gewalt gegen frauen

Lied ohne Furcht

Hymne der mexikanischen Frauenbewegung

| Henriette Keller

Beitraglied
Streetart in Barcelona - Foto: stoerer_dresden

In Mexiko werden jedes Jahr rund 4.000 Frauen ermordet, und die überwältigende Mehrheit der Täter geht straffrei aus. Dagegen bildete sich in den vergangenen Jahren eine breite Protestbewegung, und am 8. März 2020 demonstrierten 80.000 Menschen gegen die Gewalt an Frauen in Mexico City, gefolgt von einem Frauenstreik unter dem Motto „Ein Tag ohne Frauen“. Über die Femizide – die massenhaften Morde an Frauen – und das Lied „Canción sin miedo“ (dt. „Lied ohne Furcht“), das in der kämpferischen Aufbruchsstimmung entstanden ist, schreibt für die Graswurzelrevolution Henriette Keller. (GWR-Red.)

Im August 2008 verschwindet die 16-jährige Rubí in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez. Monate später wird ihre zerstückelte und verbrannte Leiche gefunden. Der mutmaßliche Mörder, Sergio Rafael Barrazo, wird kurzzeitig verhaftet, vor Gericht aber trotz erdrückender Beweise freigesprochen. Für Rubís Mutter, Marisela Escobedo Ortiz, ist es unerträglich, dass der Mord an ihrer Tochter ungesühnt bleibt. Sie entschließt sich, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Auf juristischem Wege, mit Eingaben und Petitionen, durch politischen Druck. Sie schließt sich der Organisation „Justicia para nuestras hijas“ (dt. „Gerechtigkeit für unsere Töchter“) an. Mit Demos, Mahnwachen und gewaltfreien Protestaktionen brechen die Mütter getöteter Frauen und Mädchen das Schweigen und prangern die Straflosigkeit an. Sie schaffen Öffentlichkeit und fordern Gerechtigkeit für ihre Töchter. Während einer ihrer Kundgebungen im Dezember 2010 fährt ein Auto vor, ein Mann steigt aus, tötet Marisela mit einem Kopfschuss und flieht. Dass er von Barrazo beauftragt wurde, wird vermutet, kann aber nicht bewiesen werden.
Im Februar 2020 wird die 25-jährige Ingrid Escamilla von ihrem Partner in der gemeinsamen Wohnung in Mexico City brutal ermordet. Vielleicht wäre ihr Tod ein trauriger Fall unter tausenden geblieben, aber für die Sensationspresse geht Auflage vor Pressekodex: Sie titelt mit reißerischen Schlagzeilen und Fotos der verstümmelten Frauenleiche. Die mediale Ausschlachtung der Bluttat führt zu einer Welle der Empörung im Land. Tausende gehen auf die Straßen und fordern ein Ende der Gewalt gegen Frauen.

Einzelfälle mit System

Drei ermordete Frauen – drei Einzelfälle? VertreterInnen von Regierung und Justiz setzen vielfach auf diese These, auch wenn in Mexiko jedes Jahr rund 4.000 Frauen ermordet werden und die überwältigende Mehrheit der Täter straffrei ausgeht. Der Protest nach Ingrids Tod richtete sich auch gegen das von Generalstaatsanwalt Alejandro Gertz verkündete Projekt, den zwischenzeitlich im mexikanischen Strafgesetzbuch verankerten Straftatbestand des Femizids wieder zu streichen, da der Begriff alles nur verkompliziere und die Strafverfolgung erschwere. Begriffe wie Mord und Totschlag seien ausreichend und zweckmäßiger.
Diese Argumentation ist für die Betroffenen blanker Hohn. Mädchen, die in einem Klima der Angst aufwachsen; Frauen, für die Gewalterfahrungen Alltag sind; die Angehörigen der Opfer, die oft jahrelang und unter Einsatz ihres Lebens darum kämpfen, dass Behörden und Gerichte endlich tätig werden, sehen ganz andere Ursachen für die ihnen entgegengebrachte Ignoranz: Trägheit, Desinteresse, Korruption, den langen Arm der Drogenkartelle und Menschenhändler – und den „patriarchalen Pakt“ des Machismo.

Den patriarchalen Pakt brechen

In den vergangenen Jahren organisieren sich mehr und mehr Frauen, um diesen Pakt zu brechen und ihr Recht auf Leben und Selbstbestimmung durchzusetzen. Zu Großdemonstrationen auf dem Paseo de la Reforma in Mexico City, aber auch in anderen Städten im ganzen Land strömten in den Jahren 2019 und 2020 Tausende von Menschen. In Hermosillo, der Hauptstadt der Provinz Sonora, wo die Zahl der Femizide seit 2018 besonders dramatisch gestiegen war, gab es in den ersten Monaten des Jahres 2020 mehrere Demonstrationen aufgebrachter Frauen. Zwei davon endeten mit entglasten Fenstern und einem Sturm auf den Justizpalast bzw. die Kathedrale. „Leider reagiert die Regierung erst dann, wenn wir etwas kaputtmachen, was ihr wichtig ist“, kommentierte eine Demonstrantin lakonisch.
Am 8. März 2020, dem Internationalen Frauentag, demonstrierten in der Hauptstadt 80.000 Menschen – die breite Mobilisierung hatte auch zahlreiche Männer sowie Familien mit Kindern auf die Straße gebracht, um ein Zeichen gegen die Gewalt an Frauen zu setzen. Am Tag darauf, einem Montag, waren die Frauen unsichtbar: Sie streikten unter dem Motto „Ein Tag ohne Frauen“. Frauen gingen nicht zur Arbeit, gingen nicht einkaufen, nutzten nicht mal die Sozialen Medien.

Eine feministische Hymne

In der kämpferischen Aufbruchsstimmung jener Tage entstand „Canción sin miedo“ (dt. „Lied ohne Furcht“). Vivir Quintana, mexikanische Sängerin und Aktivistin, schrieb das Lied für einen gemeinsamen Auftritt mit ihrer berühmten chilenischen Kollegin Mon Laferte auf dem Festival „Tiempo de Mujeres“ (dt. „Zeit der Frauen“) am Vorabend des 8. März 2020. Das Lied traf den Nerv der Bewegung. Es nahm die aktuellen Geschehnisse auf und endete mit einer feministisch-utopischen Variation der kriegerisch-männlichen mexikanischen Nationalhymne.
Bereits vor dem Auftritt ging ein Video des Songs viral, so dass bei der eigentlichen Uraufführung auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexico City, Tausende von Konzertbesucherinnen einstimmen und jede Zeile mitsingen konnten. Eine feministische Hymne war geboren.
Seitdem sind zahlreiche Coverversionen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas entstanden, die Texte wurden an die jeweiligen lokalen Situationen und Erfahrungen angepasst. Unter anderem gibt es kolumbianische, chilenische und argentinische Variationen. Und der Dokumentarfilm „Die drei Tode der Marisela Escobedo“, der die eingangs beschriebenen Ereignisse aufarbeitet, endet mit Vivir Quintanas Lied.

Wie fast allen sozialen Bewegungen hat die Coronapandemie auch der mexikanischen Frauenbewegung einen Dämpfer verpasst. Ein Großteil der Aktionen zum Internationalen Frauentag 2021 wurde notgedrungen von der Straße in den virtuellen Raum verlegt. Dabei ist es nach wie vor bitter nötig, den politischen Druck aufrechtzuerhalten. Im Februar 2021 gab es heftige Proteste gegen Salgado Macedonio, einen Politiker aus dem Bundesstaat Guerrero, dem sexueller Missbrauch und Vergewaltigung in mehreren Fällen vorgeworfen wurden. Präsident López Obrador, der unbeirrt an seinem Parteifreund festhielt, ließ sich mit den Worten zitieren: „Ich höre jetzt überall dieses ‚Brich den Pakt, brich den Pakt‘ – ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich weiß erst seit fünf Tagen, was das bedeuten soll, dieses ‚Brich den Pakt‘. Ich habe es mir von meiner Frau erklären lassen. Ich hab sie gefragt, und sie sagte mir: ‚Sie meinen den patriarchalen Pakt. Du sollst aufhören, die Männer zu unterstützen.‘ – Aber ich breche den Pakt doch schon.“ Nicht sonderlich ausgeschlafen für einen Mann, der sich der lateinamerikanischen Linken zurechnet und 2018 sein Amt mit dem Versprechen antrat, er werde Korruption und Straflosigkeit im Land bekämpfen. Mexikos Frauen werden noch einen langen Atem brauchen.

 

Vivir Quintana: Lied ohne Furcht

Der Staat soll erzittern, der Himmel, die Straßen,
erzittert, ihr Richter und ihr Ermittler!
Ihr lasst uns Frauen nicht in Ruhe leben,
ihr habt Furcht gesät, aber uns wuchsen Flügel.

In jeder Minute, Woche für Woche
entführt man unsere Freundinnen, tötet unsere Schwestern,
zerfetzt ihre Körper, lässt sie verschwinden.
Vergessen Sie nicht ihre Namen, Herr Präsident!

Für unsere Freundinnen, die auf der Reforma marschieren,
für die Mädchen, die in Sonora Rabatz machen,
für die Kämpferinnen in Chiapas
und für die Mütter, die suchend durch Tijuana irren:

Wir singen ohne Furcht, wir fordern Gerechtigkeit!
Wir erheben unsere Stimmen für jede Verschwundene.
Dass alle es hören: Wir bleiben am Leben!
Nieder mit dem Femizid! Bringt die Täter zu Fall!

Ich zünde alles an, ich schlag alles kaputt,
wenn irgendein Kerl dir das Licht ausbläst.
Ich schweige nicht mehr, mir reicht es jetzt!
Wenn sie eine von uns anrühren, dann antworten wir alle.

Ich bin Claudia, ich bin Esther und ich bin Teresa
Ich bin Ingrid, ich bin Fabiola und ich bin Valeria
Ich bin das kleine Mädchen, das du entführt hast
Ich bin die Mutter, die um ihre toten Töchter weint
Und ich bin es, die sagt: Jetzt wirst du bezahlen

(Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!)

Für unsere Freundinnen, die auf der Reforma marschieren,
für die Mädchen, die in Sonora Rabatz machen,
für die Kämpferinnen in Chiapas
und für die Mütter, die suchend durch Tijuana irren:

Wir singen ohne Furcht, wir fordern Gerechtigkeit!
Wir erheben unsere Stimmen für jede Verschwundene.
Dass alle es hören: Wir bleiben am Leben!
Nieder mit dem Femizid! Bringt die Täter zu Fall!

Auf dass die Erde in ihrem Innern erbebt
vom schwesterlichen Klang der Liebe!
Auf dass die Erde in ihrem Innern erbebt
vom schwesterlichen Klang der Liebe!

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.