Buchbesprechung

„Der Wind hat meine Geschichte geschrieben“

Der ehemalige Bürgermeister des Willkommensdorfes Riace erzählt seine Geschichte

| Elisabeth Voß

Mimmo Lucano: Das Dorf des Willkommens. Aus dem Italienischen von Elvira Bittner, Verlag rüffer & rub, Zürich 2021, 288 Seiten, 28,50 Euro, ISBN 978-3-906304-87-8.

Das Buch von Domenico (Mimmo) Lucano erschien in deutscher Übersetzung, kurz nachdem sein Autor am 30. September 2021 in Italien zu mehr als 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde – rechtlich wegen der Förderung illegaler Einreise, politisch als Strafe dafür, dass er Geflüchtete solidarisch aufgenommen hatte.
Mimmo Lucano war von 2004 bis 2018 Bürgermeister des kleinen kalabrischen Dorfes Riace, das weltweit als Willkommensdorf bekannt wurde. Er wurde 2010 mit dem dritten Platz des World-Mayor-Awards als einer der besten Bürgermeister*innen weltweit geehrt. 2016 nahm ihn das US-amerikanische Magazin Fortune in die Liste der „World’s 50 Greatest Leaders“ auf, zusammen mit Angela Merkel und Papst Franziskus. Im Februar 2017 bekam er den Dresdner Friedenspreis.
Lucano schildert seine Kindheit und Jugend in dem von Abwanderung betroffenen Bergdorf. Mehrere Geschwister seiner beiden Eltern waren auf der Suche nach einer Perspektive nach Übersee ausgewandert, und sie sahen sich nie wieder. Die Traurigkeit über den Verlust und das Verständnis für Migration prägten viele Familien. Als Angehöriger der Mittelschicht – sein Vater war Lehrer, so wie er selbst später auch – war sich Lucano frühzeitig seiner Privilegien bewusst, angesichts der Armut seiner proletarischen Freunde. Er engagierte sich in der Bewegung „Lotta Continua“ und war inspiriert von anarchistischen, antipsychiatrischen und befreiungstheologischen Ideen. Die Würdigungen seiner Vorbilder und Mitstreiter geben Einblicke in authentische politische Kämpfe an der Seite der Armen und Schwachen, gegen Ungerechtigkeiten und gegen die Macht der Mafia.
Nach einigen Jahren in Rom und Turin kehrte Mimmo Lucano wieder zurück in sein Dorf, um sich dort politisch einzumischen. Er berichtet über die Anfänge des Willkommensdorfes, als 1998 ein Schiff mit kurdischen Flüchtlingen in Riace strandete. Mit Freund*innen kümmerte er sich um sie und vernachlässigte darüber sogar seine Familie. Der kurdische Freiheitskampf faszinierte ihn, und als er Bürgermeister war, ernannte er Abdullah Öcalan zum Ehrenbürger von Riace. Immer mehr Geflüchtete kamen ins Dorf, und Lucano gründete mit Mitstreiter*innen den Verein „Città Futura“ (dt. „Stadt der Zukunft“). In kleinen Werkstätten und Läden schufen sie Arbeitsplätze für Schutzsuchende und Einheimische. Unterstützung bekamen sie von der europäischen Kooperative Longo Maï (mehr zu Riace in der nächsten Ausgabe der Graswurzelrevolution).
Der Autor schildert, wie mit den Geflüchteten wieder Leben in sein Dorf einzog. Er beschreibt die staatlichen Aufnahmeprogramme und deren praktische Auswirkungen. Als Bürgermeister setzte er sich für die Schutzsuchenden ein, die ihm wichtiger waren als die Bürokratie. Besonders berührt hat ihn die Geschichte von Becky Moses, die aus Nigeria geflohen war. 2015 kam sie nach Riace, Anfang 2018 zog sie zu Freund*innen ins berüchtigte Lager San Ferdinando, um nach der Ablehnung ihres Asylantrags nicht abgeschoben zu werden. Drei Wochen später brach dort ein Feuer aus, und sie verbrannte im Zelt. Neben ihrem Leichnam wurde der Personalausweis gefunden, den Mimmo Lucano ihr kurz zuvor noch ausgestellt hatte. „Die Erinnerung an sie bleibt für immer“, schreibt er, und: „Wie kann es sein, dass die Ablehnung eines Asylantrags den Tod bedeutet?“ (S. 25f) Er ließ Becky Moses auf dem Friedhof von Riace beisetzen.
Die Behörden wussten die Aufnahmebereitschaft von Riace zu schätzen und schickten viele Geflüchtete dorthin. Durch verspätete Zahlungen von Fördermitteln und Inspektionen wurde jedoch die Arbeit zunehmend erschwert, und zuletzt gefährdeten juristische Maßnahmen Mimmo Lucanos Lebenswerk. Nur kurz berichtet er, wie er im Oktober 2018 zunächst unter Hausarrest gestellt, dann aus Riace verbannt wurde. Erst elf Monate später durfte er zurückkehren.
Die Übersetzerin Elvira Bittner weist in ihrem Vorwort auf die Schwierigkeit hin, Mimmo Lucanos Sprache angemessen zu übersetzen, die „oft pathetisch, archaisch und sehr radikal“ (S. 12) sei. Sie habe die Sätze so gelassen, auch wenn sie für das deutsche Sprachverständnis sonderbar klingen mögen.
Die Mailänder Soziologieprofessorin Giovanna Procacci hat die Gerichtsverfahren gegen Lucano und 26 seiner Mitstreiter*innen verfolgt und schildert ihre Eindrücke in einem ausführlichen Nachwort. Sie hebt die Besonderheiten des Willkommensmodells Riace hervor und ordnet die unübersehbar politisch motivierten Prozesse in die europäische Abwehr gegen Geflüchtete ein. Die Rechtsprechung würde zunehmend genutzt, „um humanitäre Einsätze zugunsten von Migranten zu blockieren und zu diffamieren“ (S. 246). Das Urteil sei „ein Angriff auf alle, die an den Wert von Solidarität und an den Respekt für die Menschenrechte glauben.“ (S. 274)
Das Modell Riace hat vielen Menschen Hoffnung gegeben, und das Buch gibt berührende Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt von Mimmo Lucano und in sein kompromissloses Festhalten an der Menschlichkeit in einer gewaltvollen Welt. Ihm ist größtmögliche Verbreitung zu wünschen.