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Offensiv anarchistisch

Streiflichter vom KongressA in Münster

| Stephan und Nox

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Foto: Bernd Drücke

Am Wochenende 13.-15. August 2021 fand in Münster (NRW) der KongressA für herrschaftsfreie Theorie und Praxis statt. In der Ankündigung stand: „Wir werden über Geschichte, Theorie und Praxis der Ordnung ohne Herrschaft diskutieren – der Anarchie. Wir werden darüber reden, warum sie notwendig und möglich ist. Und wir werden gemeinsam überlegen, wie wir im Hier und Jetzt konkrete Schritte zu ihrer Verwirklichung machen können.“ Zwei der Organisator*innen des Kongresses, Stephan und Nox, berichten für die Graswurzelrevolution über den Verlauf des Kongresses. (GWR-Red.)

Samstagabend, der 14. August. Der Kongress tanzt. Singer-Songwriter Jo Hetscher und Aktivist Uri Gordon haben sich vom Publikum zu einer letzten Zugabe überreden lassen. Mehr als einhundert Menschen sind hier am Hafen Münster versammelt, alt und jung und bunt. Sie lauschen alten und neuen Liedern der anarchistischen Bewegung, singen lauthals mit und nehmen teilweise sogar selbst auf der Bühne Platz – so wie Uri, der sich spontan an die Trommel gesetzt hat. Und jetzt schallt es noch einmal durch den ganzen Hafen: „Bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao …“

Demozug zum Start des KongressA – Foto: A.A. Graf

Fast ein Jahr lang haben sich Aktivist*innen aus Münster mit der Planung und Organisation des KongressA beschäftigt. Der schwarzrote Liederabend ist Teil eines dreitägigen Programms mit zahlreichen Vorträgen, Workshops und Diskussionen.
Ursprünglich zum 100. Jahrestag der Beerdigung des anarchistischen Theoretikers Pjotr Kropotkin am 13. Februar 2021 geplant, musste der Kongress coronabedingt um ein halbes Jahr verschoben werden. „Kropotkins Beerdigung markiert das letzte Aufbäumen der anarchistischen Bewegung in der Sowjetunion; sie war ein starkes Zeichen für den freiheitlichen Sozialismus. Insofern war es ein wenig schade, dass wir zum eigentlichen Jubiläum nur eine kleine Gedenkfeier abhalten konnten“, reflektiert das Orga-Team. „Dafür hatten wir jetzt aber Sonne satt. Und das Jubiläum war ja eh mehr ein Anlass für den Kongress.“

Anarchismus in die Offensive!

Freitagabend, der 13. August. Genau einhunderteinhalb Jahre nach Kropotkins Beerdigung ziehen mehrere hundert Menschen durch Münsters Innenstadt und feiern eine Idee, die anscheinend nicht totzukriegen ist: Die Herrschaftsfreiheit. Unter dem Motto „Anarchismus in die Offensive! Globalen Krisen libertär begegnen“ fordern Redebeiträge unter anderem eine Aufhebung des Patentschutzes bei Corona-Impfstoffen für den globalen Süden, ein Ende patriarchaler Gewalt und eine Welt ohne Nationalstaaten, ohne ihre Grenzen, ihre Konkurrenz und ihre Kriege. Vorangegangen war ein einführender Vortrag zur Frage „Was ist das – herrschaftsfrei?“ Erreicht die Demo aber auch jene Menschen, die an diesem Vortrag nicht teilgenommen haben? Werden unsere knappen Slogans der oft so komplexen (und komplizierten) Theorie und Praxis der Herrschaftsfreiheit gerecht? Vielleicht geben wir einigen der Einkaufsbummler*innen ein paar Denkanstöße, immerhin.
Manche Menschen lassen sich vielleicht auch besser mit künstlerischen Mitteln erreichen. Am Hafenplatz wird eine Open Stage errichtet. Ralf Burnicki trägt Anarcho-Poetry vor, Sybille Lengauer begeistert mit geradezu sprechgesangartiger Vortragsweise („Geld? Geil! Geld? Geil! Geil!“), AndySubstanz regt zum Nachdenken an, und mit Vergissmeinnicht und NeoC beweisen gleich zwei lokale Acts, dass politische Musik nicht platt sein muss. Ob es Kropotkin gefallen hätte? Ganz bestimmt.

Theorie und Praxis verbinden
Foto: Bernd Drücke

Beim KongressA ging es grundsätzlich darum, die historische und theoretische Reflexion des Anarchismus mit der Reflexion aktueller und internationaler anarchistischer Praxis zu verbinden. Zunächst einmal stand also die Vielfalt anarchistischer Theorie und Praxis auf dem Programm. Sie wurde auch in den vier Themensträngen „TheorieA“, „FeministA“, „HistoriA“ und „AktivistA“ deutlich: Stadtteilarbeit, Queerness und Tierbefreiung waren genauso Thema wie aktuelle Kämpfe in Kurdistan oder die Mujeres Libres in der Spanischen Revolution. Viele der Beiträge sind auch als Stream bei Youtube verfügbar; so bei „Münster Digital Radikal“ und „Münster Tube“. Trotz der Komplexität vieler Themen bemühten sich die Referent*innen mehrheitlich, ihre Beiträge so verständlich und auch so unterhaltsam wie möglich zu präsentieren. Zum Beispiel Bernd Drücke, der seinen historischen Vortrag über anarchistische Presse mit einem Interview zur Lage der Gǎi Dào auflockerte und dafür sowohl den ersten als auch den aktuellen (und hoffentlich nicht letzten) Redakteur der Zeitschrift befragte – und es sich zum Schluss nicht nehmen ließ, ein Liedchen der Anarcho-Kabarettgruppe „Die 3 Tornados“ zum Besten zu geben. Auch die AG Feministische Kämpfe der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) Dresden hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen: Ihr Vortrag zum spannungsvollen Verhältnis zwischen Syndikalismus und Feminismus („Syndi“ und „Fem“) geriet erst zur szenischen Lesung und wurde dann durch eine „Zeitreisende“ unterbrochen, die sich über die merkwürdigen Gebräuche im Jahr 2021 wunderte: Lohnarbeit? Ehe? Binäre Geschlechterordnung? Zumindest in einer möglichen Zukunft ist die Menschheit da schon ein Stückchen weiter.
Andere Vorträge waren akademischer, aber deswegen nicht weniger spannend: So referierte Andreas Hellgermann vom Institut für Theologie und Politik über das Verhältnis von Kapitalismus und Religion, während Uri Gordon seine anarchistische Sozialtheorie wegen technischer Schwierigkeiten rein mündlich vortragen musste und den Englischkenntnissen seines Publikums dabei einiges abverlangte. Die anschließende engagiert geführte Diskussion zeigte aber, dass sich die Mühe gelohnt hat. Nach drei Themenslots und leckerer Küche für Alle endete der Tag beim anarchistischen Liederabend am Hafen bzw. in der Szenekneipe Leo:16.

Jetzt geht es darum, diese Energie in die Stadtviertel, die Betriebe und auf die Straße zu tragen. Und wer weiß, vielleicht organisierst du ja den nächsten KongressA in deiner Stadt?

Trotz der langen Sommernacht ging es dann am Samstagvormittag genauso enthusiastisch weiter wie am Samstag: Von marxistischer Kritik am Anarchismus über eine anarchistische Ethik des Müssens in der Fürsorge bis hin zur Geschichte und Aktualität der Zapatistas war das Programm ebenso breit aufgestellt wie am Vortag. Lokale Akzente setzten ein Vortrag zum Münsteraner Anarchisten und NS-Opfer Paul Wulf sowie die abschließende Podiumsdiskussion über die Verbindung lokaler Kämpfe. Aktivisten (leider ausschließlich cis-Männer) der Gruppe Rosa, der Interventionistischen Linken Münster, des Tierrechtstreffs und der FAU erörterten unter reger Beteiligung des Publikums, wie wir emanzipatorische Kämpfe, die der Sache nach bereits zusammenhängen, auch praktisch enger verbinden können. Ob ein Podium das richtige Format für Strategiedebatten bietet, sei einmal dahingestellt. Deutlich wurde aber, dass die Verbindung und Ausweitung unserer Kämpfe über den engen Kreis von Aktivist*innen hinaus nur dann gelingen kann, wenn auch Reproduktionsarbeit und die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse stärker in unsere politische Praxis integriert werden. Ein Genosse aus dem Publikum stellte dafür einen vielversprechenden Ansatz vor, der größere Aufmerksamkeit von revolutionären Anarchist*innen verdient: solidarnetz.org. Neben den konkreten Inhalten wurde in der Diskussion aber vor allem spürbar, welche Energie von einem ganzen Wochenende voll anarchistischer Theoriearbeit ausgeht – sie drängt zur Praxis. Nicht nur in Form zahlreicher Neueintritte in die beteiligten Organisationen (besonders in die FAU) – jetzt geht es darum, diese Energie in die Stadtviertel, die Betriebe und auf die Straße zu tragen. Und wer weiß, vielleicht organisierst du ja den nächsten KongressA in deiner Stadt?

Stephan und Nox von
der KongressA-Orga

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.