opfer des nationalsozialismus

Durch systematische Vernachlässigung ermordet

Massengräber für Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen in Braunschweig

| Bernhild Vögel

Beitragsystema
Foto entnommen aus dem Buch "Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen"

Wurden osteuropäische Zwangsarbeiterinnen schwanger, nahmen die Nazis ihnen die Säuglinge kurz nach der Geburt weg, um sie in speziellen Einrichtungen ohne angemessene Versorgung dem Tod preiszugeben. Bernhild Vögel erforschte über Jahre hinweg die Morde im „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ in Braunschweig. Die Opfer wurden auf dem alten Nikolai-Friedhof in der Hochstraße verscharrt, der im Mittelpunkt von Bernhild Vögels Beitrag steht (GWR-Red.)

An einem Herbstnachmittag des Jahres 2005 bin ich mit meiner fünfjährigen Enkeltochter auf dem Kinderspielplatz hinter dem Wasserturm. Das Mädchen ist ins Spiel vertieft, ich gehe auf und ab, meine Gedanken schweifen ab. Hin zum Gelände hinter dem Spielplatz.

Unter Gestrüpp verborgen

Im Sommer 1985 betrat ich es zum ersten Mal, von der anderen Seite, der Hochstraße aus. Mit einem vom katholischen Propsteipfarramt ausgeliehenen Schlüssel öffnete ich das Tor. Ein Hohlweg führte in ein verwildertes Gelände. Zwischen hohem Gras und Gestrüpp ließen sich noch Reste von Grabsteinen aus dem 19. Jahrhundert erkennen. Um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde der Wasserturm gebaut und der alte Friedhof nebenan stillgelegt.
Ab 1942 aber wurden auf dem Nikolaifriedhof wieder Menschen beerdigt. Keine deutschen KatholikInnen, sondern ausländische: PolInnen, FranzösInnen, BelgierInnen, ItalienerInnen – Menschen, die die Nazis aus ihren Heimatländern deportiert und gezwungen hatten, in den Rüstungsbetrieben für Hitlers Krieg zu arbeiten. Die polnischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden gezwungen, an ihrer Kleidung deutlich sichtbar einen Aufnäher anzubringen, auf dem auf gelbem Grund der violette Buchstabe „P“ stand. Dieses „P“ signalisierte Diskriminierung und unzählige Verbote: Gaststätten und Friseurläden durften nicht betreten werden, Baden an öffentlichen Badeplätzen, das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel und das Betreten der Luftschutzbunker waren verboten. Schlechte Ernährung und miserable hygienische Bedingungen in den Barackenlagern förderten Krankheiten wie TBC, eine ausreichende Krankenversorgung gab es nicht. Gestapohaft und KZ drohte denen, die versuchten, sich der Zwangsarbeit zu entziehen, und der polnische Zwangsarbeiter, der versuchte, sich einer deutschen Frau zu nähern, kam an den Galgen.
Im hinteren Teil des Friedhofes und dort, wo der Friedhof an den Wasserturm angrenzt, waren unter altem Laub noch Efeureihen erkennbar. Aber nichts, kein Grabstein, kein Kreuz deutete darauf hin, dass dies die letzte Ruhestätte von Menschen war, die in den Kriegsjahren an den Folgen von Zwangsarbeit ums Leben gekommen waren.
Ein Bezirk des Friedhofes, der rechte hintere Teil, war abgetrennt. Hinter dem Zaun ein Sandplatz mit Spielgeräten. Anfang der 1980er-Jahre hatte die katholische Propstei dieses Gelände an den Waldorf-Kindergarten verpachtet. Waren hier, so fragte ich mich, unter dem Sand, 150 polnische Kinder verscharrt?

Schwangerschaft als „Sabotage am Arbeitseinsatz“

Im Weltbild der Nazis gab es Herrenmenschen und Untermenschen, rassisch hochstehende GermanInnen und rassisch Minderwertige – PolInnen, RussInnen, JüdInnen, die ausgerottet oder versklavt werden sollten. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion sollten arbeiten, nichts als arbeiten. Dass sie auch leben wollten, Familien gründen, Kinder aufziehen, hatten die Nazi-Behörden nicht vorgesehen.
Und sie hatten Verordnungen geschaffen, die es PolInnen nahezu unmöglich machten zu heiraten. Aber die jungen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wollten nicht warten, bis man es ihnen erlaubte. Sie gingen Freundschaften ein, viele schlossen ihren Ehebund vor Gott, Frauen wurden schwanger. Anfangs wurden sie als für den Arbeitseinsatz nicht geeignet in ihre Heimat zurücktransportiert.

Die Braunschweiger Entbindungsbaracke – Foto entnommen aus dem Buch „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“

Als die Zahl der Schwangerschaften weiter anstieg, mutmaßten die deutschen Behörden, die Polinnen ließen sich schwängern, um nach Hause zurückkehren zu können. Die NSDAP-Gaupropagandaleitung Südhannover-Braunschweig verbreitete gar, die Polinnen hätten von der Kirche die Anweisung bekommen, ein deutsches Kind mit nach Polen zu bringen.
Schwangerschaft bedeutete im Nazi-Jargon „Sabotage am Arbeitseinsatz“ oder gar „Krieg an der Geburtenfront“. Ab 1943 wurde der Rückführerlass für schwangere polnische und russische Zwangsarbeiterinnen aufgehoben. Einfachste Entbindungseinrichtungen, vielfach Barackenräume neben den Krankenhäusern, sollten geschaffen werden. Weitere Anordnungen, die Kinder wenige Tage nach der Geburt von ihren Müttern zu trennen und in „Ausländerkinderpflegestätten einfachster Art“ unterzubringen, erfolgten in der perfiden Absicht, den „unerwünschten fremdvölkischen Nachwuchs“ durch primitivste Unterbringung der Säuglinge, die hohe Sterberaten garantierte, zu reduzieren. Jedoch sollte dies keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiterinnen haben. Die Umsetzung dieser vagen Erlasse blieb den örtlichen Behörden überlassen.

Jedes Mal wenn ich den Friedhof betrete oder wie jetzt, vom Spielplatz aus, in ihn hineinschaue, sehe ich mich, wie ich mich das erste Mal durch das überwucherte Gelände vorwärts tastete, sehe die hohen Baumwipfel, die verwitterten Steine, den Efeu … Nun harken Kinder und Jugendliche das Laub, entfernen heruntergefallene Äste und stellen Grablichter auf. Eine Frau kommt auf mich zu, ja, sagt sie, an Allerheiligen findet eine Andacht statt, kommen Sie doch. Meine Enkeltochter rennt auf mich zu und fragt nach der großen Grabplatte und den Lichtern darauf. Ich erkläre ihr, dass dies ein Friedhof ist, auf dem auch viele Kinder begraben liegen … Babys. Ich schicke das Kind zurück zum Spielen.

Die Braunschweiger NS-Stellen und Behörden planten akribisch: Erst wurde das „Russenkrankenhaus“ in der Ekbertstraße 14 (heute ein Verlagsgebäude) eröffnet, dann funktionierte man Baracken an der Broitzemer Straße (heute: Münchenstraße) zum „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ um. Ab Mai 1943 mussten hier polnische und sowjetische Zwangsarbeiterinnen entbinden. Acht Tage später schickte man die Mütter in die Arbeitslager zurück, die Kinder blieben in einem Barackenraum zurück. Die meisten von ihnen wurden nur drei, vier Wochen alt. Ihr Sterben war qualvoll, Ungeziefer, Exkremente, Ausschläge und unzureichende Nahrung …

Als ich an Allerheiligen auf den Friedhof komme, werde ich gebeten, nach dem Gottesdienst ein paar Worte über die Kinder zu sagen. Ich beginne, berichte von der Kinderbaracke. Dann sehe ich in die Gesichter von Kindern in Pfadfinderuniform. Das jüngste ist kaum älter als meine Enkelin. Ich breche ab und sage: „Ich kann nicht weiter sprechen, nicht vor den Kindern.“

1985 hatte ich in der Bibliothek ein Buch in die Hand genommen, das „Kinder im Krieg – Krieg gegen Kinder“ hieß, verfasst von drei polnischen Autoren, die den Kriegsschicksalen polnischer Kinder und Jugendlicher nachgegangen waren. Hier las ich zum ersten Mal von dem Säuglingslager: „Es gab keine Bettwäsche. Die Decken waren verlaust. In einer Ecke lagen schmutzige Decken mit Kotspuren von Säuglingen. Die Baracken waren dreckig und verwanzt.“ Ich lebte erst ein paar Jahre in Braunschweig; entsetzt fragte ich nach. Aber niemand wusste davon.

Aktenberge der Vernichtung

Ich begann mit einer grauenhaften Forschung. Im Stadtarchiv, im katholischen Propsteipfarramt, im Friedhofsamt und im Standesamt recherchierte ich, wie viele Kinder in der Baracke zur Welt gekommen waren und wie viele davon dort verstorben waren. Ich zählte 365 tote Babys und Kleinkinder. Ich fand Akten darüber, welche Institutionen an der Planung und Einrichtung des „Entbindungsheimes“, das ein Todeslager für Babys war, beteiligt waren: Industrie- und Handelskammer (IHK), Deutsche Arbeitsfront (DAF), Gestapo, Gesundheitsamt, Arbeitsamt, Kassenärztliche Vereinigung und Rüstungskommando. Trägerschaft und Verwaltung des Säuglingslagers übernahm die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK), ab Mitte 1944 die von der IHK gegründete Gesellschaft „Gemeinschaftslager der Braunschweiger Industrie“. Ich las in Rechtfertigungsberichten der AOK, verfasst in den Nachkriegsjahren, um ein Untersuchungsverfahren gegen die Verantwortlichen abzuwehren. Was dennoch nicht vertuscht werden konnte: Man hatte eine Büroangestellte zur „Heimleiterin“ ernannt, eine Frau, die keinerlei Fachkenntnisse besaß. Ihr unterstellt waren ein paar ebenfalls nicht ausgebildete polnische und russische Zwangsarbeiterinnen. Ein zwangsverpflichteter Arzt sah gelegentlich nach den Kindern, aber niemand unternahm etwas gegen die ansteigenden Todeszahlen.
Ich wusste aus der polnischen Veröffentlichung, dass es in Warschau, im Archiv der Hauptkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen, eine Akte über das „Entbindungsheim“ geben musste. Aber Mitte der 1980er-Jahre war es mit großen Schwierigkeiten verbunden, die Genehmigung für eine solche Archivreise zu bekommen. Meine Schreiben an das Archiv waren gar nicht erst beantwortet worden. Schließlich half nur ein Beziehungsnetz: FreundInnen hatten Bekannte, die jemanden kannten. Im Herbst 1986 hatte ich schließlich ein Visum und konnte nach Warschau reisen.
Die Akte enthielt das komplette Ermittlungsverfahren, das die britischen Militärbehörden mit Unterstützung der in Braunschweig stationierten polnischen Mission durchgeführt hatten. Es enthielt auch eine Liste der polnischen Kinder, die bis Mitte 1944 aus dem „Heim“ entlassen worden waren. Die Auswertung ergab eine grausame Bilanz: Von den 170 polnischen Säuglingen, die bis Mitte Juni 1944 „unehelich“ im „Entbindungsheim“ zur Welt kamen, waren 75 entlassen worden, die meisten davon wenige Tage nach der Geburt. Es waren vorwiegend Kinder, deren Mütter in den Landkreisen Helmstedt, Wolfenbüttel u. a. arbeiteten. 108 Kinder starben im „Heim“, darunter 14, die zuvor entlassen worden waren.
25 sind anderenorts verstorben, die meisten in der „Ausländerkinderpflegestätte“ Velpke (Landkreis Helmstedt). Es bleibt ein einziges Kind übrig, das weder als entlassen noch als verstorben registriert ist und theoretisch im „Entbindungsheim“ überlebt haben könnte.

Oftmals ungetauft verscharrt

Kein Kind hatte in diesem Todeslager eine Überlebenschance, weder die polnischen noch die sowjetischen „Ostarbeiterkinder“. Dies müsste auch dem Zeugen, der sich wohl am häufigsten in der Baracke aufgehalten hat, bewusst gewesen sein, dem Pfarrer Groß von St. Joseph. Anfänglich konnten die Mütter ihre Babys in der Kirche St. Laurentius taufen lassen. Nach behördlicher Anweisung durften bei Beerdigungen und Taufen von PolInnen nur die nächsten Angehörigen und Bekannten – keinesfalls Deutsche – teilnehmen, die Feiern mussten „in ganz schlichter Form“ durchgeführt werden. Ab November 1943 aber fanden in den katholischen Kirchen keine Taufen von polnischen Kindern mehr statt. Die Gestapo versuchte offensichtlich auch zu verhindern, dass die Taufen nun in der Baracke selbst durchgeführt wurden. Pastor Groß vom zuständigen Pfarramt St. Joseph berichtete, dass die Taufen erst auf das wiederholte Drängen der Leiterin hin geduldet worden seien. Sie fanden in unregelmäßigen Abständen meistens sonntags statt. Aber viele Kinder konnten nicht mehr getauft werden, weil sie bereits verstorben waren, wenn der Pfarrer das nächste Mal kam. Obwohl 1944 über zwei Drittel der Taufen in der Pfarrgemeinde auf die polnischen Kinder entfielen, erschienen sie weder in der Taufstatistik, noch wurde der Kinder in der Kirchenchronik gedacht.

Allerheiligen 2005. Ich bin die einzige auf dem Friedhof, die nicht polnisch kann – die Sprache, in der die Predigt und die Gebete gesprochen und die Lieder gesungen werden.

Der Pfarrer, der 1943 und 1944 bei den Kindergräbern ein kurzes Gebet sprach, war Deutscher, Kaplan Treuge. Ich habe mit ihm korrespondiert und den hochbetagten Mann noch kennen gelernt. Ein entsetzliches Bild ist ihm unauslöschlich im Gedächtnis geblieben:
„Diese toten Kinder wurden – ich weiß nicht einmal von wem – zu unserem Friedhof gebracht und aufgestapelt. Ich habe nur einige Male (in) die Kartons hineingeschaut, und von daher konnte ich Ihnen schon sagen, daß die Kinder ohne jede Kleidung und Bettung lagen. … Ich weiß wohl, daß mir aus der Kapelle, soweit man das kleine Gebäude so bezeichnen darf, oft die Würmer entgegengekrochen sind.“
Die Leichen wurden von dem Bestattungsunternehmen nicht einzeln abgeholt, man sammelte sie in einem Raum der Baracke, schließlich wurden sie in alten Pappkartons in das kleine Gebäude auf dem Friedhof transportiert. Der Zeitraum zwischen Tod und Beerdigung betrug oftmals zwei bis drei Wochen, in einigen Fällen sogar einen Monat. Wie die Eintragungen in den Kirchenbüchern belegen, waren es Begräbnisse 3. Klasse, die Kinder wurden „in aller Stille“ beigesetzt. Pastor Treuge konnte sich nicht daran erinnern, dass Mütter oder Väter daran teilgenommen hätten. Die Mütter erhielten zwar eine Mitteilung, dass ihr Kind verstorben war, doch den Ort und den Zeitpunkt der Beerdigung erfuhren wohl die wenigsten.
Ab Ende 1944 wurden die polnischen Kinder auf dem – vom katholischen Friedhof säuberlich getrennten – Ausländerfriedhof am Brodweg begraben. Die katholische Kirche betreute nur die polnischen Kinder. Die Babys der „Ostarbeiterinnen“, die orthodoxen Glaubens waren oder keiner Religionsgemeinschaft angehörten, wurden im Krematorium verbrannt. 1945 tragen die Einäscherungsverzeichnisse den Hinweis: „Asche verstreut“. Es ist sicher kein Zufall, dass jüdische KZ-Häftlinge und sowjetische Kinder, die als besonders „rassisch minderwertig“ betrachtet wurden, nicht einmal einen Platz unter den Toten zugestanden bekamen.

Die Leichen wurden von dem Bestattungsunternehmen nicht einzeln abgeholt, man sammelte sie in einem Raum der Baracke, schließlich wurden sie in alten Pappkartons in das kleine Gebäude auf dem Friedhof transportiert.

Pastor Treuge war der einzige Zeitzeuge, den ich ermitteln konnte, der hätte wissen können, wo sich die Kindergräber befanden. Er hat es versucht, hat sich nach Braunschweig fahren lassen und ist den Friedhof abgeschritten. Aber die Erinnerung blieb verschüttet.

Aufklärung trotz Schweigen und Hassbriefen

1986 suchte ich auch einen polnischen Pfarrer in seinem Büro bei St. Cyriakus in der Weststadt auf. Es muss der verstorbene Pastor Zygmunt Supieta gewesen sein. Ich sehe noch die aufflackernde Angst in seinen Augen, als ich ihm von meinen Recherchen berichtete. Nein, sagte er, als ich ihn um Mithilfe bei der Suche nach Zeitzeuginnen bat.
Kurze Zeit darauf sprach ich auf einer öffentlichen Veranstaltung des Arbeitskreises Holocaust in der Evangelischen Studentengemeinde zum ersten Mal über das Säuglingslager und den Friedhof. Die Anwesenden waren betroffen, die Presse berichtete ausführlich. Aber dann kamen hässliche, meist anonyme Briefe, und ich begann den Priester Supieta zu verstehen, auch wenn ich seine Haltung nicht billigen konnte.
Ich verstand auch, was Pastor Treuge über die Kriegszeit geschrieben hatte:
„Es war ein ganz anderes Klima, das das alltägliche Leben weithin verrohen ließ. Es gab weiterhin nicht mehr den Lebensraum für menschliche Reaktionen. Jeder lebte mehr oder weniger unter vielerlei Bedrohungen und es gab keinen Lebensbereich, der nicht einer allgemeinen Verrohung ausgesetzt war. Jedenfalls ist mir persönlich sehr bewusst, dass die Zerstörung der Städte nichts war im Vergleich zur Zerstörung der Menschen.“
Besonders der letzte Satz hat mich beeindruckt und nachdenklich gemacht.
Doch was ich nicht verstand und auch heute noch nicht verstehe, ist das Schweigen, das sich über das stadtbekannte Verbrechen nach dem Krieg legte. Ein Schweigen, das MitläuferInnen und sogar Menschen, die selbst unter der Naziherrschaft gelitten hatten, mit den TäterInnen und MittäterInnen verband. War dieses Schweigen Ausdruck der Scham, sich der Verrohung nicht widersetzt zu haben? Oder einer Gleichgültigkeit, die Ergebnis dieser Verrohung war?

Entlastung der TäterInnen

Pastor Groß, der wegen seiner Taufgänge Schwierigkeiten mit der Gestapo bekommen hatte, war im September 1944 zu Schanzarbeiten nach Holland dienstverpflichtet worden. Er war der einzige Geistliche in der Diözese Hildesheim, der zum langfristigen Notdienst herangezogen wurde. Der Propst und die Diözese intervenierten erfolgreich, und 14 Tage später war Groß wieder in Braunschweig. Dieses Ereignis ist in der Kirchenchronik von St. Josef ausführlich dokumentiert. Über das „Entbindungsheim“ und die Tätigkeit des Pfarrers dort enthält sie kein Wort.
Pfarrer Groß schwieg auch nach dem Krieg. Erst 1947, als es um eine Entlastung von Frau Becker, der ehemaligen „Heimleiterin“ ging, die seit einem Jahr in Untersuchungshaft saß, meldete er sich zu Wort:
„Ein Vorfall, der mir noch in lebhafter Erinnerung ist, zeigt, wie edel menschlich Frl. Becker dachte und wie sehr sie andererseits unter den Verhältnissen im Entbindungsheim litt. Als ich hinwies auf die große Sterblichkeit, weinte sie und beklagte, daß alle ihre Bemühungen um bessere Ernährungsmöglichkeiten (Lieferung von Milch und Stillung der Kinder durch die eigenen Mütter) mehr oder weniger erfolglos wären. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß Frl. Becker alles tat, um das harte Los der polnischen Mütter erträglicher zu machen, sonst hätte sie nicht regelmäßig mich durch Telefon oder per Karte zur Taufspendung ins Entbindungsheim gerufen.“
Auch im Dezember 1986 brach Frau Becker, die ich unangekündigt aufgesucht hatte, in Tränen aus, als ich ihr die Fotos aus der Warschauer Akte zeigte. Zuvor aber hatte sie mir erzählt, wie lustig es zum Beispiel an den Weihnachtstagen 1943 zugegangen war, als sie ein paar Soldaten vom nahegelegenen Flugplatz Broitzem eingeladen hatte … Unterdes – das belegen die nackten Daten – wurden die Kinder noch stärker als sonst vernachlässigt. 14 starben zwischen dem 23. Dezember und Silvester, vier weitere am Neujahrstag. Bei vielen ist die Todesstunde nicht eingetragen, weil keine Helferin zugegen war.

Ich verlasse den Friedhof, verabschiede mich von einer Frau, die ich schon bei so vielen Gelegenheiten auf dem Friedhof getroffen habe. Sie ist in dem Alter, in dem die Kinder wären, hätten sie überlebt. Es gibt ein paar, die unter schwierigsten Umständen gerettet wurden …

Nach dem Vortrag, den ich Anfang 1987 über das Schicksal der Kinder gehalten hatte, verebbte das öffentliche Interesse rasch. Als mein umfangreiches Manuskript zwei Jahre später schließlich gedruckt vorlag, blieb es weitgehend unbeachtet. Für den Arbeitskreis Holocaust erarbeitete eine Projektgruppe an der Hochschule für bildende Künste einen Entwurf für eine Mahn- und Gedenkstätte auf dem Friedhof Hochstraße. VertreterInnen der Stadt, Bedienstete des Stadtgartenamtes, lehnten ihn ab.

Zäher Kampf für eine Gedenkstätte

Mitte der 1990er-Jahre schien es, als seien der Friedhof und das Schicksal der Kinder wieder dem Vergessen anheimgegeben. Anlässlich eines Vortrages in Velpke, wo 1944 in einem Säuglingslager 35 in Braunschweig geborene polnische Kinder und über 50 weitere ums Leben gekommen waren, lernte ich den damaligen polnischen Vizekonsul kennen. Das Konsulat in Hamburg suchte nun den Kontakt mit der Stadt, um eine würdige Instandsetzung des Friedhofes zu erreichen. Doch die Verhandlungen darüber verliefen mehr als beschämend. Inkompetente GesprächspartnerInnen erklärten, es sei kein Geld da. Der polnische Rat zum Schutz des Gedenkens ließ im folgenden Jahr den Entwurf für eine Gedenkstätte Hochstraße erarbeiten, der von der Stadt ebenfalls abgelehnt wurde.
Doch in den folgenden Jahren begann ein Prozess des Umdenkens, nicht zuletzt angestoßen durch die Debatten über den Umgang mit dem ehemaligen KZ-Außenlager Schillstraße, nicht zuletzt befördert durch Recherchen des Magazins „Stern“ über die Säuglingslager. Hinzu kam, dass die Auseinandersetzung um die Zwangsarbeiterentschädigung in eine entscheidende Phase getreten war. Amerikanische Anwälte bereiteten Sammelklagen gegen deutsche Firmen vor. Eine Klägerin hatte ihr Kind im VW-Kinderlager in Rühen verloren. Darüber und über das Braunschweiger Säuglingslager berichtete ein Beitrag des ARD-Magazins Panorama, an dem ich mitgearbeitet hatte. Das, was ich nie zu hoffen gewagt hatte, fand schließlich seinen Niederschlag im Stiftungsgesetz über die Zwangsarbeiterentschädigung: Wer ein Kind in einem Kinderlager verloren oder als Kind in einem Kinderlager psychische oder physische Schäden davongetragen hatte, konnte eine erhöhte Entschädigung erhalten.

Aufnahme aus dem Entbindungsheim – Foto entnommen aus dem Buch „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“

1998 begannen ernsthafte Gespräche zwischen der Stadt und dem polnischen Konsulat. Der von der Stadt eingesetzte Gedenkstättenarbeitskreis entschied sich schließlich, den Entwurf nur unter polnischen ArchitektInnen und KünstlerInnen auszuschreiben. Unter diesen Voraussetzungen erklärte ich mich bereit, bei der Erarbeitung der Texte und der Erstellung der Namenslisten mitzuarbeiten. Der prämierte Entwurf der Gruppe Solyga sagte mir zu. Er erstreckte sich über das gesamte Gelände des Friedhofes. Der Waldorf-Kindergarten, der in den 1970er-Jahren von der katholischen Propstei einen Teil des Friedhofes erworben hatte, räumte das Gelände; die Stadt stellte ein Ersatzgrundstück bereit. Plötzlich ging alles reibungslos. Plötzlich spielten keine Kinder mehr in einer Sandkiste, unter der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kindergräber befanden.

Der lebenslange Schmerz der Mütter

Die Übergabe der Gedenkstätte Friedhof Hochstraße am 8. Mai 2001 war eine feierliche und bewegende Veranstaltung. Auch wenn dabei Personen auftraten, die lange Jahre nichts anderes getan hatten, als ihr Desinteresse am Friedhof und damit an dem Schicksal der Kinder zu bekunden.
Viele BraunschweigerInnen waren auf den Friedhof gekommen, wo aber waren die Angehörigen der Kinder? Angereist waren eine Mutter in Begleitung ihrer Tochter und zwei Halbschwestern von Kindern, die hier begraben lagen. Frau Mieczkowska hat noch jahrelang das Strampelhöschen des kleinen Robert mit sich herumgetragen. Ihr Sohn war bereits tot, als sie es ihm in die Säuglingsbaracke bringen wollte. Karl Liedke hatte sie seinerzeit interviewt; ich wollte sie nicht auch noch mit Fragen behelligen. Es gab auch nichts zu fragen. Der Schmerz der 80-jährigen Frau sprach für sich.
Frau Pfeiffer war gesundheitlich nicht in der Lage anzureisen. Es kam Krystyna, ihre Tochter. Erst nach der Veröffentlichung der Geschichte ihrer Mutter im „Stern“ hat sie von Rozalia, der Schwester, erfahren. Und von ihrem qualvollen Tod, über den die Mutter erst nach so vielen Jahrzehnten sprechen konnte: „Sie bekam Bläschen, die mit Eiter gefüllt waren. … Meine Tochter schrie, sie hat so gelitten. Das war so schrecklich, da bin ich in Ohnmacht gefallen.“
Tamaras Mutter, die bereits vor vielen Jahren verstorben ist, hatte ihrer Tochter früh vom Schicksal des kleinen Ryszard erzählt. Allerdings war sie nach dem Krieg nicht nach Polen zurückgekehrt, sondern hatte sich in Deutschland verheiratet. Jahrzehntelang hatte sie versucht, eine Entschädigung für die Zwangsarbeit und den Tod ihres Sohnes zu erlangen. Das endgültige Aus sprach 1970 das Bundesverwaltungsamt mit folgender zynischen Begründung:
„Ihre Verbringung zum Arbeitseinsatz erfolgte nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem fremden Staat oder zu einem nichtdeutschen Volkstum. Sie war vielmehr eine Maßnahme zur Beseitigung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften, von der Personen aller Nationalitäten betroffen wurden. Die von der Antragstellerin vorgetragenen Umstände des Arbeitseinsatzes sind nach eingehender Würdigung auf die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen im Verlauf des Krieges zurückzuführen. Die von Amts wegen durchgeführten Ermittlungen haben die von der Antragstellerin vorgetragenen unmenschlichen Bedingungen während ihres Arbeitseinsatzes nicht bestätigen können. Auch die von der Antragstellerin vorgetragene auf behördliche Anordnung hin erfolgte Tötung ihres Sohnes am 13.7.1944 ist nicht nachgewiesen worden.“
Ob Tamaras Mutter, Frau Pfeiffer oder Frau Mieczkowska, sie alle haben ihr Leben lang unter dem Verluste ihres Kindes gelitten. Es sind drei Frauen von mindestens 365 Müttern, die in der Braunschweiger Baracke ihre Kinder verloren haben. Viele von ihnen sind nicht mehr am Leben. All die anderen haben wohl nie über die traumatischen Ereignisse geredet und sind nicht in der Lage, ihrem Ehemann, ihren Kindern zu erklären, was damals geschah. Wenn sich die eine oder andere doch, etwa durch veränderte Lebensumstände, dazu entscheidet, ist es längst zu spät, Entschädigungsansprüche zu stellen.

Ich gehe nach Hause. Es ist gut, dass der Friedhof von polnischen KünstlerInnen gestaltet wurde, dass die polnische Gemeinde sich hier an Allerheiligen zur Andacht versammelt. Aber ich wünsche, ich wäre in den kommenden Jahren nicht die einzige, deren Muttersprache deutsch ist, die daran teilnimmt.

Das seit vielen Jahren vergriffene Buch „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“ von Bernhild Vögel ist als PDF-Ausgabe auf ihrer Internetseite abrufbar. Hier sind auch weitere Informationen zum Thema Zwangsarbeiterkinder zu finden:
www.birdstage.net/themes01.html

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.