Roman Danyluk: Unter sticht Ober. Eine Sozialgeschichte der bayrischen Revolution 1918/1919, Edition AV, Bodenburg 2022, 424 Seiten, 24,50 Euro, ISBN 978-3-86841-265-9
Wenn Simon Schaupp mit seinem Der kurze Frühling der Räterepublik hundert Jahre nach dieser in die öffentliche Diskussion zur deutschen Revolution 1918/1919 von anarchistisch-linksradikaler Seite eingriff und uns die aufregenden Ereignisse in einer Collage der Zeitzeugnisse von Erich Mühsam, Hilde Kramer und Ernst Toller nahebrachte, (1) so reicht uns der Münchner Roman Danyluk mit Unter sticht Ober nun das dazugehörige sozialgeschichtliche Material nach. Dem Genossen ist eine lebendige und faktenbasierte Darstellung der Bayrischen Räterepublik und ihrer Rahmenbedingungen gelungen, die auch historisch interessierten Lesenden einen Zugang erlaubt, welche sich bisher noch nicht damit beschäftigt haben. Dabei ist das Buch auch ohne Fußnoten stichhaltig und glaubwürdig, wie Historiker*innen bestätigen werden. Mit diesem Stil gleicht Danyluks Schreibweise jener von Eric Hobsbawm, (2) ohne allerdings von dessen marxistischen Vorurteilen eingenommen zu sein.
Heterogenität als Stärke
Der Text gewinnt nicht allein durch seine Sachlichkeit an Glaubwürdigkeit, sondern weil die inneren Widersprüche und Unzulänglichkeiten der kurzlebigen Räterepublik keineswegs geleugnet werden. Darüber hinaus ist es in die lang anhaltende Besprechung dieses historischen Fensters einzuordnen, hebt diese allerdings auf eine neue Stufe. So setzte etwa schon Günter Bartsch der Beschränkung der Räterepublik auf München in der bürgerlichen Geschichtsschreibung entgegen: „Seit der Bayrischen Räterepublik wissen wir, daß der Anarchismus mehr als eine soziale Utopie ist. Er kann aus dem Reich der Abstraktion hervortreten und zu einer mehr oder weniger festumrissenen Gestalt gerinnen. Dies scheint jedoch immer nur dort und dann möglich zu sein, wo sich verschiedene Richtungen zusammenfinden. […] Bis zu einem gewissen Grade war die Bayrische Räterepublik das erste anarchistische Experiment des 20. Jahrhunderts in einem größeren Maßstab“. (3) Hinsichtlich der geschichtswissenschaftlichen Perspektive werden mit Unter sticht Ober die mehr oder weniger radikalen linken Erzählungen zur Bayrischen Räterepublik ergänzt, wie sie sich etwa in den diversen Veranstaltungsreihen zu den Jahrestagen widerspiegeln. (4) Dem häufig und wiederholt bedienten Mythos, bei der Bayrischen Räterepublik habe es sich um ein naives – und ergo: „gefährliches“ – Projekt von Künstlerinnen und Literaten gehandelt, (5) setzt Danyluk die Sichtweise einer kollektiv handelnden, aber sehr heterogenen sozialen Bewegung entgegen, ohne deswegen zu leugnen, dass manch idealistischer Wunschtraum die anarchistischen Führungsfiguren der kurzlebigen zweiten Phase der roten Republik beflügelte, bevor jene wiederum von der streng politisch-militärischen Logik der KPD-Funktionäre in der dritten Phase abgelöst wurde. Statt dem lächerlichen Schreckgespenst von Anarchie und Chaos finden sich in der Bayrischen Räterepublik Ansätze für den Aufbau einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform, welche demokratischen Ansprüchen weit eher gerecht zu werden vermag als die oktroyierte parlamentarische Klassengesellschaft.
Gegenpol zu bürgerlichen Mythen
Darüber hinaus wird der teilweise unsäglichen bürgerlichen Geschichtsschreibung etwas entgegengesetzt, wie sie beispielsweise in Büchern wie Die letzte Nacht der Monarchie. Wie Revolution und Räterepublik in München Adolf Hitler hervorbrachten reproduziert wird. (6) Immerhin wird schon mit dem Titel suggeriert, dass Sozialist*innen von revolutionären Experimenten die Finger zu lassen haben. Statt zu behaupten, die Konterrevolution, welche die Entstehung des Faschismus stark begünstigte, wäre die logische Folge der rebellischen Umtriebe gegen den Fortbestand der alten Herrschaftsordnung, sieht auch Danyluk, dass das „Grab der ersten demokratischen Republik in Deutschland […] bereits zu deren Beginn ausgehoben [wurde]. Die Reichsexekution gegen die Bayrische Räterepublik hatte vor allem zwei fatale politische Folgen: Zum einen stoppte sie in Bayern den Prozess der Demokratisierung der Gesellschaft und schwächte diejenigen politischen und sozialen Kräfte, die ein nachhaltiges Interesse daran hatten, dem Aufstieg des Rechtsextremismus erfolgreich Paroli zu bieten. Und zum zweiten bot der militärische Feldzug gegen Bayern sowie das anschließende Besatzungsregime im südlichen Teilstaat dem alten Militär und der Reaktion die Möglichkeit zur effektiven Reorganisation. […] Der ‚Sieg‘ über die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiter- und Unterklassen war […] teuer erkauft“. (S. 358) Damit werden in Danyluks differenzierter Untersuchung Optionen und Handlungsspielräume deutlich, die gleichwohl akribisch mit den damaligen sozialstrukturellen und politisch-ideologischen Bedingungen abgeglichen werden. Wertvoll ist sie außerdem, weil der Autor die spezifische Rolle beleuchtet, welche der Antisemitismus auf der Seite des reaktionären Lagers spielte, und weil er, wo es nur möglich ist, die Perspektiven von Frauen mitbedenkt und ihnen Raum gibt.
Konsequenzen für heutige Bewegungen
Doch die Faszination für diesen Kairós-Moment sozial-revolutionärer Kräfte in Deutschland ist für Danyluk keine rein historische. Sein Interesse an der Erarbeitung des Themas ist motiviert von der Frage danach, was wir aus der Geschichte lernen können. Nicht ohne Grund würdigt er deswegen die Erfolge, welche von den zahlreichen in der Räterepublik aktiven Aufständischen erkämpft wurden. Um sie langfristig und umfassend in ein anderes Gesellschaftsmodell zu überführen, waren jedoch die Kräfteverhältnisse nicht günstig genug, konnte die Bauernschaft nicht ausreichend einbezogen werden, war die anti-revolutionäre Grundsatzentscheidung in der SPD-Führung zu einflussreich und fehlte der Räterepublik schlichtweg die Zeit, sich zu entfalten und zu wachsen. Und schließlich veränderte sich in der „bayrischen Hauptstadt […] durch den autoritären Anspruch einer Partei, die alleinige Vorherrschaft zu erlangen, die sozialistische Vielfalt in den maßgeblichen Rätegremien. Soziale Emanzipation kann aber nicht einfach von oben dekretiert werden. Zu ihren Voraussetzungen gehören die Ausweitung – und eben nicht die Einengung – der sozialen Beziehungen und die beständige Erweiterung der gesellschaftlichen Diskussion. Folgerichtig gestaltet sich die Auseinandersetzung mit den damaligen Ereignissen immer dann als ziemlich spannend, wenn alle Entwicklungsabschnitte der bayrischen Revolution und Räterepublik unvoreingenommen und als ein aufeinander bezogener Zusammenhang betrachtet werden. Nur so lassen sich die jeweils wesentlichen Eigenheiten auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin abklopfen, das heißt auf die Tauglichkeit sowohl zur individuellen als auch kollektiven Befreiung des Menschen. Unvoreingenommenheit und die Vermeidung von Scheuklappen gewährleisten erst, dass in der Rückschau nicht allzu viel Bedeutsames und Bewahrenswertes verloren geht“. (S. 393f.)
(1) Jonathan Eibisch: Rezension zu Simon Schaupp, Der kurze Frühling der Räterepublik, Münster 2017, in: GaiDao #88 (April 2018), verfügbar auf: https://issuu.com/fda-ifa/docs/gaidao_nr_88_web.
(2) Siehe z. B. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 7. Aufl., München 2004.
(3) Günter Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. 1: 1945-1965, Hannover 1972, hier: S. 21.
(4) Veranstaltungsreihe der RLS zum 90. Jahrestag der „Münchner Räterepublik“ 2009, verfügbar auf: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Veranstaltungen/2008/90Jahre_Raeterevolution_08.pdf und: Veranstaltungsreihe „Revolutions-Werkstatt“ der RLS zum 100. Jahrestag 2018/2019; verfügbar auf: http://revolution-baiern.de/
(5) https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/geschichte/muenchner-raeterepublik-sozialistisch-dichter-100.html
(6) Michael Appel: Die letzte Nacht der Monarchie. Wie Revolution und Räterepublik in München Adolf Hitler hervorbrachten, München 2018.