Buchbesprechung

Dem Rassismus den Spiegel vorhalten

Wie antimuslimische Ausgrenzung Privilegien und Ungleichheit aufrechterhält

| Tinet Elmgren

Anna Sabel, Özcan Karadeniz, Verband binationaler Familien und Partnerschaften (Hg.): Die Erfindung des muslimischen Anderen: 20 Fragen und Antworten, die nichts über Muslimischsein verraten, mit Illustrationen von Morteza Rakhtala, Unrast Verlag, Münster 2021, 136 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-89771-336-9

Bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 setzte sich Helmut Kohl zum Ziel, die Zahl der Türk_innen in Deutschland zu halbieren, wie das Protokoll eines Gesprächs mit Margaret Thatcher verrät, das 2013 nach Ablauf der Geheimhaltungsfrist öffentlich zugänglich wurde. Denn, so Kohl, „die Türken kämen aus einer sehr andersartigen Kultur“. Die Bundesregierung versuchte diesen Plan mit einer „Rückkehrprämie“ umzusetzen, aber viel weniger Türk_innen als von der Regierung erhofft nutzten die Prämie. Als meine Familie kurz nach der Wiedervereinigung nach Deutschland zog (und gleich von den Nachrichten über die Anschläge in Solingen und Mölln willkommen geheißen wurde), machten auch wir offenbar Kohl einen Strich durch die Rechnung. Das und so manch anderes Interessantes über Deutschland habe ich aus der Essaysammlung „Die Erfindung des muslimischen Anderen“ gelernt.

Rassismus als Machtinstrument

Es ist ein kleines, aber feines Buch, das in fünf Kapiteln zu übergeordneten Themen 27 kurze Essays sammelt. Jedes Kapitel wird eingeleitet von mehreren Seiten mit sehr schönen Illustrationen von Morteza Rakhtala und kurzen Texten, die das Thema zusammenfassen.
Wie die Umschlagillustration mit einer Person, die vor ihrem Gesicht einen der_dem Betrachter_in zugewandten Spiegel hält, nahelegt, geht es in dem Buch darum, wie die Vorstellung vom „muslimischen Anderen“ in Deutschland hergestellt wird und welche wichtigen Funktionen dieses „Andere“ für die deutsche nationale Identität und die Aufrechterhaltung des herrschenden Systems trägt.
Özcan Karadeniz erklärt in mehreren Beiträgen, wie Rassismus ein Instrument ist, das Macht ausübt und Ordnung aufrechterhält. Er lässt gesellschaftliche Machtverhältnisse mit ihren Hierarchien, Ausgrenzungen und der ungleichen Verteilung von Ressourcen berechtigt erscheinen und hält sie dadurch stabil. Der Rassismus lässt sich leicht ignorieren oder wegprojizieren auf „Buhmänner“ (wie „ungebildete Prolls“, „antisemitische Moslems“ oder „Nazi-Ostdeutsche“), weil er in das normale Funktionieren der Gesellschaft eingespeist ist und eben dadurch schwer zu erkennen ist. Für die Aufrechterhaltung von systemischen Vorteilen ist es auch grundlegend, dass die Machtverhältnisse unsichtbar bleiben. Die Vorteile werden gerechtfertigt durch künstliches Gegenüberstellen mit dem Fantasiebild des „Anderen“, dem negative, unerwünschte Eigenschaften zugeschrieben werden. Dadurch entsteht ein positives Bild des eigenen Selbst, dem „selbstverständlich“ Vorteile zustehen, die dem „Anderen“ nicht zustehen.

Grundlage kapitalistischer Ausbeutung

Rassismus ist auch ein grundlegendes Element der kapitalistischen Ordnung, wie Anna Sabel in einem Beitrag zu „Gastarbeiter_innen“ beschreibt. Der Rassismus rechtfertigt niedrigeren Lohn für die gleiche Arbeit und schlechtere Arbeitsbedingungen und spaltet die Arbeiter_innenklasse, so dass sie weniger fähig ist, sich für ihre kollektiven Interessen einzusetzen. So minimiert der Rassismus die Kosten der Produktion bzw. die Lohnkosten wie auch die Kosten, die durch Streiks, Arbeitskonflikte usw. entstehen.
Dass der Rassismus für die Gesellschaftsordnung notwendige Hierarchien aufrechterhält, wird auch dadurch deutlich, dass das etablierte „Integrationsparadigma“ (dass die Migrant_innen sich doch bitte integrieren sollen, dann würden sie ja auch akzeptiert werden!) eigentlich völlig verlogen ist, wie Naika Foroutan in ihrem Beitrag im letzten Kapitel schreibt. Umfragen machen deutlich, dass Migrationsfeindlichkeit bzw. Islamfeindlichkeit offenbar zunimmt, je mehr Migrant_innen und Muslim_innen sich emanzipieren und integrieren. Integration und Aufstieg von Minderheiten ändern nichts an der stereotypen Wahrnehmung, sondern werden als „Statusbedrohung“ gesehen. In der rassistischen Hierarchieordnung steht es ihnen ja gar nicht zu, aus ihrer untergeordneten Position aufzusteigen. Foroutan spekuliert, dass die von Minderheiten geforderte Anerkennung etablierte Privilegien infrage stellen und durch Stereotype aufrechterhaltene Ungleichheit deutlich werden lassen würde. Historisch gesehen muss aber, wenn der Aufstieg und die Integration einer Gruppe nicht mehr aufgehalten werden können, einfach nur eine andere Gruppe her, die weiter marginalisiert wird, während die zuvor ausgegrenzte Gruppe in einem kaum wahrnehmbaren Prozess in die privilegierte Schicht einverleibt wird. Anna Sabel erwähnt in ihrem oben genannten Beitrag, wie Italiener_innen und Spanier_innen noch vor wenigen Jahrzehnten in der BRD der Zutritt zu vielen Lokalen wie auch Mietverträge verwehrt wurden. Mittlerweile werden andere Gruppen an ihrer Stelle auf dieser Art diskriminiert. Das rassistische System übt stets eine Hierarchisierung von Gruppen unterschiedlicher Herkunft aus – nicht nur um die Ausgegrenzten unter sich zu spalten, sondern auch, damit bei Bedarf immer eine Gruppe von „Anderen“ zur Verfügung steht.

Nicht nur inszenierte Vorurteile

Die schwächsten Beiträge in diesem Buch sind einige der Texte von Anna Sabel, in denen sie im besten Fall sich selbst als „durchschnittlich vorurteilsbehaftete Deutsche“ inszeniert, damit die als ethnisch deutsch vorgestellten Leser_innen, denen eben die von der Autorin präsentierten Einstellungen und Kniereflexe unterstellt werden, sich mit ihr identifizieren können, nehme ich an. Nicht nur inszenierte Vorurteile richtet Sabel nebenbei gesagt auch gegen Sachsen bzw. Ostdeutsche allgemein. In einem Buch, das sich insgesamt mit der Konstruktion und Funktion des „Anderen“ im Rahmen eines Herrschaftssystems beschäftigt und dies in vielen Beiträgen auch sehr deutlich erklärt, ist das schon fast unfreiwilliger Humor.
Die schwächeren Beiträge sollen aber nicht die vielen sehr guten und anregenden Texte überschatten. Das Buch als Ganzes ist ein wichtiger und recht leicht zugänglicher Beitrag zum Thema des antimuslimischen Rassismus in Deutschland.