Buchbesprechung

Der Kibbuz: Zwei Realitäten

Zwischen libertärer Utopie und Unterdrückung nach außen

| Horst Blume

James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021, 259 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-939045-46-5

Die meisten Menschen bringen den Kibbuz mit dem 1948 gegründeten Staat Israel in Verbindung. Über die nichtstaatliche 40-jährige Vorgeschichte der Kommunen ist in der Regel wenig bekannt. Hier setzt das Buch „Gelebte Revolution“ an und berichtet ausführlich über die Anfänge dieser emanzipatorischen Bewegung, ihre deutlichen Bezüge zum Anarchismus und später ihre Einbindung in autoritär-bürokratische Machtstrukturen von zentralistischen Institutionen und Staat.
Von 1880 bis 1923 wurden durch verschiedene Pogrome und ethnische Säuberungen erst hunderte, dann tausende und später sogar hunderttausende jüdische Menschen in Russland und Polen ermordet; eine halbe Million wurde obdachlos. Dies führte zu mehreren Flucht- und Einwanderungswellen nach Palästina, das zu dieser Zeit eine Provinz des Osmanischen Reiches war. Der von Theodor Herzl 1897 gegründete Zionistische Weltbund propagierte die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden.

Vision von sozialistischen Gemeinschaften

James Horrox stellt im ersten Teil seines Buches dar, wie ein vielfältiges Netzwerk von Organisationen und Einzelpersonen in Osteuropa und Deutschland aus der Not heraus, der antisemitischen Verfolgung und Diskriminierung zu entgehen, die Vision von sozialistischen Gemeinschaften in Palästina entwickelte. Eine besondere Rolle spielte Gustav Landauer, dessen „Aufruf zum Sozialismus“ in der jüdischen Wandervogel- und Jugendbewegung auf fruchtbaren Boden fiel. Auch die ArbeiterInnen- und PfadfinderInnenbewegung diskutierte diese Utopie von einer Föderation von Kommunen intensiv. Unterstützt und befeuert wurde sie ebenfalls von Peter Kropotkin, Leo Tolstoi und Martin Buber, der Landauers Impulse nach dessen Ermordung 1919 weitertrug. Es ist sehr spannend zu lesen, wie aus den ersten Zeltlagern der Jugendbewegung auf den Hügeln am See Genezareth eine dynamische Bewegung für eine neue Gesellschaft entstand.
Doch neben der harten Arbeit auf dem Land warteten auch herbe Enttäuschungen auf die Neuankömmlinge. 1910 waren die jungen MigrantInnen entsetzt, dass es beispielsweise in dem Betrieb Rishon Le-Zion ausbeuterische Verhältnisse in Form von jüdischen Aufsehern und hierarchischen Managerstrukturen gab, die ihren egalitären Bestrebungen diametral entgegenstanden. Dies führte zu Streikaktionen und zur Gründung von neuen Siedlungen, die sich auf genossenschaftlicher Basis selbst regierten und sich rasch ausbreiteten.
Ausführlich und mithilfe vieler Beispiele geht Horrox auf ihre Entstehung und die damit verbundenen weltanschaulichen Diskussionen der GründerInnen bei der praktischen Umsetzung ein. Ebenfalls beschreibt und analysiert er die gesamte Bandbreite, die die Organisations- und Lebensform Kibbuz ausgemacht hat: Gemeinsames Eigentum an den Produktionsmitteln, kein individuelles Einkommen, Ablehnung von Hierarchien und Zwang, direkte Demokratie von Angesicht zu Angesicht, gemeinsame Kindererziehung, aktive Beteiligung der Mitglieder an Entscheidungsprozessen, aber später eben auch Bürokratisierungstendenzen, Sozialkontrolle und Konformitätsdruck.
Leider erfährt mensch relativ wenig von Horrox, wie sich die Beziehungen zu den palästinensischen NachbarInnen entwickelt haben. Beide Ökonomien seien „im Wesentlichen miteinander verschachtelt“ (S. 127), schreibt er. Aber wie sich in den ersten zwei Jahrzehnten die im Binnenverhältnis so sehr um Gerechtigkeit bemühten Kibbuzniks gegenüber der ansässigen palästinensischen Bevölkerung konkret verhalten haben, führt er nicht näher aus. Horrox verweist darauf, dass Landauer gegenüber dem politischen Zionismus zutiefst misstrauisch blieb und Bestrebungen, einen jüdischen Staat zu schaffen, ablehnte. Auch wenn Landauer und Kropotkin schon 1919 bzw. 1921 gestorben sind, kann ich nicht erkennen, wo sie sich jenseits wohlmeinender abstrakt-theoretischer Postulate wirklich intensiv damit auseinandergesetzt haben, was es konkret für die einheimische palästinensische Bevölkerung bedeutet, wenn eine immer stärker werdende jüdische Besiedlung sie langsam, aber absehbar verdrängt.

Kritischer Blick auf wichtige AkteurInnen

Horrox steht den verschiedenen AkteurInnen der Kibbuzbewegung durchaus kritisch gegenüber. Er stellt unter anderem dar, wie sich an der Einschätzung von Aharon David Gordon (1856–1922) die Geister scheiden. Während die einen in ihm einen Vorläufer des Öko-Anarchismus sehen, beschreiben ihn andere als „nahezu faschistische Figur“. Horrox selbst ordnet Gordon folgendermaßen ein: „Die Überlappung von Romantizismus, völkischem Nationalismus, Anti-Kapitalismus, einem säkularen Spiritualismus und eine Mystifizierung vom ‚Land’ als Quelle der Kreativität, die Gordons Denken prägte, war besonders für Landauers Denken zentral – eine Überschneidung übrigens, die Gordon selbst bestätigte.“ (S. 47)
Keinem Geringeren als dem späteren Premierminister David Ben-Gurion wirft Horrox vor, bereits 1923 eine „groß angelegte Form des Verrats“ (S. 127) während der Zeit der Britischen Mandatsverwaltung begangen zu haben. Er versuchte, die verschiedenen Kibbuzim zu einer zentralisierten Machtbasis mit straff organisierten Institutionen zu machen, um die Finanzflüsse der Zionistischen Weltorganisation unter seine Kontrolle zu bringen, und schnitt rücksichtslos unbotmäßige Kibbuzim von Unterstützungsgeldern ab, was teilweise dort zu Unterernährung führte.
Während idealistische Jugendliche und andere MigrantInnen Kollektive aufbauten, „agierten jedoch die Institutionen des politischen Zionismus im Hintergrund, kauften Land auf und schweißten diplomatische Beziehungen mit der britischen Regierung“, sodass letztendlich die Unabhängigkeit nicht aus dem „kollektiven Willen“ der KommunardInnen entstand, sondern mithilfe der Vereinten Nationen. Horrox spricht in diesem Zusammenhang von „Bauernfiguren auf einem Schachbrett der westlichen Staaten und ihren außenpolitischen Strategien“ (S. 132) und betont, dass aus diesem Grund „die koloniale Dimension des Zionismus letztlich den Sargnagel für die ursprüngliche Gesellschaftsvision der frühen Kibbuzpionier*innen darstellte.“ (S. 132)

Innere politische Konflikte und Niedergang

Bereits in den 1930er-Jahren sind nach Horrox kritische Mitglieder aus den Kibbuzim ausgeschlossen worden, weil sie sich gegen den beginnenden „inhärenten Rassismus“ gegenüber PalästinenserInnen aussprachen. Jahre später näherten sich die Ansichten der Kibbuzniks durch die Integration der Genossenschaften in den Staat konventionellen sozialdemokratischen Positionen an. Ab 1977 leitete die erste rechte Regierung Israels einen weiteren ökonomischen Wandel ein. Durch Privatisierung, Kürzung der Gelder für den öffentlichen Sektor, Marktöffnung und neoliberale Globalisierung gerieten die Kibbuzim unter Druck, gaben den letzten Rest ihrer Ideale auf und spielten eine immer kleiner werdende Rolle in Israel.
Es gibt zusätzlich sehr zu denken, dass die führenden Köpfe der Armee und ihre „berühmt-berüchtigtsten“ Krieger während der ersten 30 Jahre des israelischen Staates aus den Kibbuzim stammten. Ob allerdings die wirtschaftlichen Verbindungen mit dem Staat und die Tendenz zum Konformismus in der Gemeinschaft die einzigen Ursachen hierfür sind, wäre sicherlich eine weitere Untersuchung wert.

Bezugspunkte für heute

Für die heute aktiven AnarchistInnen gehören die Kibbuzim zum Establishment und werden wegen ihrer Rolle bei der Unterdrückung der PalästinenserInnen abgelehnt. Horrox bewertet diese Haltung folgendermaßen: „Die Kibbuzim werden von den heutigen israelischen Anarchist*innen nicht nach dem beurteilt, was sie waren, sondern nach dem, was aus ihnen geworden ist.“ (S. 170) Er bedauert sehr, dass sie sich nicht darauf einlassen können, Lehren aus dem umfangreichen Fundus von Erfahrungen zu ziehen, und sich weigern, zwischen einem funktionierenden libertären Gesellschaftsmodell und der Vertreibung und Unterdrückung der PalästinenserInnen zu differenzieren. Er selbst hat kein Problem damit, diese beiden unterschiedlichen Realitäten anzuerkennen, damit nicht „ein ganzes Stück Sozialforschung vor die Tür gesetzt“ (S. 194) wird. Die Kibbuzim sind seiner Meinung nach mit ihrer über hundertjährigen Geschichte nicht nur ein einzigartiges, sondern auch das dauerhafteste libertäre Gesellschaftsexperiment überhaupt.
Horrox schöpft aber auch Hoffnung, weil in den letzten Jahren kleinere Kommunen in Israel entstanden sind, die den ursprünglichen libertären Impuls der Kibbuzzim wieder aufnehmen und unter veränderten Bedingungen weiterentwickeln, indem sie mit den Ideen der partizipatorischen Ökonomie (Parecon) experimentieren.
Dieses spannende Buch bietet eine Fülle von wertvollen neuen Informationen und Sichtweisen, die in manchen Fällen irritieren können, auch Fragen aufwerfen und ganz sicher für interessante Diskussionen sorgen werden.

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