Mit der Nummer 115 im Juli 2021 erschien die vorerst letzte Ausgabe der Gǎi Dào. Im Editorial der letzten Ausgabe erklärte die Redaktion die Gründe dafür: „Grund für die Einstellung sind nur zum Teil die zurückgegangenen Leser*innenzahlen; soweit wir es beurteilen können, dürften immer noch genügend Menschen alle zwei Monate einen Blick in die neue Ausgabe werfen, um ein weiteres Erscheinen zu rechtfertigen. Doch hat die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen, deren Organ die Gǎi Dào ja ist, kein verstärktes Interesse an der Aufrechterhaltung des Projekts mehr. So gibt es keine rechte Aussicht auf eine Stabilisierung ständig schwindender Redaktionsressourcen.“ Über die Entstehung und Entwicklung der Gǎi Dào schreibt für die GWR das Mitglied des Gründungs- und Redaktionskollektivs Rudolf Mühland. (GWR-Red.)
Im Jahr 2010 war das Ruhrgebiet „Kulturhauptstadt“. Ich war damals Teil einer Gruppe von Menschen, die der „offiziellen Kulturhauptstadt“ etwas Alternatives, Selbstorganisiertes „von unten“ entgegensetzen wollten. Das Ergebnis unserer Bemühungen war die „1. Libertäre Medienmesse“, die im September 2010 in Oberhausen stattfand. Die Messe selbst, aber auch schon das Organisieren im Vorfeld und nicht zu vergessen die Nachbereitung beanspruchten viel Zeit…
Gǎi Dào
Nach der libertären Medienmesse hatte ich dann plötzlich sehr viel freie Zeit – und die wollte sinnvoll genutzt werden. So erinnerte ich mich daran, dass die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) schon einige Zeit vorher beschlossen hatte, eine eigene Zeitung herauszubringen. Abgesehen von diesem Beschluss und der Idee, die Zeitung „VETO“ zu nennen, kam das Projekt allerdings nie über eine Layoutvorlage mit Blindtext hinaus. Nach dem Motto „Es gibt nix Gutes – außer man tut es“ selbst, fing ich also an, mir Gedanken zu diesem Projekt zu machen.
Ideen und Herausforderungen
Meine Idee war es, eine Zeitung zu kreieren, die sowohl für die Mitglieder der FdA als auch für Nichtmitglieder interessant sein sollte. Gleichzeitig hatte ich den Anspruch, die Zeitung als Plattform für eine offene Diskussion über „Anarchismus“ zu nutzen und die anarchistischen Ideen zu modernisieren, d. h. auf Grundlage der aktuellen Lage neu zu definieren.
Nicht zu vergessen, dass ich auch einen „Blick über den Tellerrand“ werfen wollte. Ich selbst spreche keine andere Sprache und bin auf Übersetzungen angewiesen. Gleichzeitig hatte und habe ich immer wieder Kontakt zu Anarchist*innen aus anderen Gegenden dieser Welt. Oft bin ich erstaunt über die Themen und/oder die Argumente, welche in der Bewegung sonst noch so diskutiert werden. Und immer hatte ich das Gefühl, etwas dazuzulernen. Das Zeitungsprojekt sollte also auch in diesem Sinne einen Beitrag zur Entwicklung unserer Bewegung darstellen.
Der Name
Nun brauchte es also noch eine Entscheidung in Bezug auf den Namen. Den „alten“ Namen, VETO, wollte ich nicht übernehmen. Mir erschien er einerseits zu „intern“ und andererseits für Außenstehende zu abschreckend. Namen wie „Direkte Aktion“, „Graswurzel“ oder „Schwarzer Faden“ (drei wirklich gute Namen für anarchistische Zeitungen) waren natürlich nicht möglich. Was den Namen anging, musste ich also „einen anderen Weg“ einschlagen,… – Und schon hatte ich die Grundidee für den Namen. Denn die Leser*innen der Zeitung sollten ja sehen, dass es „einen anderen Weg“ gibt und dass wir von der FdA schon „einen anderen Weg gehen“ = Gǎi Dào.
Aber warum auf chinesisch? Das hat zwei Gründe. Zum einen ist Chinesisch in der Weltraum-Serie Firefly/Serenity eine der beiden Standardsprachen. Zum anderen investiert die VR China gerade weltweit und expandiert zum Teil massiv. Es ist also gar nicht so abwegig, dass Chinesisch das Potential hat, Englisch als Verkehrssprache einmal abzulösen.
Das „Layout“
Von Layout kann bei den ersten beiden Ausgaben der Gǎi Dào wohl kaum die Rede sein. Zum einen, weil ich selbst keine Ahnung von Layout habe, und zum anderen, weil ich kein Layoutprogramm genutzt habe. Trotzdem kann man an den beiden ersten Ausgaben die Grundidee des Layouts erkennen. Ein fester Kopf zeigt eine Graphik mit einem Waldweg, der sich teilt. Das Titelblatt selbst zeigt jeweils eine Graphik, auf der ein Weg zu sehen ist. Und auch wenn die abgebildeten Wege bis zur Ausgabe 14 zum Teil sehr abstrakt waren, so waren sie doch das beherrschende Element. Die Ausgaben 3 bis 14 wurden dann im Layout schon nicht mehr von mir verantwortet. Eben weil die beiden ersten Ausgaben optisch „so schlecht“ waren, hat sich ein Leser angeboten, das Layout zu übernehmen.
Der Inhalt
Ich weiß bis heute nicht, ob wir all den Ansprüchen, die ich selbst an die Gǎi Dào hatte, gerecht werden konnten. Sicher war sehr oft noch viel „Luft nach oben“. Trotzdem zeichnete sich die Gǎi Dào durch eine breite Themenvielfalt aus. Nicht unwichtig: sie war auch immer wieder eine Gelegenheit für Menschen, das erste Mal Texte oder Graphiken (zum Beispiel den Syndikater) zu veröffentlichen. Sicherlich schwankte das „Niveau“ der Beiträge – aber das war von uns auch so gewollt, denn wir wollten den Zustand der Bewegung so gut es ging realistisch abbilden. Trotz dieser „Schwächen“ bekamen wir aber viel Lob, so dass es uns viel Spaß gemacht hat, an der Gǎi Dào weiterzuarbeiten.
Entwicklung
Nachdem ich mit den ersten beiden Ausgaben einen Anfang gemacht hatte, begann mit der dritten Ausgabe das „Kollektivprojekt“. Nach und nach beschlossen immer Menschen, die Zeitung ganz praktisch zu unterstützen. Das Layout ist ja nur ein Aspekt. Zu einer Redaktion gehören natürlich noch viel mehr Aufgaben. Und diese wurden nach und nach von Menschen übernommen. Eine große Hilfe bei der Koordinierung war riseup.net. Dort konnten wir ein Forum aufsetzen und die an-fallenden Arbeiten strukturieren und aufteilen.
So gelang es uns, die Gǎi Dào nun gut 10 Jahre lang monatlich zu veröffentlichen (zuletzt nur noch alle zwei Monate). Dabei ist sie von einer reinen PDF zum Download und Selbstausdrucken auch zu einem e-Book und zu einer gedruckten Zeitung im Abo geworden, sie ist online lesbar und als Audiobook verfügbar gemacht worden. Ich selbst konnte mich irgendwann aus dem Projekt herausnehmen. Es schien so, als ob es in der Föderation fest etabliert und damit noch auf lange Zeit stabil sein würde. Leider nahm die Bereitschaft innerhalb der FdA, aktiv etwas für die Zeitung zu tun, irgendwann ab. Die Suche nach Ersatz für ausscheidende Aktivist*innen wurde immer schwieriger, und die verbleibenden mussten immer mehr Aufgaben erledigen. Mit der Nummer 115 im Juli 2021 erschien die vorerst letzte Ausgabe der Gǎi Dào. Neben den „regulären“ Ausgaben produzierte die Redaktion noch zehn Sonderausgaben, zwei Extrablätter und eine Wandzeitung. Nicht zu vergessen, dass mindestens zwei Buchprojekte auf die Gǎi Dào zurückgehen (Herausgeber*in: FdA).
Zukunft
Obwohl die Gǎi Dào vorerst gestorben ist, so gibt es doch Menschen innerhalb und außerhalb der Föderation, die den Verlust dieser Monatszeitung nicht einfach stillschweigend hinnehmen wollen. Ob es ein Nachfolgeprojekt gibt und vor allem wie es aussehen wird, werden wir sicherlich in den nächsten Monaten erfahren. Ich hoffe sehr, dass die Lücke, welche die Gǎi Dào nun hinterlässt, bald geschlossen wird. Es bleibt also spannend.