Blonde Dreadlocks, weißer HipHop, indigene Muster in unserer Kleidung: Rassistischer Diebstahl kultureller Errungenschaften oder legitime kulturelle Hybridität? Jens Kastner beleuchtet die vielschichtige Problematik kultureller Aneignung aus unterschiedlichen Perspektiven und zieht eine gemischte Bilanz. (GWR-Red.)
Kulturelle Aneignung, schreibt der marxistische Kunsttheoretiker Thomas Metscher in seinem aktuellen Buch „Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf“, bezeichne den „gesamten Transformationsvorgang, in dem sich Menschen […] die Wirklichkeit außer sich wie die Wirklichkeit, die sie selbst sind, durch selbstbestimmte Tätigkeit zu eigen machen“. (1) Metscher versteht kulturelle Aneignung als eine allgemeine und ganz grundlegende Praxis, in der es darum geht, die Welt menschlich zu gestalten. Was er nicht weiß oder was ihm egal ist: dass Begriff und Vorstellung von kultureller Aneignung in den politischen Debatten der letzten Jahre etwas völlig anderes meinten. Zwar geht es darin auch um Selbstbestimmung und Transformation. Aber um allen gemeinsame, allgemeine Fähigkeiten geht es gerade nicht.
Ausdruck und Anerkennung
Wenn zurzeit über kulturelle Aneignung diskutiert wird, geht es einerseits um politisch betrachtet oft recht läppisch wirkende Phänomene: um Dreadlocks oder Kunst, um Sushi oder Musik. Andererseits und damit verbunden geht es aber auch um Grundsätzliches: um Fragen der Macht und der Legitimation, um Herrschaftsverhältnisse und um radikalmoralistischen Aktivismus. An Beispielen wie der Frage, wer zum Tragen welcher Haartracht berechtigt ist, werden fundamentale Kämpfe darum geführt, wer Ausdrucksformen wie benutzen und wer Handlungen auf welche Weise ausführen darf oder dürfen können sollte. Dürfen weiße Menschen Dreadlocks tragen, obwohl die Frisur tatsächlich oder vermeintlich typisch für Schwarze Kultur ist? Darf eine weiße Künstlerin einen von Rassisten gelynchten Schwarzen Jugendlichen malen? (2) Warum sollten sie es nicht dürfen? Weil die Weißen sich im Fall der Haartracht mit Traditionen schmücken, die nicht die ihren sind, so das Argument. Oder weil im Falle der Malerin, so die Kritik, der künstlerische Ausdruck das Leid des Abgebildeten verdoppelt und nur der Künstlerin dient, die für das Bild möglicherweise auch noch Geld und Anerkennung bekommt. Beides, das Malen des Bildes und das Tragen der Dreadlocks, wird von Aktivist*innen, Künstler*innen und anderen Intellektuellen seit einiger Zeit als „kulturelle Aneignung“ bekämpft.
Herkunft und Herrschaft
Es ist nun ziemlich billig, sich die abstrusesten Beispiele dieser Kämpfe herauszugreifen, um zu zeigen, wie bescheuert die Vertreter*innen dieser Strömung letztlich alle sind. Das gilt genauso für die skurrilen Auswüchse, die Identitätspolitiken zuweilen annehmen. Auch sie zielen immer wieder darauf ab, einer irgendwie als Einheit gedachten Gruppe, einer kollektiven Identität, bestimmte Praktiken und Formensprachen vorbehalten zu wollen: bestimmte Räume nur für Frauen, spezielle Trachten nur für Indigene, Reggae nur für Schwarze. Es sind häufig tatsächlich essentialistische – also, kurz gesagt, eine Wesensverbindung zwischen Gruppe, Hautfarbe und Frisur oder Gruppe, Geschlecht und emotionaler Disposition usw. behauptende – Konzepte, die solchen Forderungen zugrunde liegen. Nicht selten kommen sie rechten Phantasien kultureller Reinheit bedenklich nahe. (3)
Entgegen aller Phantasien von Reinheit und Einheitlichkeit ist von der prinzipiellen Hybridität, also der grundsätzlichen Vermischtheit kultureller Praktiken auszugehen. Das wusste nicht zuletzt Greg Tate schon 1986, als er ein „post-nationalist black arts movement“ konstatierte: Die Einflüsse kamen aus Schwarzer Militanz, poststrukturalistischer Theorie, avantgardistischer Kunst – und vielem mehr. Diese Hybridisierungen gilt es auch zu verteidigen.
Und trotzdem: Spätestens der Applaus im bürgerlichen Feuilleton dafür, den Kampf gegen kulturelle Aneignung ins Lächerliche zu ziehen, sollte stutzig machen. Diese unfreiwillige Allianz mit der bürgerlichen Mitte in der Ablehnung der Kritik an kultureller Aneignung sollte zu der Frage anstiften, woher diese Kämpfe eigentlich kommen und, das Wort Herrschaftsverhältnisse ist schon gefallen, was mit ihnen auch in emanzipatorischer Hinsicht möglicherweise gewonnen werden kann.
Bürden und Bräuche
Die einfachste Formel, mit der die prinzipielle Legitimität der Kritik an kultureller Aneignung deutlich gemacht werden kann, findet sich im Titel eines Buches. Sie lautet: „everything but the burden“. (4) Der vom kürzlich verstorbenen Kulturwissenschaftler und Journalisten Greg Tate herausgegebene Sammelband geht der Frage nach, was weiße Akteur*innen von kulturellen Praktiken, die ursprünglich in Schwarzen Communities der USA entwickelt und gelebt worden sind, übernommen haben. Alles außer der Bürde, in einer weiß dominierten Gesellschaft Schwarz zu sein, ist die Antwort. Jazz und HipHop, Sprinttechniken und Dichtkunst, Humor und basisdemokratische Mobilisierungsformen in sozialen Bewegungen – aus allen Bereichen Schwarzen Schaffens haben weiße Menschen geschöpft, um ihr eigenes Ansehen und ihren eigenen Besitz aufzuwerten. Wenn auch der Rassismus nicht mehr der gleiche ist wie noch in den 1960er-Jahren, die auf rassifizierten Zuschreibungen basierende soziale Ungleichheit ist geblieben. Diese Ungerechtigkeit, alles an kulturellen Bräuchen und sozialen Errungenschaften genommen zu haben, ohne jenen, denen es zugestanden hätte, etwas zu geben, ist der Ursprung der Kritik an kultureller Aneignung.
Rastas und Reinheit
Hier beginnen aber dann schon die Fragwürdigkeiten. Denn Kultur im engeren Sinne von künstlerischem Gestalten ebenso wie in einem weiteren Verständnis von alltäglichen Gewohnheiten ist erstens immer schon eine Mischung. Und zweitens gehört sie niemandem. Der ach so typisch britische Fünfuhrtee ist, wie der Cultural-Studies-Theoretiker Stuart Hall einst schrieb, ohne den Tee aus Indien und den Zucker aus der Karibik gar nicht existent. Zwar ist der Blues auf den Plantagen der US-amerikanischen Südstaaten entstanden. Aber weder ist er ohne westafrikanische Vorläufergesänge zu verstehen, noch lieben alle Schwarzen diese Musik. Dreadlocks sind die bevorzugte Haartracht der Rastafarians, einer vor allem auf Jamaika beliebten christlichen Sekte und sozialen Bewegung, die den letzten Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie (1892–1975), für den wiederauferstandenen Messias hält. Wieso sollte diese Frisur irgendetwas mit Schwarzen an sich zu tun haben, zumal sie auch von indischen Mönchen, den Sadhus, getragen wird?
Entgegen aller Phantasien von Reinheit und Einheitlichkeit ist von der prinzipiellen Hybridität, also der grundsätzlichen Vermischtheit kultureller Praktiken auszugehen. Das wusste nicht zuletzt Greg Tate schon 1986, als er ein „post-nationalist black arts movement“ (5) konstatierte: Die Einflüsse kamen von Malcolm X ebenso wie von Julia Kristeva und Kurt Schwitters, also aus Schwarzer Militanz, poststrukturalistischer Theorie, avantgardistischer Kunst – und vielem mehr. Diese Hybridisierungen gilt es auch zu verteidigen.
Krawall und Karneval
Die Fragen des Ursprungs kultureller Zeichen sind genauso schwierig zu beantworten, wie deren Aneignungen vielfältig sind. Deshalb sollte differenziert werden. So ist etwa die Haartracht-Anleihe bei den Irokesen durch die Punks etwas völlig anderes als die ungefragte Verwendung von Textilien und Mustern durch transnationale Modekonzerne, die Angehörige verschiedener Maya-Gruppen in Mexiko und Guatemala beklagen. (6)
Aber es müssen nicht mal Konzerne sein, auch hegemonialer und subkultureller Alltag können sich in Absicht und Effekt stark unterscheiden. In den 1970er-Jahren entstanden in der linksradikalen Szene in Italien, aber auch im Kontext der Spontis im deutschsprachigen Raum so genannte Stadtindianer. Gegen die Fortschrittsideologie und die kapitalistische Fabrikgesellschaft wollten sie ein militantes Gegenmodell radikalen, naturverbundenen Lebens entwickeln und griffen dabei auf Traditionen der amerikanischen Indigenen zurück. Das ist rückblickend betrachtet vielleicht etwas albern und naiv, es ist aber definitiv etwas anderes, als zu Karneval ein „Indianer“-Kostüm zu tragen. Der versuchte subkulturelle Ausbruch aus der Dominanzgesellschaft sollte vom folkloristischen Aufgreifen doch unterschieden werden.
Sicher, geschätzte 99 Prozent all derer, die ihre Kinder zu Fasching als Winnetou verkleiden, meinen es nicht böse. Aber die Intention ist nicht allein entscheidend. So wie man nicht überzeugend behaupten kann, „Hey, ich benutze dieses Hakenkreuz nur als Sonnensymbol!“, so lassen sich auch andere Zeichen nicht mehr aus der Geschichte ihres Gebrauchs herauslösen. Das Kostüm steht in einer langen Kette des Zeichengebrauchs, in dem die autochthone Bevölkerung der Amerikas herabgewürdigt wurde. Das Gleiche gilt für schwarz angemalte Gesichter, so genanntes Blackfacing. Auch die stehen in einer übel rassistischen Tradition, nämlich jener der Minstrel-Shows, in denen im 19. Jahrhundert weiße Darsteller*innen Schwarze lächerlich machten.
Position und Privileg
Es ist nicht einzusehen, warum man vor diesem Hintergrund und bei unendlichen Verkleidungsmöglichkeiten am „Indianer“-Kostüm festhalten sollte. Gleichzeitig wünschte man sich hin und wieder etwas mehr Differenzierungsvermögen und etwas mehr Gelassenheit in der Auseinandersetzung. Wir sollten die Fotos von den Rosenmontagszügen der 1970er- und 1980er-Jahre nicht aus unseren Alben reißen müssen. Zugleich sollte die Betroffenheit von Leiden nicht zur Voraussetzung dafür erklärt werden, es thematisieren zu dürfen. Auch Weiße können und sollten über Rassismus sprechen. Die solidarische Frage „Was hat das mit mir zu tun?“ darf nicht auf die Frage „Hat das was mit mir zu tun?“ reduziert werden, die nur noch die imaginäre Gruppe betrifft, der die*der Einzelne zugeschrieben wird. Denn Solidarität mit anderen wird dann unmöglich.
Zugleich sei daran erinnert, dass es trotz allen Geredes um Cancel Culture hier nicht um Sprech- und Zeichenverbote geht. Ein Verbot kann nur verhängen, wer die dazu verliehene Macht und die institutionellen Mittel hat. Über die verfügen jene, die kulturelle Aneignung kritisieren, in den allerwenigsten Fällen. Sie handeln, und das zu sehen sollte doch das Mindeste für Linke und Anarchist*innen sein, aus einer minoritären Position heraus. Dass die eingangs geschilderte Begriffsverwendung kultureller Aneignung durch den marxistischen Kunsttheoretiker von all den hitzigen Kämpfen und Debatten nichts weiß oder nichts wissen will, ist vielleicht auch Ausdruck des Privilegs eines alten weißen Mannes – Metscher ist Jahrgang 1934 –, der es nicht nötig hat, sich diesen Fragen zu widmen. In anderen gesellschaftlichen Positionen sind sie unumgänglich.
(1) Thomas Metscher: Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf. Kassel: Mangroven Verlag 2020, 2. Aufl., S. 141.
(2) Das Gemälde „Open Casket“ („Offener Sarg“) der weißen Künstlerin Dana Schutz, das 2017 auf der Whitney Biennale ausgestellt wurde, hatte Diskussionen weit über das Kunstfeld hinaus ausgelöst, vgl. Julia Pelta Feldman: „Über Kunst, Zensur und Zerstörung. Das Bild muss weg“, in: Deutschlandfunk, 01.10.2017, https://www.deutschlandfunk.de/
ueber-kunst-zensur-und-zerstoerung-das-bild-muss-weg-100.html
(3) Ausführlicher zur Kritik: Jens Kastner: „Comandante Brus Li isst Sushi. Gegen die Re-Essentialisierung von Ausdrucks- und Protestformen“. In: GWR 413, November 2016, S. 6-7.
(4) Greg Tate (Hg.): Everything but the Burden. What White People are Taking from Black Culture. New York: Harlem Moon/ Broadway Books 2003.
(5) Greg Tate: „Cult-Nats Meet Freaky-Deke. The coming age of the post-nationalist black aesthetic“ [1986]. In: The Village Voice, 9.12.1986, https://www.villagevoice.com/2020/01/10/cult-nats-meet-freaky-deke/
(6) https://igbildendekunst.at/bildpunkt_/
textilien-werden-nicht-wertgeschaetzt/