Das Erleiden jahrelanger Erniedrigungen und körperlicher Gewalt lässt manchen Frauen nur einen Ausweg, um dieser Situation zu entkommen: Den Mord aus Notwehr. Während Frauen in Mordstatistiken einerseits häufiger Opfer von verharmlosend als „Beziehungstaten“ oder „Familiendramen“ bezeichneten Taten sind, morden sie selbst überproportional oft, um ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zu retten. Über diese Fälle schreibt für die Graswurzelrevolution Tinet Elmgren. (GWR-Red.)
Im Sommer 2021 machte der Fall Valérie Bacot Schlagzeilen. Die 40-Jährige hatte ihren 25 Jahre älteren Stiefvater und Ehemann Daniel Polette erschossen, der sie 25 Jahre lang sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt und unter Morddrohung zur Prostitution gezwungen hatte. Er begann sie zu vergewaltigen, als sie 12 Jahre alt war. Als Teenagerin zeigte sie ihn an, und Polette wurde tatsächlich zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt, aber kehrte danach zurück zu Bacots Familie, als ob nichts gewesen wäre. Mit 17 wurde sie erstmals schwanger – heute hat sie von Polette vier Kinder, denn er kontrollierte jeden ihrer Schritte, und sie konnte sich keine Verhütungsmittel besorgen und die Schwangerschaften nicht abbrechen. Polette hatte Bacot seit ihrer Kindheit psychisch zermürbt, und vor ihm hatten bereits ihre Mutter und ihr älterer Bruder sie misshandelt und sexuell missbraucht. „Ich habe immer getan, was er mir gesagt hat“, erklärte Bacot vor Gericht. Als ihr jedoch klar wurde, dass Polette vorhatte, ihre 14-jährige Tochter ebenfalls zur Prostitution zu zwingen, nahm sie am 13. März 2016 Polettes Pistole, mit der er sie oft bedroht hatte, und tötete ihn mit einem Schuss in den Nacken.
In ihrer Kleinstadt sollen alle von den Zuständen gewusst haben. Die zwei ältesten Söhne waren vor Polettes Tod mehrmals zur Polizei gegangen, um ihn anzuzeigen, aber die Beamten hatten sie nicht ernstgenommen und weggeschickt. Für Valérie Bacot stand zunächst eine lebenslängliche Gefängnisstrafe in Aussicht. Der Fall erregte Aufsehen in der Öffentlichkeit, und eine Kampagne forderte ihre Freiheit – unter anderem unterschrieben über 700.000 Personen eine Online-Petition für ihre Freisprechung. Am Ende wurde sie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, von denen vier Jahre auf Bewährung ausgesetzt wurden. Ein Jahr war sie bereits in Untersuchungshaft gewesen. Nach dem Urteil war sie also frei und konnte zu ihren Kindern zurückkehren.
Beziehungsgewalt
Unter den Opfern von Mörderinnen sind häufig ihre eigenen Kinder oder andere pflegebedürftige Verwandte, oft in Zusammenhang mit einer Überforderungssituation. Es kommt auch vor, dass Frauen Raubmorde und Sexualmorde begehen – jedoch deutlich seltener als Männer. Die Kriminologinnen Véronique Jaquier und Joëlle Vuille stellten in einer breiten Untersuchung von Kriminaltäterinnen fest, dass das Opfer in fast der Hälfte aller von Frauen begangenen Mordfälle der Partner oder Ex-Partner der Täterin war – und fast immer hatte der Mann bereits Gewalt gegen die Frau angewandt. (1)
Das häufigste Motiv der Männer, die ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen töten, ist, die Frau daran zu hindern, ihn zu verlassen. Bei den meisten Frauen, die Beziehungsmorde begehen, ist das Motiv umgekehrt. Kriminalkommissar Stephan Harbort, Autor von Wenn Frauen morden (2008), beschreibt es folgendermaßen: „Während Männer größtenteils morden, um ihre Opfer zu beherrschen und zu vernichten, töten Frauen, um sich nicht weiter beherrschen zu lassen. Männer üben Dominanz aus, Frauen indes wollen sich oftmals aus männlicher Beherrschung befreien. Ihnen geht es vornehmlich um Selbstschutz, Selbstachtung und Selbsterhaltung. Insofern hat die weibliche Tötungskriminalität durchaus etwas Emanzipatorisches.“ (2)
In der deutschen Rechtsprechung gibt es sogar einen eigenen Begriff für die Tötung eines misshandelnden Ehegatten: „Haustyrannenmord“. Im Gegensatz zum „Tyrannenmord“ wird der Haustyrannenmord nicht als politischer Mord eingestuft und auch nicht in mancher Hinsicht durch das Widerstandsrecht im Artikel 20 des Grundgesetzes Abs. 4 legitimiert.
Valérie Bacots Anwältinnen Janine Bonaggiunta und Nathalie Tomasini verteidigten ebenfalls die 1947 geborene Jacqueline Sauvage, die ihren Mann erschossen hatte. Sie und die gemeinsamen Kinder hatten 47 Jahre lang Gewalt von ihm erlitten. Sauvage wurde 2016, nachdem sie zwei Jahre ihrer 10-jährigen Haftstrafe abgesessen hatte, von Präsident François Hollande begnadigt, und der Fall regte eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit über Gesetzesänderungen zum Schutz von Opfern von Beziehungsgewalt an.
Ein gemeinsamer Nenner in diesen Fällen ist meist, dass die mordende Frau keine andere Möglichkeit mehr sieht, sich selbst oder ihre Kinder vor dem gewalttätigen Mann zu schützen. Opfer von langjähriger häuslicher Gewalt werden in der Regel vom Täter bewusst isoliert und kontrolliert – ihr soziales Netzwerk, ihre Beziehungen zu Verwandten und Freund_innen werden untergraben und sabotiert; sie haben kein eigenes Geld, keinen Zugang zu Verkehrsmitteln, keinen eigenen Job unabhängig vom Täter usw.
„Töten in Selbstverteidigung“
Der Dokumentarfilm One Minute to Nine schildert die letzten fünf Tage, bevor Wendy Maldonado und ihr 16-jähriger Sohn Randall in Oregon, USA, 2006 wegen des Mordes an ihrem Ehemann bzw. Vater Aaron Maldonado zu zehn bzw. sechs Jahren Haft verurteilt wurden, nachdem sie fast zwanzig Jahre seiner sadistischen Gewalt ausgeliefert gewesen waren. Die Familie lebte in einem abgelegenen Haus, das sie nicht ohne den Vater verlassen durften – die vier Söhne bekamen zu Hause Unterricht von der Mutter. Die Mutter und Kinder versuchten einander zu beschützen, indem sie Aarons Gewalt auf sich selbst lenkten. Wendy war mehrmals dem Tod nahe, und Aaron schlug ihr 17 Zähne aus. Seine Gewalt und detaillierten Morddrohungen eskalierten immer mehr, und Wendy und Randall sahen keinen anderen Ausweg, als ihn zu töten. Als Aaron am frühen Morgen des 1. Mai 2005 schlief, schlugen sie ihn mit einem Hammer und einer Axt tot, riefen die Notrufzentrale und gestanden die Tat. In einem Interview mit People Magazine 2015 erklärte Wendy Maldonado, dass sie die Tat nicht bereut: „Hätte ich das nicht gemacht – ich weiß, dass wir jetzt alle tot wären.“ (3)
Rechtlich gesehen ist in den USA „das Töten in Selbstverteidigung“ eine Grauzone. Meist muss das Opfer selbst dabei gewesen sein, ein ernsthaftes Verbrechen zu begehen. In Wendy und Randall Maldonados Fall argumentierte das Gericht, dass Aaron zwar in der Vergangenheit gedroht hatte, seine Frau und Kinder zu töten, aber in dem Moment, als sie ihn umbrachten, war er keine aktive, unmittelbare Gefahr.
In Deutschland lässt das Kriterium der „Heimtücke“ den_die Täter_in schlechter dastehen. Das Wort ist allgemein negativ konnotiert und weckt Assoziationen mit Feigheit und Hinterhältigkeit. Wenn aber das Opfer dem_der Mörder_in körperlich deutlich überlegen ist, wie bei der Mehrheit der erwachsenen Männer gegenüber Frauen und Kindern, besteht bereits eine Unausgewogenheit. Die Täterinnen, die gewalttätige Partner ermordeten, hätten in der Regel kaum eine Chance gehabt, das Opfer in einem „fairen Kampf“ zu töten, sondern mussten wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit das Opfer überraschen oder Momente ausnutzen, in denen es bereits außer Gefecht war. Valérie Bacot und Jacqueline Sauvage erschossen ihre Männer von hinten, Wendy Maldonado tötete ihren Mann im Schlaf – ebenso wie die 37-Jährige aus Hechingen, die 2001 ihren notorisch gewalttätigen Ehemann, „Präsident“ von mehreren Rockergruppen, im Schlaf erschoss, wie auch die 44-Jährige aus Kehl, die 2020 daran scheiterte, ihren schlafenden Mann, der sie jahrelang misshandelt hatte, mit einem Akkubohrer gegen die Stirn umzubringen.
„Haustyrannenmord“
In der deutschen Rechtsprechung gibt es sogar einen eigenen Begriff für die Tötung eines misshandelnden Ehegatten: „Haustyrannenmord“. Im Gegensatz zum „Tyrannenmord“ (der Tötung eines als ungerecht empfundenen Herrschers, der die Bürger_innen gewaltsam unterdrückt) wird der Haustyrannenmord nicht als politischer Mord eingestuft und auch nicht in mancher Hinsicht durch das Widerstandsrecht im Artikel 20 des Grundgesetzes Abs. 4 legitimiert. Aber in Anbetracht der oft jahrelang vorausgehenden Misshandlungen tendiert die Rechtsprechung dennoch dazu, Haustyrannenmorde milder zu strafen als andere Morde.
Beziehungsmord ist zwar unter den von Frauen begangenen Mordfällen recht häufig, aber selten unter allen Mord- und Totschlagsfällen insgesamt. In der Statistik des Bundeskriminalamts für das Jahr 2020 liegt der Anteil der Frauen unter den Tatverdächtigen bei den verschiedenen Tötungsdelikten stabil bei ca. 13 %, und die Anzahl aller Opfer von Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen bei ca. 2.000. (4) Eine gesonderte Statistik über Beziehungsgewalt liegt aus dem Jahr 2019 vor. In 58 Fällen wurden Männer ermordet und totgeschlagen, die in einer Beziehung zur tatverdächtigen Person waren. Die Zahl der Frauen als Opfer in entsprechenden Fällen war 222. Offenbar wenden Frauen (bisher) nur höchst selten und in einer äußersten Notlage Mord zur Befreiung aus gewalttätigen Beziehungen an, denn die Zahl der Frauen als Opfer aller unter Partnerschaftsgewalt klassifizierten Delikte war fast 115.000 (die entsprechende Zahl der Männer ca. 27.000), und die Dunkelziffer ist in diesem Bereich sicherlich sehr hoch. (5)
(1) Véronique Jaquier und Joëlle Vuille: Les femmes et la question criminelle. Délits commis,ex-
périences de victimisation et professions judiciaires, Éditions Seismo SA, Zürich und Genf 2019.
(2) „Frauen morden anders als Männer“, Der Tagesspiegel, 01.09.2008.
(3) „Oregon Mom Wendy Maldonado Released From Prison After A Decade of Incarceration for Killing Her Abusive Husband“, people.com, 11.03.2016.
(4) Polizeiliche Kriminalstatistik – Tatverdächtige nach Alter und Geschlecht, Tabelle 20, Bereich: Bundesrepublik Deutschland, Berichtszeitraum: 01.01.2020 bis 31.12.2020, Bundes-kriminalamt 2021.
(5) Partnerschaftsgewalt – Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2019, Bundeskriminalamt 2019.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.