Jenseits aller Corona-Diskussionen um Lockdowns und Impfpflichten geht es der Waffenindustrie wunderbar. Das zeigen neueste Entwicklungen in den USA sowie der aktuelle SIPRI-Bericht über Rüstungsexporte. Einen Überblick über das Thema gibt in seinem Artikel für die Graswurzelrevolution Lou Marin. (GWR-Red.)
Die katastrophale Entwicklung in Philadelphia
Eine deutliche Sprache sprechen die Tötungsstatistiken in der US-Großstadt Philadelphia/Pennsylvania, worüber jüngst sowohl die Süddeutsche Zeitung am 14.10.2021 als auch die taz am 21.11.2021 in Reportagen berichteten: Demnach wurden 2020 in den gesamten USA 21.570 Fälle von Mord und Totschlag verzeichnet, 4.901 mehr als im Vorjahr – „ein Anstieg um 30 %, der steilste, der je gemessen wurde.“ Im Falle der Stadt Philadelphia gab es 2019 356 Morde, aber 2020 schon 499, ein Anstieg um 40 %. „417 von ihnen wurden erschossen. Bei den Verwundeten sah die Statistik noch schlechter aus: 1.836 Menschen wurden 2020 in der Stadt von Kugeln getroffen, 56 % mehr als 2019.“ (1)
In Philadelphia, der historisch ersten Hauptstadt der USA, vom Quäker William Penn gegründet, wird heute geradezu von einer „shooting epidemic“ gesprochen. In der Stadt wurden die Todeszahlen aus Schießereien von 2020 allein im bisherigen Verlauf des Jahres 2021 noch einmal übertroffen, bis Mitte November 2021 bereits mehr als 470 Tote gezählt. „Philadelphia steht vor dem blutigsten Jahr seiner jüngeren Geschichte.“ (2) Bei den Diskussionen um die Ursachen kommt die Macho-Kultur junger Männer immer wieder zur Sprache, die sich mit angeberischen Posen und einer Gewaltaffinität verbindet:
„Zu viele Waffen auf den Straßen und Teenager, die damit als harte Gangster in sozialen Netzwerken posen, ergeben eine tödliche Mischung“, sagt der Graswurzel-Anti-Gewalt-Aktivist Ikey Raw. In den sozialen Netzwerken würden Teenager sich bedrohen und beleidigen, in Rap-Videos auf Youtube sich gegenseitig fertig machen – und dieser Streit ende immer öfter tödlich. „In einer Studie aus Chicago zeigen Kriminolog*innen, dass eine Schießerei meist zwischen drei und 60 Folgetaten auslöst, manchmal sogar bis zu 500. (…) Insgesamt ist die Mordrate in US-Millionenstädten 2020 um 42 % gestiegen.“ (3)
Informationen über die Opfer der meist an Schusswaffenverletzungen Gestorbenen bietet die lokale Kriminalstatistik Philadelphias ebenfalls: „Junge schwarze Männer sind, was Schusswaffengewalt angeht, sowohl unter den Tätern als auch unter den Opfern die mit Abstand größte Gruppe. Oft sind sie beides – sie schießen und werden erschossen. In den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 waren in Philadelphia mehr als 80 % aller Menschen, die bei Schießereien getötet oder verletzt wurden, Schwarze. Neun von zehn Opfern waren Männer, sieben von zehn unter 30 Jahre alt.“ Die 19-jährige Zeugin eines Mordes an ihrem Freund, Yanea, aus dem Jugendzentrum „Yeah Philly“, sagt: „Es ist ein völlig verrücktes Geballer. Jeden Tag wird wegen nichts getötet.“ (4)
Ursache Drogenmafia und Staatsgesetze gegen Arme
Die zwei Jahre Pandemie haben in Philadelphia ganz besonders hart eingeschlagen: Wiederholte Schul- und Jugendclub-Schließungen, geschlossene Parks, Sportplätze, Büchereien, Schwimmbäder haben dazu geführt, dass Jugendliche zum Teil über ein Jahr hinweg keinen Unterricht und keine Freizeitangebote hatten. Weil es kein Schulessen mehr gab, bedeutete das für viele Kids schlichtweg Hunger. „Stay at Home“ war angesichts der Enge der Wohnungen und häuslicher Gewalt kein gangbarer Weg. „Frust, Wut, Langeweile und das aggressive Gangsta-Getue, das die Jugendkultur in den armen Stadtvierteln prägt, ballten sich zu einer gefährlichen Mixtur zusammen. Und die explodierte in Gewalt. (…) Die Kids streiten sich bei Twitter oder Instagram. Früher endete das in einer Schlägerei. Heute wird geschossen.“ Die berüchtigte Kensington Avenue von Philadelphia, Hotspot von Schießereien, ist ein Drogenumschlagplatz und wird von Drogenhändlern, die für mexikanische Kartelle arbeiten, kontrolliert. „Es geht dort um Dinge, die einen Geldwert haben, um Beutelchen voller Heroin oder um Marktmacht.“ (5) Hier ist die Zunahme der Tötungen also direkt als Folge neoliberal-kapitalistischer Verhältnisse benennbar.
Während der Pandemie haben sich in den USA die sowieso schon manischen Waffennarren und ihre gewaltaffinen Bewusstseinsstrukturen mit den egozentrischen, eher rechten Trump-Anhänger*innen vermischt. „Millionen Menschen haben sich in den vergangenen zwei Jahren Pistolen oder Gewehre gekauft, legal und illegal. Dass das möglich war, hatte u. a. mit den großzügigen Hilfszahlungen zu tun, die die Regierung ihren Bürgern überwiesen hat“, meint Rasool, der seit Anfang 2020 in neun Schießereien verwickelt war und dreimal dabei selbst von Kugeln getroffen wurde, einmal sechs Kugeln in den linken Arm, ein zweites Mal ins Bein, ein drittes Mal in den Rücken. „Das ist hier so, das sind Leute, die früher mal Freunde waren. Aber das bedeutet nichts. Wenn die entscheiden, jemanden umzulegen, wird er umgelegt.“ (6)
Kommunalpolitisch engagierte Community Workers wie Chris Rabb sehen eine offensichtliche Verbindung von Gewalt und Armut, wenn man sich die Orte der Schießereien anschaue. Und Armut gehe oft mit einer fehlenden Verbindung zur Gesellschaft einher. „Wenn man das Gefühl hat, nirgends dazuzugehören, sich selbst auch nicht als wertvolles menschliches Wesen sieht, weil man nie so behandelt wurde, dann sind einem auch andere Leben egal.“ Und: „In beiden Kammern des Parlaments des Bundesstaats Pennsylvania haben aber die ‚Republikaner‘ seit über 30 Jahren die Mehrheit. Und sie treiben Rabb bei seiner Arbeit im (bürgerrechtlichen) Justizkomitee zur Verzweiflung: ‚In den vergangenen Jahrzehnten hat Pennsylvania 1.500 Gesetze gegen neue Straftaten geschaffen. Die meisten sind so verfasst, dass sie arme Menschen bestrafen.‘ Schwarze und braune Menschen aus Philadelphia sind die größte Gruppe in Pennsylvanias Gefängnissen.“ (7)
Das spezifische Beispiel Philadelphia liefert hier einen Zusammenhang zwischen staatlicher Repression durch Gesetze gegen Arme und der patriarchalen Flucht vieler männlicher Jugendlicher in Drogenhandel und Waffengewalt. Kendra Van de Water, 2019 Mitbegründerin von „Yeah Philly“, meint: „Wir müssen die Bekämpfung der Schießereien als einen Teil der gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsvorsorge sehen.“ Bei „Yeah Philly“ bekommen die Jugendlichen abgestimmte Angebote, Therapiegespräche, Workshops und Hilfsberatungen bei der Beantragung von Geburtsurkunden, Sozialversicherungsnummern, Bewerbungsschreiben für Jobs, für Wohnungen oder weiterführende Schulen. (8)
Angesichts der entfesselten Waffengewalt in US-Großstädten wirken über die bürgerlichen Medien in der BRD gemeldete Vorkommnisse wie der tödliche Schuss des US-Schauspielers Alec Baldwin mit scharfer Waffe auf die Kamerafrau Halyna Hutchins (9) oder jüngst der Amoklauf eines 15-jährigen High-School-Schülers in Oxford/Michigan (10), der vier Mitschüler vor Ort tötete – später erlag ein fünftes Opfer seinen Verletzungen – nur wie die Spitze des Eisbergs. Donald Trumps Hetze in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 gegen Corona-Maßnahmen der „Demokratischen Partei“ in von ihnen regierten US-Bundesstaaten und seine Aufrufe, dagegen zu „revoltieren“, haben ganze Arbeit geleistet und nicht nur den Versuch der Besetzung des Capitols in Washington am 6. Januar 2021, sondern auch eine generelle Steigerung der Waffengewalt in den USA hervorgerufen.
SIPRI: Steigerungen der weltweiten Rüstungsexporte seit sechs Jahren
Am 6. Dezember 2021 legte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI seinen Jahresbericht vor und musste konstatieren, dass die weltweite Rüstungsindustrie seit 2015 um insgesamt 17 % gewachsen ist, im Jahr 2020 immerhin um 1,3 %, während die globale Wirtschaftsproduktion 2020 gegenüber 2019 um 3,1 % zurückging. In der BRD vermelden zwei von vier Rüstungsfirmen aus der weltweiten Top-100-Liste starke Zuwächse: „Der aktuell wegen des Vorwurfs der Umgehung von Exportbeschränkungen für Drohnen (11) kritisierte Elektronikspezialist Hensholdt verbuchte ein Plus von 7,9 Prozent und Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall von 5,2 Prozent.“ (12) Bei Rheinmetall erhöhte sich der Gesamtproduktionsanteil der Rüstungssparte von 56 auf 63 %. Rheinmetall rückte beim Ranking der Top 100 von Platz 32 auf 27 vor. Gründe genug also, die Kampagne direkter gewaltfreier Aktionen gegen Rheinmetall zu verstärken. (13)
Während der Pandemie haben sich in den USA die manischen Waffennarren und ihre gewaltaffinen Bewusstseinsstrukturen mit den egozentrischen, Trump-Anhänger*innen vermischt.
Den Vogel im Rüstungshandel schoss jedoch soeben der französische Präsident Emmanuel Macron ab: Frankreich hat am 3. Dezember 2021 mit der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate einen Rüstungsdeal über sage und schreibe mehr als 17 Milliarden (!) Euro abgeschlossen. Verkauft wurden 80 Kampfflugzeuge vom Typ „Rafale“, die schon im Libyen-Krieg Benghazi bombardierten, sowie weitere 12 Kampfhubschrauber „Caracal“. Der französische Elysée-Palast und Macron jubelten in einer Presseerklärung, das sei das „größte Militärgeschäft mit französischer Beteiligung in unserer Geschichte.“ (14)
Sowohl die Zunahme der Tötungen durch Waffengewalt in den USA als auch die Zunahme internationaler Waffenverkäufe zeigen, dass die kapitalistische Produktion der Mordmaschinen im militärisch-industriellen Komplex jenseits aller staatlichen Corona-Maßnahmen gegen den Einzelhandel, Schulen und Familien ohne Probleme und ungestört durch Produktionsstopps oder gesundheitspolitisch gravierende Auflagen weitergeführt werden konnte, was zu astronomischen Gewinnen der Rüstungsfirmen einerseits sowie zu einer Erhöhung der weltweiten Kriegsgefahr andererseits beigetragen hat.
Wieder Bundeswehreinsätze beim Ausfliegen von Corona-Kranken auf Intensivstationen
Während der letzten Corona-Infektionswelle hatten wir in der GWR 457 vom März 2021 gegen die Heranziehung von billigen Bundeswehrhelfer*innen in Impfzentren und bei Tests in Altenheimen protestiert. (15) Auch jetzt häufen sich wieder Meldungen über den praktischen und strategischen Einfluss der Militärs bei den gesundheitspolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung: Bundeswehr-Airbus-Maschinen fliegen seit dem ersten Adventssonntag (28. November 2021) Corona-Intensivpatient*innen aus Städten mit ausgelasteten Intensivstationen in Städte mit weniger belegten Intensivstationen ihrer Krankenhäuser aus, z. B. von München nach Hamburg oder aus Süddeutschland nach Münster. Der Corona-„Krisenstab“ der neuen Bundesregierung wird mit Bundeswehr-Generalmajor Carsten Breuer besetzt, der ohne jeden Nachweis gesundheitspolitischer oder gar medizinischer Eignung ist, aber trotzdem die Impfkampagne besser organisieren soll – eben generalstabsmäßig. Schon wieder sind 8.000 Soldat*innen im Einsatz bei der Betreuung von Corona-Patient*innen; 2.440 in den Gesundheitsämtern, 659 direkt beim Impfen, 707 als Hilfskräfte in Krankenhäusern und 398 in Alten- und Pflegeheimen. (16) Und wie schon im Frühjahr regt sich niemand unter den ganzen Corona-Maßnahmen-Protestierer*innen darüber auf. Niemand aus dieser Bewegung wagt es, die Sinnlosigkeit und das Scheitern der eigenen nationalistischen Armee (zuletzt in Afghanistan) als Kritik in den Mittelpunkt der Proteste zu stellen. Da würden sie von Rechten auf der Demo – zum Beispiel in Sachsen – aber auch schnell zum Schweigen gebracht werden.
Die Bundeswehr hat nicht nur die Afghanistan-Katastrophe nach 20 Jahren sinnlosem Kriegseinsatz von ihrem Image her und durch die völlig unzulänglichen, aber medial in Szene gesetzten Rettungsflüge für einige „Ortskräfte“ aus Kabul hervorragend überstanden. Sie kann sich außerdem erneut über Corona-Einsätze Legitimationsvorteile verschaffen. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht dann auch explizit die nachhaltige Förderung der Produktion von Kampfdrohnen. (17) Ohne künftigen antimilitaristischen Widerstand werden die Kriegsproduktion und damit die Vorbereitung neuer Kriege mit der Bundeswehr weitergehen, als hätte es die Pandemie nie gegeben.
(1) Hubert Wetzel: „Erschießen und erschossen werden“, in: Süddeutsche Zeitung, 14.10.2021, S. 3.
(2) Jan Pfaff: „Schüsse, Schuld und Sühne. ‚Shooting Epidemic‘ in den USA“, in: taz, 21.11.2021.
(3) Jan Pfaff, a. a. O. Auch die beiden Folgezitate stammen von Pfaff.
(4) Yanea, zit. nach Wetzel, a. a. O.
(5) Hubert Wetzel, a. a. O. Von seinem Artikel stammt auch das Zitat davor.
(6) Rasool, zit. nach Wetzel, a. a. O. Auch das Zitat davor stammt von Rasool, aus dem Artikel von Wetzel.
(7) Chris Rabb, zit. nach Pfaff, a. a. O. Auch das Zitat davor stammt von Rabb, zit. nach Pfaff, a. a. O.
(8) Kendra Van de Water, zit. nach Jan Pfaff, a. a. O.
(9) Vgl. Meldung im „Stern“ vom 22.10.2021; siehe: https://www.stern.de/lifestyle/leute/alec-baldwin--us-schauspieler-toetet-kamerafrau-bei-dreharbeiten-mit-schusswaffe--video--30854562.html.
(10) Nach dpa-Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 2.12.2021.
(11) Zum Drohnenkrieg als neuer westlicher Militärstrategie nach Afghanistan vgl. „Zukunft Drohnenkrieg statt Bodentruppen?“, in Graswurzelrevolution Nr. 463, November 2021, S. 1, 15.
(12) Reinhard Wolff: „Rüstungsgüter boomen. Bericht des Stockholmer Sipri-Instituts“, in taz-online vom 6.12.2021.
(13) Zur antimilitaristischen Kampagne gegen Rheinmetall bisher siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2019/04/rheinmetall-entruesten/.
(14) Macron, zit. nach: „Vente de 80 avions Rafale aux Émirtes, un record“, in: Tageszeitung La Provence, 4.12.2021, Innenteil, S. V.
(15) Vgl. „Der Krieg und das Virus“, in: Graswurzelrevolution Nr. 457, März 2021, S. 2.
(16) Vgl. Werbeseite des Deutschen Bundeswehr-Verbands: https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/corona-ticker/beitrag/4000-bundeswehr-kraefte-im-corona-einsatz-weitere-4000-stehen-bereit.
(17) Vgl. Meldung der ESUT (Website „Europäische Sicherheit & Technik“): https://esut.de/2021/11/meldungen/30978/ampelparteien-wollen-bewaffnete-drohnen-und-tornadonachfolgesystem-beschaffen/.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.