Geflüchtetensolidarität und soziale Bewegungen in Griechenland

Ein Bericht aus Athen/Piräus und Lesbos

| Peter Oehler

Beitraggriechenland
Mytilini, Lesbos - Foto: Stefanie Eisenschenk via flickr.com,

Peter Oehler war diesen Sommer wieder in Griechenland, wo er auf Lesbos und im Großraum Athen/Piräus die Arbeit der NGOs, die Geflüchtete unterstützen, und soziale Bewegungen begleitete. Aufgrund seiner früheren Erfahrungen vor Ort konnte der GWR-Autor neue Entwicklungen beobachten (1), die er in seinem Artikel für die Graswurzelrevolution mit den Leser*innen teilt. (GWR-Red.)

Am 8. September 2021 war der erste Jahrestag des Brands des Camps Moria. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) „Leave No One Behind“ war die Einzige, die daran erinnert hat. Dazu veranstaltete sie vom 9. bis 11. September im „LNOB Warehouse“ ganz in der Nähe des neuen provisorischen Camps eine Ausstellung: „Remember Moria: One Year After the Fire – Carving the Ashes“. Gezeigt wurden in dem alten Gebäude überwiegend Gemälde und Fotos vom Brand im Camp Moria bzw. dadurch inspirierte Werke. In einem schwarz abgedunkelten Kabuff wurde der zirka fünf Minuten lange Film „Now You See Me Moria“ in Endlosschleife gezeigt: Amateurhafte Filmaufnahmen während der Brandnacht.
Aufgefallen ist mir die sehr unterschiedliche Sichtbarkeit der Geflüchteten auf Lesbos und in Athen. Die aktuell knapp 4.000 Geflüchteten auf Lesbos (gegenüber den mehr als 20.000 Geflüchteten, die vor dem Brand im Camp Moria gelebt hatten), die sich auf Mytilini und Umgebung konzentrieren, sind dort deutlich präsent; bei einer Einwohner*innenzahl Mytilinis von 30.000 werden viele von ihnen nur als „störende Bettler*innen“ wahrgenommen. Dagegen fallen die Zigtausende von Geflüchteten im Großraum Athen (mit seinen zirka vier Millionen Einwohner*innen) überhaupt nicht groß auf.

Praktische Solidarität mit Geflüchteten auf Lesbos

Dabei wird die Präsenz der Geflüchteten in Mytilini durch Einschränkungen wegen Corona bewusst gering gehalten. Man kann feststellen, dass Covid-19 als Repressionsmittel gegen die Geflüchteten eingesetzt wird. Während sich Geflüchtete früher im Camp Moria und noch vor Corona-Zeiten frei auf der Insel bewegen durften, darf nur ein*e Geflüchtete*r pro Zelt bzw. pro Familie das Camp anfangs nur einmal, mittlerweile zweimal die Woche verlassen, um Besorgungen zu erledigen, aber nur für maximal vier Stunden. Auch ist es heutzutage viel schwieriger, in einer NGO als Volunteer (Freiwillige*r) mitzuarbeiten (wie das mein Plan gewesen ist), weil die NGOs wegen Covid-19 zusätzlich angehalten sind, die maximale Anzahl an Volunteers zu begrenzen.
Es gibt auf Lesbos nach wie vor einige NGOs, die sich nur um die Geflüchtetenhilfe kümmern. Zwei davon habe ich diesmal wieder besucht: „The Hope Project“ und „One Happy Family“.
Das „Hope Project“ wird nach wie vor sehr engagiert vom britischen Ehepaar Philippa und Eric Kempson geführt. Untergebracht in drei nebeneinanderliegenden Lagerhallen gegenüber des ehemaligen Camps Kara Tepe liegt es nun näher an den Zeltstädten, als das vormals im Fall von Camp Moria war. Die Lagerhallen sind gut gefüllt mit Kleidung, Hygieneartikeln, Lebensmitteln (diverse Kühltruhen) etc. Die Kleiderkammer gibt es – gut bestückt – nach wie vor, aber wegen Covid-19 kommen die Geflüchteten zum Aussuchen nicht mehr hierher. Das „Hope Project“ arbeitet sich stattdessen langsam durch das Camp, von Zone zu Zone, von Zelt zu Zelt, zählt, wie viele Erwachsene, wie viele Kinder dort leben. Sie bekommen dann passend zum Alter und Geschlecht eine große Tüte mit Kleidung sowie Hygieneartikeln. Das „Hope Project“ hat sich allerdings nicht für den Zugang ins Camp registrieren lassen. Dazu muss man nämlich unterschreiben, sich nur positiv über das Camp zu äußern sowie keine Fotos zu machen. Das „Hope Project“ will unabhängig sein (sieht sich deshalb selbst auch als „not N.G.O.“), nimmt folglich auch kein Geld vom griechischen Staat oder von der EU an. Andere griechische Organisationen, wie zum Beispiel „Moria Corona Awareness Team“ (MCAT), haben einen Zugang ins Camp, und über diese bekommt das „Hope Project“ die Sachen für die Geflüchteten ins Lager. Immer freitags steht eine der Lagerhallen voll mit großen Tüten, gepackt mit Lebensmitteln, die ebenfalls fürs Camp bestimmt sind.
Ganz in der Nähe des „Hope Project“ befindet sich das Zentrum „One Happy Family“. Nachdem es im März 2020 abgebrannt war, wurde es innerhalb von zwei, drei Monaten so weit wieder hergerichtet, dass es im „Emergency Mode“, im Notbetrieb, läuft. Es gibt hier vielerlei Angebote für die Geflüchteten: Eine Medizin-Station, eine Reparaturwerkstatt („Low-Tech Makerspace“), auch für Fahrräder, die hier manchmal auch an Geflüchtete ausgegeben werden, einen Gemüse- und Kräutergarten. Wegen der starken Ausgangsbeschränkungen für die Menschen im Camp kommen auch nur noch zirka 200 Geflüchtete pro Tag hierher; früher waren es so um die 800. Auch gibt es mittlerweile keine Essens-
ausgabe mehr. Das war „One Happy Family“ bereits früher nicht erlaubt, wurde aber unter der Syriza-Regierung geduldet. Unter der jetzigen rechten Regierung wird das Verbot aber durchgesetzt.

Angebote für Refugees und Einheimische

Aufgefallen ist mir aber, dass NGOs und selbstorganisierte soziale Einrichtungen auf Lesbos, die sich bisher auf die Geflüchtetenarbeit fokussiert haben, ihre Unterstützung nun auch anderen Hilfsbedürftigen anbieten. Im Gegenzug konnte ich in Athen und Piräus beobachten, dass solche Einrichtungen, die bisher (seit der Griechenlandkrise ab 2010) nur Einheimische im Fokus hatten, mittlerweile ihre Unterstützung auch auf Geflüchtete ausgeweitet haben.
Das „Mosaik Support Center“ befindet sich nach wie vor mitten in Mytilini in einer Nebenstraße zur zentralen Fußgänger*innenzone Ermou. Hier werden Sprachkurse in Griechisch und Englisch angeboten sowie IT-(Computer)-Kurse. Früher auf Geflüchtete ausgerichtet, stehen diese Angebote nun allen offen, da sie dort nicht mehr unterscheiden wollen zwischen Geflüchteten und Einheimischen. Das wird auch im Untertitel von Mosaik zum Ausdruck gebracht: „Support Center for Refugees and Locals“.
Eine deutsche Frau, die in dem Projekt „Volunteers for Lesvos“ des Berliner Vereins „Respekt für Griechenland“ auf Lesbos den Einsatz von Volunteers koordiniert, arbeitet aktuell auch beim „Lesvos Mutual Aid and Solidarity Network“ (LMAN) mit, einer Gruppe unterschiedlicher Leute aus NGOs und „Locals“. Unterstützt durch private Spenden, verteilt dieses Netzwerk Lebensmittel und Hygieneartikel an Bedürftige, Einheimische und Geflüchtete gleichermaßen.

Freiwilligenorganisationen in Piräus

Den Verein „Solidarität Piräus“, der in der großen Hafenstadt bei Athen aktiv ist, kenne ich seit 2015. Er hatte mich mit seinem Engagement damals stark beeindruckt, sodass ich eine Spendenaktion mit Unterstützung von „Respekt für Griechenland“ initiiert hatte, die in eine Überweisung von 3.300 Euro im Jahr 2018 mündete. Inzwischen nennt sich der Verein „Solidarität Piräus für alle“ und hat einige Veränderungen erfahren, die ich jetzt vor Ort beobachten konnte.
Es wird nicht mehr auf dem nahegelegenen Platz für Bedürftige gekocht. Stattdessen wurde der Eingangsbereich des Hauptquartiers so umgebaut, dass über eine Theke zum Gehsteig hin das Essen ausgegeben werden kann. Diese Maßnahme ist wohl coronabedingt. Die Ausgabe erfolgt von Montag bis Samstag von 10.30 bis 14.30 Uhr. Jede Person, die sich anstellt, bekommt eine warme Mahlzeit in ein mitgebrachtes Gefäß, dazu einen Liter Milch und Brot bzw. Gebäck. In früheren Zeiten waren kaum Geflüchtete unter den Anstehenden. Aber nun konnte ich beobachten, dass sich zwei getrennte Schlangen entwickelten: Rechts die Schlange der Einheimischen, links die der Geflüchteten (fast ausschließlich Frauen mit ihren Kindern). Ein Mann von „Solidarität Piräus für alle“ stand dabei draußen und organisierte die Reihenfolge der Essensausgabe so, dass alle halbwegs gerecht behandelt wurden. Unter den Aktiven dieser Solidaritätsgruppe war leider kaum eine*r, die*der Englisch sprechen konnte, so dass mir eine nähere Kontaktaufnahme nicht möglich war.
Dafür habe ich über meine Kontakte eine weitere Gruppe in Piräus kennengelernt: „Piräus für alle“. Sie wurde von Mitgliedern der Partei Syriza und Leuten vom Hafen von Piräus gegründet. Ihre Hauptaktivität besteht darin, dienstags zu kochen und das Essen am Hafen an Bedürftige zu verteilen. Gekocht wird in den Räumlichkeiten des Vereins „Der Hafen der Qual“. Dieser Verein organisiert monatlich einen Markt, wo jede*r etwas Selbstangebautes oder -erzeugtes anbieten kann, also eine andere Form der Wirtschaft: Erzeuger*innenverkäufe ohne Zwischenhändler*in. Diese beiden Vereine teilen sich die Räume, scheinen aber auch stark zusammenzuarbeiten.Da-
rüber hinaus hat „Piräus für alle“ ein weiteres Projekt ins Leben gerufen: „Unsichtbares Piräus“ möchte marginalisierte Menschen sichtbar machen. Zum Beispiel ist 2020 ein Buch voller Fotos von Obdachlosen aus Piräus herausgegeben worden. Dieses Projekt ist wegen Covid-19 initiiert worden, möchte Infizierten helfen, aber auch weiblichen und männlichen Prostituierten. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Leute, die Hilfe anbieten, und Leute, die Hilfe benötigen, sich gegenseitig finden können.

Geflüchtete und die Kunst

Mir ist auch aufgefallen, dass Geflüchtete langsam im künstlerischen Bereich sichtbar werden. Schon seit einigen Jahren gibt es beim „Hope Project“ auf Lesbos den Bereich Kunst, untergebracht in einer der Lagerhallen. Hier können Geflüchtete malen und musizieren (es gibt eine Bühne). Nach außen wird dies aber kaum sichtbar. Wegen Corona wird dieser Bereich aktuell wohl auch kaum genutzt werden können. In Form einer Ausstellung waren dagegen Gemälde von Geflüchteten bei „Remember Moria“ von LNOB präsent.
Mitten in Mytilini ist in einem Eckgebäude auf zwei Etagen mit großen Schaufenstern die „Art Gallery and Laboratory“ der Organisation „Wave of Hope for the Future“ untergebracht. Sie war vorher im Camp angesiedelt und ist seit März 2021 hier. Dieser Ort ist explizit für Geflüchtete gedacht, die sich hier künstlerisch betätigen können. Beim Betrachten all dieser Bilder fällt auf, dass die Geflüchteten beim Malen auch die traumatischen Erlebnisse ihrer eigenen Flucht verarbeitet haben. Im Zentrum von Mytilini kann man ein großes, buntes Mosaik an der Wand eines Gebäudes sehen. Darunter steht auf Englisch auf einer Tafel: „Im Mai 2017 gestalteten Migrant*innen (aus Syrien, Iran, Irak, Afghanistan, Sierra Leone, Nigeria usw.) und Einheimische unter Anleitung der Mosaizistinnen Valerie Nicoladze und Kalliopi Kalaitzidou jeweils ihr eigenes Mosaikquadrat, wobei alle ihre eigenen Farben, ihr eigenes Design und ihre eigenen Symbole wählten. Die Quadrate wurden zusammengefügt, um den Zauberteppich an der Wand zu schaffen. Die vier mittelgroßen Quadrate beziehen sich auf die antike Zivilisation von Lesbos und stellen eine Trireme, eine Lyra, eine äolische Säule und einen Topf dar. Dieser Mosaikteppich der Kulturen ist selbst ein Symbol der Einheit und der Erinnerung.“
In Athen bin ich im „Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst“ (EMST), untergebracht im ehemaligen Gebäude der Brauerei Fix, auf einige Kunstobjekte gestoßen, die mich sehr an Flucht und Grenzen erinnert haben. Ein riesiges Holzschiff mit zahlreichen Kisten an Deck, die die Erinnerungen eines Lebens beinhalten. Ein kleines weißes Zelt, das denen ähnelt, die vom UNHCR zur Unterbringung von Geflüchteten eingesetzt werden. Eine Installation mit grau gekleideten kopflosen Männern und ihren alten Koffern thematisiert Migration ganz allgemein. Die Installation „Akropolis Redux“ mit dem vielen Nato-Stacheldraht erinnert entfernt an ein abgeschirmtes Geflüchtetencamp. In einem Gang werden mittels großen Fotos rechts und links an der Wand nach und nach fünf, sechs Grenzen thematisiert, wie z. B. die auf Zypern oder die zwischen Palästina und Israel.

Antifaschistischer September 2021

Unter dem Titel „Antifaschistischer September 2021 – 8 Jahre“ fanden vom 13. bis 18. September zahlreiche Veranstaltungen in Piräus statt. Untertitel „Hab keine Angst vor ihnen, sie setzen auf deine Angst“, ein Satz des Dichters Giannis Ritsos. Gedacht wurde des Hip-Hop-Musikers und antifaschistischen Aktivisten Pavlos Fyssas, der am 17. September 2013 von einem Mitglied der faschistischen Partei „Goldene Morgenröte“ in einem Stadtviertel von Piräus ermordet worden ist. Ich war bei einem Konzert im Viertel Keratsini, wo mehrere Bands überwiegend Rap-Musik gespielt haben. Viele Männer trugen schwarze T-Shirts, auf denen hinten „Killah P still here!“ stand. Killah P. war der Künstlername von Pavlos Fyssas. In einem großen Nebenraum gab es eine Ausstellung mit Cartoons, Fotos zum Prozess gegen die „Goldene Morgenröte“ (fast 500 Prozesstage) und den Porträts von zahlreichen Linken, die von Rechten oder durch Polizeigewalt umgebracht oder schwer verletzt worden sind.

Fazit

Soziale Bewegungen und NGOs spielen in Griechenland nach wie vor eine wichtige Rolle. Dabei sind diese Einrichtungen auf Lesbos traditionell mehr auf Geflüchtete fokussiert, während die in Athen/Piräus sich meistens aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2010 gebildet und deshalb hauptsächlich die einheimische Bevölkerung im Blick haben – wobei zu beobachten ist, dass diese Abgrenzungen mittlerweile verwischen.

(1) Peter Oehler war mehrfach auf Lesbos und in Athen/Piräus. Siehe seine Berichte für die GWR: GWR 405/2015, GWR 413/2016, sowie GWR 435/2018.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.