geprägt ist, erscheint diese indigene Beteiligung als beachtlich. Der Staat reagiert auf die Forderungen der Mapuche nach mehr Autonomie bisher immer nur mit Gewalt und Repression, die indigenen Menschen gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung Chiles. Die hohe Beteiligung ihrer VertreterInnen im Verfassungsorgan lässt darauf hoffen, dass sich in Zukunft auch die Beziehung zwischen indigenen EinwohnerInnen und dem chilenischen Staat ändert. Die Forderungen nach einer plurinationalen Verfassung, in der Autonomierechte der indigenen Bevölkerung festgeschrieben werden, wird jedenfalls auch von den meisten VertreterInnen der linken Parteien geteilt. Dass die verfassunggebende Versammlung von Elisa Loncón in der Sprache der Mapuche eröffnet wurde, ist ein starkes Zeichen. Allerdings bleibt auch hier abzuwarten, ob sich diese Beteiligung im Verfassungstext konkretisieren wird oder auf der symbolischen Ebene verbleibt. Teile der Rechten und der Medienlandschaft verharren jedenfalls weiterhin in rassistischen Stereotypen.
Mobilisierung des „Volkes“
Der dritte Punkt bezieht sich auf die Beteiligung des „Volkes“, repräsentiert in der „lista del pueblo“. Deren VertreterInnen sehen sich eng verbunden mit den sozialen Aufständen seit Oktober 2019, die sich direkt gegen das neoliberale System gerichtet haben. Diese Aufstände verkörperten auch die Diskreditierung des herkömmlichen Parteiensystems und die Ablehnung der „Politik“ an sich. Gleichzeitig entstanden aber zahlreiche lokale Organisationen, die mit spezifischen Forderungen z. B. nach der Abschaffung des privatisierten Rentensystems, dem freien Zugang zu den Wasserreserven des Landes oder Frauenrechten eine für viele Menschen glaubwürdige Alternative anboten. Einige dieser Organisationen kämpfen schon seit Jahren gegen das neoliberale System und sahen sich durch die massiven Aufstände in ihren Bemühungen bestätigt. Dass es zahlreiche VertreterInnen dieser Gruppierungen in die Verfassungsversammlung geschafft haben, trotz des Nachteils, nicht auf eine althergebrachte Parteienstruktur zur Organisation der Wahlkampagne zurückgreifen zu können, verweist auf das Mobilisierungspotential dieser Gruppen und auf die große Unterstützung für ihre Forderungen. Mit der „lista del pueblo“ kommt ein neues Element in die von politischen Eliten geprägte chilenische Politik. Erstmals sitzen Menschen in einem wichtigen politischen Organ, die eine direkte Verbindung zur Lebensrealität der ärmeren Bevölkerung aufweisen, deren Kämpfe und Frustrationen geteilt haben und sich ihnen gegenüber in der Verantwortung fühlen. Eine Auswirkung dieser „neuen“ politischen AkteurInnen zeigte sich schon am ersten Tag der verfassunggebenden Versammlung, als diese nicht wie vorgesehen begonnen werden konnte, da die Polizei Demonstrationen im Stadtzentrum gewaltsam auflösen wollte. Die gewählten VertreterInnen der „lista del pueblo“ verließen daraufhin den Versammlungssaal, um die demonstrierenden compañer@s zu unterstützen. Erst als die Repression beendet wurde, konnte die Versammlung ihre Arbeit aufnehmen. Was für die rechte Elite ein skandalöses Auftreten darstellte, bedeutet für einen Großteil der ärmeren Bevölkerung ein glaubwürdiges und volksnahes Verhalten, das man von politischen AkteurInnen bisher nicht kannte. Dass diese neuen, volksnahen AkteurInnen jetzt an der Verfassung Chiles mitschreiben, ist jedenfalls ein Zeichen der Hoffnung, dass das zukünftige Grundgesetz auch die Belange der großen Mehrheit der ChilenInnen berücksichtigt.
Fazit
Insgesamt lässt sich der chilenische Verfassungsprozess mit vorsichtigem Optimismus betrachten. Wenn es der Linken gelingt, sich zu einigen und gleichzeitig über einen moderaten Diskurs wenig Angriffsfläche für einen Boykott durch die Rechte geboten wird, dann könnte eine moderne, progressive Verfassung entstehen, die große Zustimmung der Bevölkerung erfährt und als legislativer Rahmen für einen – sicher langwierigen – Prozess der Abschaffung des Neoliberalismus im Land dient. Chile, wo der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre unter der Pinochetdiktatur begonnen hatte, könnte diesmal der Vorreiter für die Überwindung dieses ungerechten wirtschafts- und sozialpolitischen Systems sein.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.