Buchbesprechung

Anarchistische Geographie(n)

Eine Bestandsaufnahme zum Stand der Forschung

| Maurice Schuhmann

germaine f. spoerri / Ferdinand Stenglein (Hg.): anarchistische geographien, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2021, 301 Seiten, 30,00 Euro, ISBN: 978-3896910691

Geographie ist seit jeher ein wichtiges Thema innerhalb des anarchistischen Theoriegebildes. Auf der einen Seite waren sowohl der russische Anarchokommunist Peter Kropotkin als auch der französische Anarchist Élisée Reclus renommierte Geographen, deren Bedeutung über den anarchistischen Kosmos hinausreichte, auf der anderen Seite legte der Individualanarchist Walther Borgius in seiner Schrift „Die Schule. Ein Frevel an der Jugend“ (1930) einen besonderen Fokus auf die Untersuchung des politisch-ideologischen Gehalts des Geographieunterrichts. In den letzten Jahren lässt sich auch eine Renaissance der Beschäftigung mit Geographie aus anarchistischer Perspektive – gerade im angelsächsischen Raum – feststellen. In Deutschland fristet jenes Thema nach wie vor ein Schattendasein. Umso spannender ist es, sich den vorliegenden Sammelband anzuschauen. Bereits an der unterschiedlichen Ausrichtung und Verortung der beiden Herausgeber*innen lässt sich das Spannungsverhältnis des Bandes erkennen. Während germaine f. spoerri einen eher subkulturellen, anti-akademischen Fokus präferiert, möchte sich Ferdinand Stenglein im akademischen Bereich ansiedeln und einen Beitrag zur Anarchismusforschung leisten. Sie legen in der Form eines von Dina Bolokan moderierten Gesprächs ihre Zugänge dar. Ferdinand bringt die Positionen gut auf den Punkt, wenn er sagt: „Ich habe durchaus den Anspruch, dass er [der Sammelband] gewissen akademischen Gepflogenheiten entspricht und aktuelle akademisch-geographische Diskurse aufgreift. germaine, du möchtest dich nicht für die Institution, für die Akademie verbiegen und hast gut begründete Überzeugungen, die mit diesem Anspruch [der Wissenschaftlichkeit] im Konflikt stehen“ (S. 10f.). Außer dem Interview und der gemeinsamen Einleitung findet sich leider kein eigenständiger Beitrag von germaine im vorliegenden Sammelband. Nach den Ausführungen im Interview von germaine wäre dies sicherlich spannend gewesen.

Weder Fisch noch Fleisch

So löblich die daraus folgende Spannbreite von Beiträgen auch ist, so sehr leidet aber auch die Qualität darunter. Liest man den Sammelband aus Szenesicht, ist die Hälfte plump als „akademische Nabelschau“ abzuwerten; umgekehrt wirkt vieles aus akademischer Sicht wie „unausgegorener Szenemief“. Um eine häufig herangezogene Metapher zu benutzen – es ist weder Fisch noch Fleisch. Es gelingt den Herausgeber*innen leider nicht, den Balanceakt zwischen beiden Fraktionen adäquat hinzubekommen. Vereinzelt verwischt auch die Grenze zu anderen Zugängen zur Geographie – sei es aus einer queer-feministischen oder postkolonialen Perspektive –, wobei die Einbindung in einen anarchistischen Diskurs teilweise unterbleibt bzw. lediglich oberflächlich ist. In insgesamt 13 inhaltlichen Beiträgen, die sich unter die vier Kategorien „Positionen“, „Kämpfe um autonome Geographien“, „Rebellische Lernprozesse“ und „(Anti-)Genealogien“ aufgeteilt finden, werden sehr unterschiedliche Aspekte der (anarchistischen) Geographie aufgegriffen. Vor diesem Hintergrund möchte ich nur auf einzelne Beiträge eingehen, die mir als besonders relevant bzw. für den anarchistischen Diskurs als innovativ auffielen.

Große Spannbreite

Der erste Beitrag ist „‚Listen, radical geographer!‘: Soziale Kämpfe, Anarchismus und Geographie in Bewegung“ von Timo Bartholl. In dem vom Titel an einen Text Murray Bookchins angelehnten Aufsatz lotet er das „wünschenswerte Verhältnis von Geographie und Anarchismus“ (S. 58) aus. Dabei bezieht er sich auf seine Forschungserfahrungen in Rio de Janeiro (vgl. S. 59). Weiterhin von Interesse ist der Beitrag „The Roots of Radical Geography? Oder: Reclus und Kropotkin ernst nehmen“ von Pascale Siegrist. Sie zeichnet darin u. a. ein Stück weit die Rückbesinnung auf anarchistische Wurzeln, namentlich Kropotkin und Reclus, innerhalb der Radical Geography nach. Dabei stellt sie auch einzelne Aspekte ihres Denkens vor. Beide Beiträge gehören zur Fraktion der akademischen Beiträge. Die eher dem Bewegungssegment zuordenbaren Beiträge haben mich weniger überzeugt. Eine Reflexion z. B. über ein selbstorganisiertes Uniseminar habe ich schon in sehr vielen Kontexten gelesen, und da fehlt mir dann doch die fachspezifische Ausrichtung bzw. eine wirklich neue Erkenntnis oder Perspektive, die zu den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens gehört. Insgesamt ist dieser Sammelband sicherlich eine gute Bestandsaufnahme des deutschsprachigen Diskurses – mit all seinen Schwächen, auch wenn man einige Namen wie den von Simon Runkel als Beiträger*innen vermisst. Nach meinem Geschmack hätte es sich allerdings für beide Fraktionen besser gemacht, hätte man sie klar voneinander getrennt. Viele Beiträge habe ich beim ersten Lesen nach ein paar Zeilen erst einmal übersprungen, weil sie mir für das von mir als Leser erwartete Themenfeld völlig irrelevant erschienen. Manches hätte ich eher in einem Szenebuch erwartet (z. B. der Beitrag von #besetzen über Polizeirepressalien gegen das besetzte ZAD-Gelände oder über selbstorganisierte Uniseminare), anderes hat man bereits gefühlt tausendmal gelesen bzw. fehlt ein direkter Bezug zum Metier (beispielsweise Jonathan Eibisch mit seinem Ansatz zu Postanarchismus, den GWR-Leser*innen auch bereits aus Beiträgen kennen). Vor diesem Hintergrund droht manch ein sehr guter und wichtiger Beitrag zwischen den anderen Artikeln unterzugehen. Insgesamt würde ich jenen Sammelband nur unter Vorbehalt zur Anschaffung empfehlen. Persönlich hätte ich mir einiges mehr davon erhofft.