Mit seinem neuen Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“ stellt der Philosoph, Publizist und Künstler Fabian Scheidler nahezu alles, was als herrschende Meinung über Natur und Gesellschaft gelten kann, in Frage. Die Ideologie einer mechanistischen Welt sei „zentral für eine technokratische Gesellschaft, in der Mensch und Natur zu verfügbaren Teilen einer gigantischen Wirtschaftslogik degradiert werden“ (S. 42).
Zunächst beschreibt er ausführlich, wie die Naturwissenschaften von ihrem Beginn bis heute daran gescheitert sind, die Natur und das Leben verstehen und erklären zu können. Dann zeigt er, welche fatalen Folgen das hat. „Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“ ist ein dringender Appell zum Umsteuern, und so formuliert der Autor auch Überlegungen und Vorschläge für ein neues Menschenbild und Naturverständnis.
Die Beschränktheit
der Naturwissenschaften
Am Beispiel der Physik und der Biologie beschreibt Fabian Scheidler anschaulich, wie jede vermeintliche wissenschaftliche Erkenntnis sogleich neue Felder des Nichtwissens eröffnet, und dass bis heute die großen Fragen des Lebens unbeantwortet geblieben sind. Weder ist es der Wissenschaft gelungen, das Verhältnis von Materie und Energie zu erklären, noch die Entstehung des Lebens schlüssig zu beschreiben. Wie lebende Organismen funktionieren, ist nach wie vor ein großes Rätsel.
Er beschreibt und kritisiert ganz grundlegend ein mechanistisches Weltbild, das einer Vorstellung von der Zerlegbarkeit der Welt in kleine und kleinste Teilchen folgt und komplexe Zusammenhänge auf einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen reduziert. Weil sich damit die Welt nicht erklären ließe, würde die Wissenschaft auf Hypothesen von „dunkler Energie“ oder „dunkler Materie“ ausweichen und falsche Bilder von lebenden Zellen als Ansammlung von Teilchen entwerfen.
Lebewesen seien aus dieser Sicht nicht mehr eingebunden in die Natur, sondern könnten isoliert betrachtet, zerlegt und vermessen werden, um sie zu verstehen. Dies sei jedoch eine Illusion, denn wer lebt, ist keine berechenbare Maschine, sondern ein lebendes, fühlendes Wesen, das eine eigene Wahrnehmung von sich selbst hat. Unter Berufung auf die Wissenschaft würde diese Subjektivität abgewertet und dem vermeintlich höherwertigen, objektiv Messbaren untergeordnet. Jedoch habe die Quantenphysik gezeigt, dass die Welt „nicht aus isolierbaren materiellen ‚Bausteinen‘“ bestehe, „sondern aus einem Netz von energetischen Beziehungen, die im Prinzip das ganze Universum miteinander verbinden“. Leben sei „durch Bedeutung organisiert, nicht durch mechanische Stöße“ (S. 141). Der Autor hat großen Respekt vor der Wissenschaft, plädiert jedoch dafür, dass sie ehrlich zu den Grenzen ihrer Erkenntnisse stehen solle.
Wie die technokratische Weltsicht Mensch und Natur zerstört
Fabian Scheidler zeigt auf, wie sich diese Wissenschaft in engem Zusammenhang mit dem Aufschwung des Kapitalismus und der Militarisierung entwickelt hat. Möglicherweise wären die modernen Naturwissenschaften „ohne die kapitalistische Kriegsökonomie in dieser Form gar nicht entstanden“ (S. 143). Die mechanistische Weltsicht, die vor allem von privilegierten Männern vertreten werde, führe nicht nur zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern ebenso von Menschen, beispielsweise durch Sklaverei und Unterdrückung von Frauen. Diese Einsicht ist nicht neu, und insofern ist es bedauerlich, dass der Autor sich kaum auf entsprechende Veröffentlichungen feministischer Autorinnen bezieht.
Fabian Scheidler denkt in großen Zusammenhängen, und so erwähnt er die aktuelle Corona-Pandemie nur nebenbei. Viele seiner Ausführungen lassen sich jedoch unschwer auch auf die aktuelle Situation beziehen. So fragt er, warum in großen Teilen von Biologie und Medizin noch immer so getan würde, „als könne man Leben, Gesundheit und Krankheit verstehen, ohne die Innensichten von Lebewesen zu berücksichtigen?“ (S. 141).
Am Beispiel der Arthrose beschreibt er die Begrenztheit der mechanistischen Auffassung, es handele sich dabei um einen Verschleiß. Das komplexe Ineinandergreifen von Lebensweise, körperlicher und emotionaler Beweglichkeit würde dabei ignoriert. Als „Epidemie der Einsamkeit“ (S. 211) bezeichnet er die Isolierung von immer mehr Menschen: „Die Ideologie der Trennung lässt uns nur die Wahl, uns entweder mit aller Kraft nach oben zu kämpfen oder unten zu bleiben – und damit die Last der anderen, die auf uns herumtrampeln, tragen zu müssen“ (S. 213). Vor allem junge Menschen würden sich im Cyberspace verlieren, „kollektives Handeln und Selbstorganisation im größeren Stil“ seien „für viele überhaupt nicht mehr vorstellbar“ (S. 213).
Wege aus der Krise durch Verbundenheit und Subjektivität
Aus dem Empfinden des Getrenntseins entstehende Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit können destruktiv zu religiösem Fanatismus, Nationalismus und Faschismus führen. Umso wichtiger sei es, die Große Trennung zu überwinden, denn „die Wiederentdeckung echter Verbundenheit ist auch in dieser Hinsicht eine Überlebensfrage für die Menschheit“ (S. 159). Akteure der Trennung seien große Kapitalgesellschaften, deren einziger Zweck es ist, Kapital zu vermehren. Darum greife es zu kurz, an der Veränderung des individuellen Konsums anzusetzen, wie es beispielsweise Niko Paech vorschlägt, sondern es müsse die Produktion verändert und demokratisiert werden. Die Gemeinwohlökonomie sei hingegen ein Schritt in die richtige Richtung.
Seine Ausführungen unterlegt Fabian Scheidler mit umfangreichen, auch wissenschaftlichen Quellen, so dass sie sich – was vielleicht manche Kritiker*innen des Begriffs „Ganzheitlichkeit“ gerne täten – nicht als esoterisch abtun lassen. Seiner Kritik, dass Ökonomie und Politik heute künstlich getrennt seien und dass es auch dort wieder Verbundenheit brauche (S. 228), kann ich jedoch nur begrenzt folgen. Zu Recht plädiert er für Wirtschaftsdemokratie als Aufhebung der Trennung von Produktion und Arbeit. Aber ist nicht der von ihm deutlich kritisierte Lobbyismus eher Ausdruck einer unguten Nähe und Verbundenheit von Politik und Ökonomie? An diesem Punkt empfinde ich das Gegensatzpaar Trennung/Verbundenheit als vereinfachend, ja fast etwas mechanistisch, denn mitunter ist doch Trennung notwendig, beispielsweise in der Gewaltenteilung. Aber das wäre eine eigene Diskussion.
Das Buch, das ich wärmstens empfehle, fordert dazu heraus, Konsequenzen aus all dem in die eigene Praxis mitzunehmen: „Die Leiden an der Entfremdung ernst zu nehmen und den verdrängten Innenwelten eine Stimme zu geben, ist eine eminent politische Handlung, ohne die ein Tiefenumbau der Gesellschaft nicht gelingen kann“ (S. 240).