Sind wir neuerdings staatstragend, weil wir uns nicht gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemie wenden, sondern sie einhalten? Sind die Maßnahmenverweigerer*innen die letzten aufrechten Staatskritiker*innen? Und wenn nicht: Wie sähe eine angemessene Staats- und Kapitalismuskritik angesichts der Pandemie aus? Für die Graswurzelrevolution verfasste Nicolai Hagedorn den Versuch einer Aufarbeitung. (GWR-Red.)
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich innerhalb der Bevölkerung der BRD bezüglich der Corona-Maßnahmen eine Spaltung manifestiert hat. Ein sehr großer Teil, etwas über 71 Prozent, hat bereits eine Impfung hinter sich, noch mehr geben in Befragungen an, dies „auf jeden Fall“ tun zu wollen.
Die Grafik zur (nicht repräsentativen) COSMO-Studie der Universität Erfurt bildet die Veränderungen in der Einstellung ab. Sehr auffällig ist, dass nicht nur die Impfbereitschaft seit Dezember 2020, also seit den ersten Freigaben für Impfstoffe, extrem zugenommen hat, sondern auch, dass fast die komplette Gruppe der Unentschlossenen sich letztlich Richtung „impfen lassen“ bewegt hat.
Daraus lässt sich schließen, dass viele der Argumente derer, die im Dezember 2020 den Impfungen noch ablehnend oder skeptisch gegenüberstanden, keineswegs vollkommen irratio
nal waren. Stattdessen war die Unsicherheit über mögliche Nebenwirkungen der Impfungen tatsächlich groß. Die mit der Zeit gelieferten Argumente, vor allem die Tatsache, dass innerhalb der Gruppe der Geimpften außer vorübergehenden Erkältungssymptomen kaum Nebenwirkungen auftraten, dürften viele Unentschlossene überzeugt haben. Für die weitere Debatte ergibt sich daraus zumindest die Hoffnung, dass das Vorbringen von Argumenten durchaus eine zielführende Strategie ist.
Öffentliche Debatte
Eine weitere wichtige Beobachtung ist, dass Themen wie „Spaltung der Gesellschaft“, Impfgegner*innenschaft, Querdenken etc. eine offenbar stark überproportionierte Rolle in der öffentlichen Debatte spielen und dazu beitragen, dass diese erstaunlich emotional geführt wird.
Das hat zwei offensichtliche Gründe: Zum einen gibt es inzwischen eine „Impfgegner*innen-Szene“ mit einigen zentralen Figuren, die auch ein geschäftliches Interesse daran haben, das Thema auf der Tagesordnung zu belassen, und zum Zweiten haben mit den im Winter wieder erhöhten Inzidenzzahlen auch die Intensivstationen der Krankenhäuser wieder mit den Corona-Folgen zu kämpfen. Damit kommt es erneut zu Vorwürfen mangelnder Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft an die Adresse derer, die sich ungeimpft in der Öffentlichkeit bewegen wollen und damit genau diese Notlage provozieren.
Denn die Sachlage ist ziemlich eindeutig. Die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz verlautbarte etwa Mitte November: „Wir sehen (…) auch Durchbrüche bei Geimpften, diese weisen jedoch meist ein hohes Alter oder eine Vorerkrankung auf. Gerade deshalb sind Booster-Impfungen insbesondere für diese Gruppen zu begrüßen.“ Es gibt kaum Anlass, an solchen Einschätzungen oder der Schutzwirkung der Impfungen zu zweifeln. Selbstverständlich sind auch Fake-News-Versuche wie die des AfD-Bundestagsabgeordneten Tino Chrupalla, der aus der Tatsache, dass angeblich in „seinem“ Wahlkreis das Verhältnis zwischen Geimpften und Ungeimpften 50:50 sei, die Schlussfolgerung ableitete, der Impfschutz habe hier „nicht gewirkt“, zu vernachlässigen. Der Prävalenzfehler in solchen Rechnungen springt ja ins Auge.
Dass nun von den Impfverweigerer*innen verlangt wird, zumindest auf Aufenthalte in öffentlichen Räumen zu verzichten bzw. eine Nichtinfektion nachzuweisen, wenn sie am öffentlichen Leben teilnehmen wollen, wirkt angesichts der Fakten- und Gefahrenlage keineswegs wie übermäßige staatliche Repression. Mit schlichtem Leugnen von Fakten, mit Impfstreik und dem Raunen von einer angeblichen „Corona-Diktatur“ kommen wir auf der Suche nach einer angemessenen pandemiebezogenen Staatskritik also nicht weiter.
Versuchen wir stattdessen einen Perspektivwechsel und gehen für eine Sekunde von einer freien Gesellschaft aus und davon, dass in dieser gesellschaftlichen Organisation die Möglichkeit von Repression auf ein Restminimum reduziert ist, es also keine Möglichkeit gibt, etwas polizeilich durchzusetzen.
Würde eine solche Gesellschaft von einer Pandemie getroffen, die in kurzer Zeit die Kapazitäten ihres Krankenhaussystems überforderte, und bestünde die einzige Möglichkeit, Opferzahlen zu begrenzen oder gar ganz zu verhindern, in der Bereitschaft der Bevölkerung, Masken zu tragen, Abstände einzuhalten, sich impfen zu lassen etc., so wäre diese freie Gesellschaft genauso auf das Mitwirken ihrer Mitglieder angewiesen wie eine repressive. Auf dieser Ebene gibt es also gar keinen Unterschied und somit auch keinen libertären oder sonst wie emanzipatorischen Kritikansatz.
Staats- und Kapitalismuskritik
Allerdings wäre in einer solchen Gesellschaft davon auszugehen, dass der Argwohn etwa gegenüber den Herstellern von Impfstoffen deutlich geringer wäre, denn in einer freien Gesellschaft gehören die Produktionsmittel der Allgemeinheit, sind öffentlich zugänglich, mehren direkt den gesellschaftlichen Reichtum und nicht den einiger weniger Aktionär*innen, wie etwa im Fall von Biontech, kurz: Die freie Gesellschaft kann ohne politische Verrenkungen über Subventionen, Anreiz- und Aufkaufmodelle selbst Impfstoffe herstellen und verteilen. Überdies gäbe es naturgemäß keine Patente oder ähnliche Schutzwerkzeuge geistigen Eigentums. Letzteres müsste in einer freien Gesellschaft nicht geschützt werden, da Eigentum an sich keine irgendwie existenzielle Rolle spielte. Die Verbreitung und Verteilung der Impfstoffe wäre also deutlich einfacher und transparenter und würde den allgemeinen Reichtum mehren statt den einiger weniger Privatleute.
Dieser Unterschied ist einer ums Ganze. Dass die bürgerliche Politik hektisch und unkoordiniert agiert(e), manche Bereiche mit drakonischen Maßnahmen überzog, während andere nahezu ungeschoren davonkamen, viele Maßnahmen zunächst abgelehnt wurden, um sie dann plötzlich zu befürworten und andersherum, ist in erster Linie Notwendigkeiten und Auswirkungen der konkurrenzvermittelten Wertgesetzlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise geschuldet. Dieser Aspekt bestimmt jede bürgerliche Politik auf Schritt und Tritt. Sie hat entsprechend nur solche akkumulationsgefährdenden Schritte unternommen, die jeweils unumgänglich waren. Nur aus dieser Perspektive lässt sich auch erklären, warum trotz anderslautender Einschätzungen der beratenden Wissenschaft und selbst nach der Erfahrung von zwei Pandemiewellen sämtliche Fehler der ersten beiden Versuche, also in erster Linie zu lasche Kontaktbeschränkungen „zwischen“ den Wellen und zu langsames Reagieren auf anziehende Infektionszahlen, immerzu wiederholt werden.
Unser erster Ansatz für eine sinnvolle Staatskritik ist also der, dass wir die kapitalistische Beschränktheit der bürgerlichen Gesellschaft angreifen für ihre Unfähigkeit, notwendige Impfstoffe etc. herzustellen, ohne dabei einer Handvoll Investor*innen weitere Milliarden auf die Konten zu schaufeln, und für ihr totales Unvermögen, selbst in einer krassen Notsituation auch nur die einfachste Entscheidung zu treffen, ohne dabei irgendwelche irrationalen Profitinteressen berücksichtigen zu müssen. Dass da große Bevölkerungsteile misstrauisch werden, ist nicht überraschend.
Ökologie und kapitalistische Produktionsweise
Für die bürgerliche Gesellschaft erwächst indes zunehmend ein weiteres Problem: Aufgrund ihres immanenten Wachstumszwangs entsteht eine ökologische Katastrophe, die unter Kapitalbedingungen unübersehbar nicht aufgehalten werden kann. Der Raubbau an der Natur ist gewissermaßen ein notwendiges Abfallprodukt der kapitalistischen Produktionsweise.
„Überall dort, wo Wildtiere aus ihren angestammten Habitaten verdrängt werden und in andere Bereiche wechseln, entstehen neue Kontakte, die es vorher nie gegeben hat, und genau das ist das Problem. Es existiert eine Konkurrenz zwischen Mensch und Tier um die knapper werdenden Ressourcen. Wir sind Reiseweltmeister, es gibt ja kaum noch unentdeckte Flecken auf dieser Erde, der Warenhandel hat sich intensiviert. Alles keine guten Optionen für uns im Kampf gegen die Viren“, erklärte der Tropenmediziner Jonas Schmidt-Chanasit im Interview mit dem Portal der Bundeszentrale für politische Bildung im April 2020. Schmidt-Chanasit beschreibt hier das eigentliche Problem: Die Pandemie, ihre Vorgänger, wie etwa das Ebola-Virus, und ihre zu erwartenden Nachfolger sind in erster Linie Symptome und Folgen eines Systems, das die „kapitalistische Produktionsweise“ selbst ist. Und diese kann Natur nur als Kapitalbestandteil begreifen, also als unverzichtbares Element der täglich laufenden Akkumulationsmaschine.
Hier kommt die Ideologie ins Spiel. Ähnlich wie beim fortschreitenden Klimawandel, der ebenfalls Symptom des ökologischen Raubbaus im Namen der Kapitalakkumulation ist, muss das Narrativ der „einzig sinnvollen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ entweder das Problem selbst leugnen oder es zu einer externen, von der Gesellschaftsform unabhängigen Naturkatastrophe umdeuten, die aber technologisch zu lösen sei.
Für diese beiden ideologischen Strategien finden sich innerhalb der bürgerlichen Politik zwei Fraktionen. Das Leugnen übernehmen die Faschist*innen der AfD und die faschistisch-reaktionären Flügel von CDU und FDP sowie der national-soziale Flügel der Linkspartei um Sahra Wagenknecht. Das Umdeuten erledigen die konservativ-sozialdemokratischen Parteien Grüne und SPD sowie die sozialdemokratischen Flügel der übrigen Parteien. Nur in der Linkspartei gibt es vereinzelt Stimmen, die sich gegen die bürgerlich-ideologische Realitätsverweigerung wenden.
Libertäre Staats- und Kapitalismuskritik hingegen richtet sich gegen beide Strategien: Sowohl gegen Leugnungsstrategien von Faschist*innen und Querdenker*innen als auch gegen die Umdeutungsstrategien der offiziellen bürgerlichen Politik von CDU bis Teilen der Linkspartei.
Dass der Kapitalismus ohne Wachstum dysfunktional werden muss und schon bei mittelschweren Rezessionen Massenarbeitslosigkeit und Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung evoziert, ist evident. Es gibt kein einziges Beispiel in der kapitalistischen Geschichte, wo nicht genau das eingetreten wäre, und auch theoretisch ist das im Grunde schon dem Alltagsverstand einsichtig. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass die Menschheit aufhören muss, immer mehr natürliche Ressourcen für sich in Anspruch zu nehmen, immer mehr natürliche Habitate für sich zu erobern und damit der Natur- und Pflanzenwelt zu entziehen. Dieses Dilemma ist unser zweiter Ansatz einer emanzipatorischen Staatskritik.
Fazit
Eine emanzipatorische Widerstandsbewegung gegen die offizielle Coronapolitik wendet sich also nicht gegen Hygiene- und Impfmaßnahmen, sondern gegen das vom bürgerlich-kapitalistischen Regime provozierte Risiko des Pandemieausbruches selbst. Nicht die irrlichternden Maßnahmen und Fehler einiger Politiker*innen sind anzugreifen, sondern die bürgerliche Gesellschaft und Ideologie an sich. Wenn wir unser Recht auf körperliche Unversehrtheit durchsetzen wollen, dann dürfen wir nicht Impfstoffe und Maskenpflicht ablehnen, sondern müssen die bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen angreifen, die dazu führen, dass Viren von Wildtieren auf Menschen überspringen können.
Dagegen muss sich unsere Kritik richten. Die nun notwendigen Impfungen, Hygiene- und Kontaktbeschränkungen anzugehen, wendet, wie die bürgerliche Ideologie, die Pandemie zur äußeren Bedrohung, statt sie als von der bürgerlichen Gesellschaft selbst hervorgerufene Katastrophe zu begreifen, und ist somit ihrerseits nicht staatskritisch, sondern staatstragend.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.