die waffen nieder

Realitätsverweigerung

20 Jahre Militärinvasion in Afghanistan

| Christoph Marischka

Beitragafghanistan
US-Soldaten bei einer Patrouille im Dorf Kowtalay in der Provinz Nuristan im Osten Afghanistans 2007 - Foto: Michael Bracken (US Army) via flickr.com (CC BY 2.0)

Nach dem 11. September 2001 begann die US-Administration ihren „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan, an dem sich auch die BRD und die NATO-Staaten beteiligten. Nach dem Abzug der USA und ihrer Unterstützer*innen aus Afghanistan wird die Herrschaft den Taliban überlassen. Die Bilanz von 20 Jahren Militärinvasion zieht Christoph Marischka in seinem Beitrag für die Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)

Demokratieexport und Frauenrechte waren nie das Ziel des NATO-Einsatzes in Afghanistan. Er war Teil eines gescheiterten imperialen Projekts. In den USA, in denen die Rahmenbedingungen für die Besatzung gesetzt wurden, sieht man das deutlich klarer.

20-jähriger Krieg der NATO

Nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und dem schnellen Vormarsch der Taliban gab es ein kurzes Zeitfenster, in dem auch in der hiesigen Politik und der veröffentlichten Meinung sehr kritisch Bilanz über den fast 20-jährigen Krieg der NATO gezogen wurde. Mit der Flucht der NATO-gestützten Regierung, der Einnahme Kabuls und den dramatischen Szenen am dortigen Flughafen verschoben sich allerdings v. a. in Deutschland wieder das Interesse und die öffentliche Wahrnehmung. Es standen die verzweifelten Menschen im Mittelpunkt, die aus der „Hölle Afghanistan“ fliehen wollten. Dies beförderte v. a. in Deutschland eine reichlich binäre Sichtweise, die unterstellt, dass in Afghanistan Friede und Freiheit geherrscht hätten, solange die NATO vor Ort war, und dass es eben Zweck des Einsatzes gewesen sei, diese durchzusetzen.

Betrachten wir die etwas nüchternere US-amerikanische Sichtweise. Schließlich waren es die jeweiligen US-Administrationen, die diesen Krieg begonnen und auch die Entscheidung über den Abzug gefällt haben. Zu Beginn der Intervention hatte die deutsche Regierung beschlossen, den USA zu folgen; nach dem Beschluss zum Rückzug hatte sie aber keine andere Wahl, als mitzugehen. Unabhängig davon, was sich die deutschen Abgeordneten über fast 20 Jahre an vermeintlichen Kriegszielen vorgestellt und in die Tasche gelogen haben, war der Krieg eine Entscheidung der US-Regierung, und dort wurden auch die Ziele festgelegt. „Deutschland“ hat dort nie wirklich „Verantwortung“ übernommen, sondern ist als Juniorpartner in der NATO mitgezogen, um seinen Geltungsanspruch innerhalb des Bündnisses unter Beweis zu stellen.

Am 15. August 2021, während die Taliban in Kabul vorrückten und sich die NATO-gestützte Regierung selbst evakuierte, brachte der US-Außenminister Antony J. Blinken die offiziellen Ziele des Krieges noch einmal in einem viel beachteten Interview auf den Punkt: „Wir sind vor 20 Jahren mit einem einzigen Ziel nach Afghanistan gegangen, nämlich die Leute zu erledigen, die uns am 11. September angegriffen haben. Und diese Mission ist erfolgreich gewesen. Wir haben bin Laden vor einem Jahrzehnt zur Rechenschaft gezogen …“. (1)
Von Demokratie und Frauenrechten wurde in den USA erst später und viel, viel weniger gesprochen als in Deutschland. Und wie gesagt: Die USA stellten nicht nur den Großteil der Truppen, definierten Ziel und Zeitraum, sondern setzten letztlich das ganze Koordinatensystem, in dem der Einsatz stattfand.

Imperiale Überdehnung

Obwohl sich der 20. Jahrestag des Anschlags bereits näherte, spielte er in der deutschen Berichterstattung über den Abzug zunächst kaum eine Rolle. So konnte man hierzulande verdrängen, in was für einer aufgeheizten Stimmung die Entscheidung zum Kriegseintritt erfolgt war. 9/11 war kein Anschlag unter vielen, sondern ein epochales Ereignis. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit flog ein zweites Flugzeug in den Südturm des World Trade Centers, während der bereits getroffene Nordturm noch brannte. Später stürzten beide Türme ein, bedeckten große Teile Manhattans mit Staub und Asche, und offenbar wurde auch noch ein drittes Flugzeug in das Pentagon gesteuert. „Zum ersten Mal in der Geschichte der USA wird der gesamte zivile Flugverkehr im Land eingestellt“, so der Deutschlandfunk in einem frühen Rückblick im Vorfeld des Jahrestages (dem bis zur Drucklegung dieses Artikels sicher viele folgen werden). „Nur der Präsident wird in der Air Force One – begleitet von Kampfjets – durchs halbe Land geflogen: Von Florida auf einen Militärstützpunkt in Louisiana, dann auf eine Air Force Base in Nebraska“. (2) Von seinen Ausmaßen her war der Terroranschlag tatsächlich mit einem militärischen Angriff vergleichbar. Ein solcher galt allerdings in der Nation mit den höchsten Rüstungsausgaben der Welt zuvor als unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich. Es war klar, dass die USA zurückschlagen würden – insbesondere unter der Führung eines Präsidenten wie George W. Bush. Die Wahl fiel dann eher aus geopolitischen Erwägungen zunächst auf Afghanistan und später auf den Irak. Gerade unter geopolitischen Gesichtspunkten war allerdings beides ein Fehler. Denn auch der bereits angesprochene Rückblick im Deutschlandfunk über den „Tag, der die Welt verändert hat“, ruft ins Gedächtnis, dass die USA damals, 2001, unangefochtene „Supermacht“ waren. Das ist heute, nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ und Millionen Opfern, anders. Keiner der militärisch angestrebten Regimewechsel war erfolgreich: In Afghanistan kamen nun erneut die Taliban an die Macht, im Irak herrscht eine Regierung, die dem Iran näher steht als den USA, während in Teilen des Landes der „Islamische Staat“ (IS) sein Unwesen treibt. In Syrien konnte die Regierung dank russischer und iranischer Hilfe die Kontrolle über große Teile ihres Territoriums wiederherstellen, während die Provinz Idlib mit Hilfe des NATO-Partners Türkei von Ablegern jener Al-Qaida kontrolliert wird, die vermeintlich das Hauptziel der NATO-Intervention in Afghanistan war. In Libyen hatten die USA eher halbherzig – dennoch natürlich gewaltsam – eingegriffen und überlassen das angerichtete Chaos nun den vor Ort untereinander und mit anderen Regionalmächten konkurrierenden Staaten der Europäischen Union.

Spätestens mit der Veröffentlichung der „Afghanistan Papers“ 2019 wurde offenbar, dass der Krieg in Afghanistan in der militärischen Führung bereits länger als nicht gewinnbar eingeschätzt wurde, entsprechende Positionen jedoch zurückgehalten und geschönt wurden.

Diese militärischen und in der Konsequenz politischen Niederlagen werden in Deutschland wie in den USA gerne personalisierend diskutiert und charakterlichen Schwächen der jeweiligen US-Präsidenten zugeordnet. Dem voreilig mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Präsidenten Obama wirft man – insbesondere im Hinblick auf Syrien – gerne Schwäche oder mangelnde militärische Entschlossenheit vor, Trump gilt entweder als schlichtweg „dumm“ oder gleich als Agent russischer Interessen. Dabei waren beide vielmehr Verwalter einer zuvor eingeleiteten und durch 9/11 beschleunigten Politik, für die es im (wissenschaftlichen) US-amerikanischen Diskurs einen eigenen treffenden Begriff gibt: „Imperial Over-stretch“ (dt. imperiale Überdehnung).

Militärische Niederlage

Dies lässt sich gut am Verlauf der Kriegshandlungen in Afghanistan darstellen: Es gelang den USA und ihren Verbündeten recht schnell, mithilfe der „Nordallianz“ Kabul einzunehmen und formal eine auf dem Bonner Petersberg ernannte Regierung einzusetzen. In dem Maße aber, wie die NATO tatsächlich eine Kontrolle in der Fläche des Staates herstellen wollte, nahm v. a. ab 2006 der Widerstand zu, u. a. durch die Taliban, die nie wirklich weg oder besiegt waren. 2009, unter dem frisch gekürten Präsidenten Obama, erfolgte der sog. Surge, eine drastische Erhöhung alleine der US-amerikanischen Truppen um 30.000 Kräfte. Auch das deutsche Kontingent erreichte 2010 mit 5.350 mandatierten Kräften einen Höhepunkt. Insgesamt stieg die Zahl der NATO-Kräfte zwischen Juli 2009 und Juni 2011 von knapp 65.000 auf 132.000. Vor allem die USA folgten in jener Zeit einer Strategie der „Aufstandsbekämpfung“, die grob gesagt darin bestand, sich nicht länger in den Feldlagern einzubunkern, sondern sich in kleinen und schwächer geschützten Verbänden in die Fläche zu bewegen. Entsprechend schnellten auch die Verluste unter den westlichen Truppen in die Höhe. Alleine 2010 starben fast 500 US-Soldat*innen durch Feindeinwirkung, mehr als dreimal so viele wie noch 2008. Ähnlich entwickelten sich die Zahlen verwundeter und traumatisierter Soldat*innen und so genannter Contractors, also vermeintlich „ziviler“ Angestellter der NATO-Operationen. Nachdem sich bereits zuvor in fast allen beteiligten NATO-Staaten in Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg in Afghanistan ausgesprochen hatte, kippte nun auch in den USA die Stimmung endgültig. Spätestens 2011 fand sich auch dort in keiner ernst zu nehmenden Umfrage mehr eine Mehrheit für den Krieg, schon gar nicht für eine weitere Erhöhung der Kontingente. Wie bereits Jahre zuvor im Irak brachte auch der „Surge“ in Afghanistan nicht die erhofften Erfolge, sondern offenbarte vielmehr die längst erfolgte Niederlage. Viele Verbündete, die sich noch an der temporären Erhöhung der Truppen beteiligt hatten, kündigten ihren vollständigen oder teilweisen Rückzug an – in den Niederlanden z. B. zerbrach über dieser Frage die Regierung. Auch Präsident Obama zog im Juni 2011 die Reißleine und kündigte eine kontinuierliche Verkleinerung der US-Truppenpräsenz bis 2014 an. Dann sollten die „Nationalen Afghanischen Sicherheitskräfte“ (ANSF) die Verantwortung übernehmen. Tatsächlich wurde die ISAF-Mission (3) im Jahr 2014 beendet und von der wesentlich kleineren NATO-Operation Resolute Support abgelöst, deren Hauptaufgabe in der Ausbildung der ANSF bestand – die nun noch deutlicher als zuvor den Großteil der Getöteten und Verwundeten stellten. Mit dieser Strategie erhoffte man einerseits, die längst erfolgte Niederlage zu kaschieren und andererseits – geschützt von den ANSF – eine dauerhafte NATO-Militärpräsenz nahe China und Russland aufrecht erhalten zu können. Dass dies scheitern würde, wurde jedoch in den folgenden Jahren schnell ersichtlich, und so war Präsident Trump letztlich gezwungen, mit den Taliban ein Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln und den vollständigen Abzug in Aussicht zu stellen. Biden wiederum war gezwungen, dem zu folgen, denn die Alternative wäre jeweils gewesen, wieder mehrere hunderttausend Kräfte nach Afghanistan zu entsenden. Innenpolitisch war ein solcher Aufmarsch nicht durchsetzbar, wirtschaftlich wäre er kaum tragbar gewesen, und ein „Erfolg“ – selbst im militärischen Sinne – wäre trotzdem fraglich geblieben.

Die eigentliche militärische Niederlage erfolgte bereits in den Nuller-Jahren, der militärischen Führung musste diese spätestens 2011 klar gewesen sein. Spätestens 2019 wurde diese mit den „Afghanistan Papers“ auch der US-amerikanischen Öffentlichkeit vor Augen geführt. Diese Serie von Veröffentlichungen offenbarte, dass der Krieg in Afghanistan in der militärischen Führung bereits länger als nicht gewinnbar eingeschätzt, entsprechende Positionen jedoch (mehr oder weniger systematisch) zurückgehalten und geschönt wurden. Obwohl die Papers im US-amerikanischen Diskurs eine große Rolle spielten, wurden sie hier kaum wahrgenommen – die Realitätsverweigerung hielt an.

Ansonsten hätte man auch hierzulande klarer sehen können, dass die ANSF, welche die vermeintlichen westlichen Errungenschaften verteidigen sollten, eine Luftnummer waren und dass es sich bei der von der NATO gestützten Regierung um Aschraf Ghani um eine hochgradig korrupte Clique ohne nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung handelte. Das ist ein Grund für die Stärke der Taliban: Die von der NATO eingesetzte formale Demokratie (in der es aber niemals freie und gerechte Wahlen gab) rekrutierte sich aus Warlords und Kriegsverbrechern, die im Westen am Reißbrett entworfene Ordnung war zutiefst neoliberal und damit korruptionsfördernd und die sog. Rechtsstaatlichkeit von Drohnen- und Luftangriffen, nächtlichen „Capture or Kill“-Razzien, Verschleppungen und Geheimgefängnissen sowie der Präsenz zehntausender internationaler Soldat*innen und Söldner*innen begleitet, die Immunität genossen. Dass die westliche Besatzung neben Tod und Elend auch neue Freiheiten und Reichtümer für eine Minderheit brachte, sollte uns nicht vergessen lassen, dass sie in Afghanistan für 20 Jahre auch jeden wirklichen Fortschritt verhindert hat: Rechte, die sich die Bevölkerung selbst erkämpft.

(1) Interview mit Antony J. Blinken vom 15.8.2021, übersetzt aus dem englischen Original: https://www.state.gov/secretary-antony-j-blinken-with-jonathan-karl-of-this-week-with-george-stephanopoulos-on-abc/
(2) Peter Mücke, „9/11. Ein Tag der die Welt verändert hat“ vom 5.9.2021, https://www.deutschlandfunk.de/9-11-ein-tag-der-die-welt-veraendert-hat.724.de.html?dram:article_id=502677
(3) Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (engl. International Security Assistance Force, ISAF) – eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission unter NATO-Führung im Rahmen des Krieges in Afghanistan von 2001 bis 2014. Quelle: Wikipedia

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.