Olaf Briese / Alexander Valerius: Findbuch archivalischer Quellen zum frühen Anarchismus. Beiträge zur Erschließung von Akten aus Berliner Archiven über die „Freien“ (1837–1853), herausgegeben von Wolfgang Eckhardt, Edition AV, Bodenburg 2021, 322 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 978-3-86841-273-4
In der Zeit, als die preußische Hauptstadt mit ihrer Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) noch den Ruf eines Spree-Athen genoss und Studierende wie den dänischen Existenzialisten Søren Kierkegaard oder den russischen Anarchisten Michail Bakunin scharenweise anlockte, trafen sich regelmäßig in der Weinstube „Hippel“ in der Friedrichstraße junge Intellektuelle, tranken und diskutierten. Sie wurden in den 1840er-Jahren bekannt als „Kreis der Freien“. Zu seinen Mitgliedern gehörten der als Freiwilliger dienende Friedrich Engels, der seinen Saufkumpanen mit dem Gedicht Triumph des Glaubens (1842) ein literarisches Denkmal setzte, der heutzutage wegen seines Antisemitismus avant la lettre (1) umstrittene Bibelkritiker Bruno Bauer und der Anarchist Max Stirner, aber auch viele emanzipierte Frauen wie Emilie Lehmann, die aus den gesellschaftlich geprägten Rollen ausbrachen. Letztere werden in der Forschung leider weitestgehend verschwiegen und ignoriert. Das vorliegende Findbuch beginnt mit einem einleitenden, mit gut 150 Seiten sehr umfangreich ausgefallenen Essay („Vormärzlicher Anarchismus“) von Olaf Briese, der anarchistische Aspekte innerhalb jenes Kreises in den Fokus rückt – und einen bereits von ihm publizierten Beitrag vertieft. Dieses Vorgehen bezüglich der Zuschreibung des Anarchismus ist nicht unkritisch, weil sich zu jenem Zeitpunkt noch kein festes Gedankengebäude des Anarchismus herausgebildet hatte. Erst im Jahr 1840 führte Pierre-Joseph Proudhon einen positiv besetzten Anarchie-Begriff ein; erst knapp 50 Jahre später formierte sich eine anarchistische Bewegung in diversen europäischen Ländern. Proudhon selbst, als „erster Anarchist“ tituliert, nimmt eine Scharnierfunktion zwischen vormarxistischem und anarchistischem Sozialismus ein. Die Junghegelianer*innen wirkten zeitlich früher – und können daher m. E. nur als Frühanarchist*innen gewertet werden. Briese umreißt sein Verständnis einleitend nur kurz und vermeidet eine direkte Definition. Die von ihm benannten Aspekte zur Zuordnung zum Anarchismus sind u. a. „Dissidenz und Bruch mit bestehenden Herrschaftsverhältnissen, die Betonung der Rechte von Individuen in kooperativen und solidarischen Gemeinschaftsformen sowie das Ideal nicht nur der Minimierung von Herrschaft, sondern der Aufhebung von Herrschaft, und zwar nicht nur auf den Gebieten der ‚Ökonomie‘ und ‚Politik‘.“ (S. 7) Die Aspekte können genauso von anderen politischen Strömungen für sich beansprucht werden, sodass er sich hier auf politisch-philosophisch dünnem Eis bewegt. Vor diesem Hintergrund attestiert er selbst Moses Hess, einem wichtigen und prägenden Weggefährten Marxʼ aus dem Kreis des Bundes der Kommunisten, eine „anarchistisch-kommunistische Programmatik“ (S. 65). Die Fremdzuschreibungen von Protagonist*innen zum Anarchismus wie im Falle der Bezeichnung der Hippelʼschen Weinstube als „Anarchistenclub“ durch einen Polizeispitzel im Jahr 1846 (vgl. S. 20) sind wohl eher im pejorativen als im ideengeschichtlichen Sinne zu verstehen und besitzen daher nur eine geringe Aussagekraft. Bei aller hier geäußerten Kritik, die man vielleicht auch ein Stück weit auf wissenschaftliche Differenzen zwischen dem Verfasser des Essays und dem der Rezension zurückführen kann, ist aber auch das Positive, was bei Weitem überwiegt, hervorzuheben. Briese gehört aktuell zu den wenigen Forscher*innen, die sich nicht mit einzelnen spezifischen Junghegelianer*innen beschäftigen, sondern versuchen, die Bandbreite der Positionen und Protagonist*innen des (preußischen) Junghegelianismus im Auge zu behalten. Das ist kein leichtes Unterfangen, da die Einordnung jenes Diskussionszirkels und Intellektuellenkreises nicht leichtfällt. Aus soziologischer Perspektive hatte bereits Wolfgang Eßbach im Rahmen seiner Habilitation mehrere Lesarten vorgestellt. Im Zuge des Essays werden auch die wichtigsten Vertreter*innen – darunter auch weniger bekannte Persönlichkeiten wie Emilie Lehmann oder Hermann Jellinek – kurz eingeordnet. Hierbei wählt Briese einen historischen Blickwinkel und verliert sich weniger in einer geistesgeschichtlichen Einordnung. Einen wichtigen Beitrag zur Forschung liefert Briese auch mit seiner Darstellung der Berliner Abend-Post, wozu er bereits im Vorfeld einen Artikel in Ne Znam – Zeitschrift für Anarchismusforschung publiziert hat. Schon aus der Aufzählung der Mitglieder des „Kreises der Freien“ ergibt sich, dass hier bereits – wie Jürgen Habermas in Drehscheibe der Moderne konstatierte – die großen philosophischen und politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts antizipiert wurden. Aus anarchistischer Sicht sind besonders Edgar Bauer, Max Stirner und das Umfeld der libertären Berliner Abend-Post von Interesse, auf die er im Rahmen eines Postskriptums innerhalb seines Aufsatzes näher eingeht. Diese Zeitung gilt als stirnerianisch inspiriert. Nicht mehr direkt zu jenem Kreis, aber in den zeitlichen Kontext passend, findet auch Wilhelm Marr Eingang in das Findbuch. Dieser führte mit seinem Text Anarchie oder Autorität? den (positiv besetzen) Anarchie-Begriff in Deutschland ein – und wurde zum Gründer der Antisemitenliga. In akribischer Weise haben die Verfasser Bestände aus Archiven gesichtet. Die Ergebnisse sind thematisch untergliedert in 18 Hauptpersonen, auf die sich 55 dokumentierte Akten beziehen – sowohl Personen- als auch „Misch“akten und auf über 200 Seiten niedergeschrieben. Die Aufführung der Fundstellen geht mit Ort, Zeit, Verfasser*in, Adressat*in und einer kurzen Inhaltsangabe des jeweiligen Dokuments einher. Für die weiterführende historische Forschung über den (preußischen) Junghegelianismus und deutschsprachige Vorläufer*innen des Anarchismus ein sehr nützliches Werkzeug. Allerdings ist auch klar, dass die beiden beteiligten Herausgeber eine absolute Nische bedienen.
(1) Der Begriff „Antisemitismus“ existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der heute gebräuchlichen Form, sondern etablierte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem ab 1879 durch die Hetzschriften von Wilhelm Marr.