Ewart Reder: Die hinteren Kapitel der Berührung. Gedichte, Pop Verlag, Ludwigsburg 2021, 201 Seiten, 18,50 Euro, ISBN 978-3-86356-326-4
In dem Gedichtband „Die hinteren Kapitel der Berührung“ von Ewart Reder wird ein breites Feld von Themen behandelt, die in acht Kapiteln einsortiert sind. Es gibt je ein Kapitel zu eigenen Erinnerungen, zu Liebeserfahrungen, zu Gewässern, zu Räumen bzw. zwei zur (Bildenden) Kunst etc. Dem Autor geht es bei diesen Gedichten um das Befreiungspotenzial von Poesie. Also darum, durch Gedichte, durch ungewohnte Herangehensweisen, Überlegungen oder Sätze bzw. Wörter und deren Kontext den/die Leser/in zum Nachdenken anzuregen und damit eventuell Denkmuster bei ihm oder ihr zu verändern.
„Schwarzer Stern der Anarchie“
Das Thema Anarchie/Anarchismus wird sogar an zwei Stellen explizit angesprochen. In dem Gedicht „Rheinbegradigung“ heißt es: „Heine hole ich vom Felsen für ein Kaddisch am / Niederwalddenkmal: zwei Anarchisten die / für eine Ladung Dynamit am Siegersteinsockel / die nass wurde an Deutschlands Fluss nicht / Deutschlands Grenze aufgehängt wurden zum Trocknen“ (S. 26). Und in „Gegen Integration“: „Schwarzer Stern der Anarchie du stehst / über dem einzigen Zelt das wir als Wanderer / mitbewohnen“ (S. 34). Auch Herrschaft wird hinterfragt, wenn es heißt: „Wozu dienen / was keinen Herrn hat? / Herren wollen / wir nicht sein – nicht was sie wollen / müssen. Wir entlassen die bunten Götter / in den Dienst der Seeleute und Juweliere“ (S. 79). Oder zum Beispiel: „(auch ohne Monarchie. // Königstochter habe ich nur gesagt / weil ihr Vater königlich stolz ist // auf ihre Gelenkigkeit.)“ (S. 39). Einen gewissen Witz kann man darin ebenfalls spüren. Das Eingehen auf gesellschaftlich-politische Aspekte durchzieht den ganzen Gedichtband. Unsere Einstufung von und unser Umgang mit Geflüchteten wird zum Beispiel durch folgende Gedichtzeilen kritisch hinterfragt: „Es geht ums Prinzip wenn du das anerkennst sind Ausnahmen nützlich wie / Ausländer für Länder wenn die das Erstunterscheidende sind zwischenmenschlich“ (S. 12) und „Ich weiß nicht was alle gegen Flüchtlinge haben / da wo es Spaß macht treffe ich nie einen“ (S. 32). Zur Einschätzung der gesellschaftlichen Wertschätzung von Kunst heißt es zynisch: „Die Kunst ist tot / erste Zielvereinbarung / mit den Hungernden“ (S. 183). Das Arbeitsleben ist ebenfalls immer wieder Thema einzelner Gedichte: „Zwei Gedichte streiten sich ob die Arbeit / existiert und warum die Menschen an sie glauben“ (S. 51) oder „Selbständige können abhängig / Beschäftigte beschäftigen. Nicht verstehen“ (S. 126).
Wörter als Vermittler
Auch Sprache selbst wird in den Gedichten immer wieder kritisch hinterfragt, ob Wörter nämlich nur für Ideen stehen oder ob sie auch einen Sinn ergeben (können). Wörter werden dabei als Vermittler zwischen reinen Ideen und der Wirklichkeit aufgefasst (also schon mit Sinn beladen). Über die Gedichtzeilen „Ich bin / für meine Einfälle / was der Wannsee für Kleist / war sie sterben / an mir / immer zu zweit“ (S. 58) muss man erst einmal ein wenig nachdenken und auch berücksichtigen, dass Heinrich von Kleist zusammen mit Henriette Vogel am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee Suizid begangen hat. Auch die teils quälende Wartezeit eines/r (jeden) Schriftstellers/in, bis der Schreibfluss endlich zu fließen beginnt, wird in eine Gedichtform gepackt: „Die Tage / verbringe ich auf der Holzbank / des Wörter-Wartezimmers“ im Gedicht „Poetikauskunft“ (S. 49). Bei „in gespaltenem Land selbst werden Bücher gehandelt / springen die Wörter frei über Mauern und Maulwehre“ (S. 152) geht es nicht nur um die Macht der Wörter, die sich an keine Grenze oder Absperrung halten, sondern man denkt sogleich auch an die frühere Zonengrenze zwischen der BRD und der DDR.
Wagnis Poesie
Wie soll man nun diese Gedichtsammlung einsetzen? Bei unterschiedlichem Background ist es auch nicht immer einfach, alles (direkt) zu verstehen. Aber das weiß auch Reder. In seiner den Gedichtband abschließenden Gebrauchsanleitung heißt es deshalb auch: „Sie [diese Gedichte] geben dir was du von ihnen willst: […] Arbeit wenn du sie analysieren möchtest“ (S. 195). Das ist aber schon der anstrengendste Punkt in dieser Liste von Ratschlägen. Und man kann sich diesen Gedichten auch durchaus spielerisch nähern. Das heißt, die Assoziationen, die beim Lesen zwangsläufig im Kopf auftauchen, einfach auf sich wirken lassen. Aber dazu muss man zunächst den Mut aufbringen, sich diesem Buch überhaupt zu nähern, sich auf das Abenteuer bzw. Wagnis einzulassen, sich nämlich auf das Meer der Poesie hinauszuwagen. Und wenn man Glück hat, damit seine/ihre Sehnsucht (nach einer besseren Welt) wenn schon nicht zu stillen, so doch zumindest zu konkretisieren. Auch der wohlmeinende Rat im Klappentext kann dabei helfen, nämlich „Poesie als achtsame Begleiterin auf einem Weg, den noch niemand kennt“, zu verwenden.