Die Neoliberalisierung des Gesundheitswesens, die auf eine profitable Verwertung von Kranken abzielt, zeigt sich unter anderem in flächendeckenden Klinikschließungen. Joseph Steinbeiß analysiert in seinem Artikel für die Graswurzelrevolution die Entwicklung der letzten Jahre und geht besonders auf die systematische Ausdünnung der Gesundheitsversorgung in der Provinz ein. (GWR-Red.)
Kämpferische BürgerInneninitiativen wie „Gemeingut in BürgerInnenhand“ oder die zur Linkspartei gehörende Gruppe „Krankenhaus statt Fabrik“ haben es durch ihre gute Öffentlichkeits- und Medienarbeit geschafft, dass der so genannte kalte Strukturwandel im deutschen Gesundheitssystem, mit der beabsichtigten Schließung hunderter von öffentlichen Krankenhäusern, nicht kalt geblieben ist. Die Auseinandersetzungen sind, im Gegenteil, ziemlich heiß geworden und haben ProtagonistInnen und ProfiteurInnen der neoliberalen Gesundheitspolitik aus der Deckung gezwungen.
Mitten hinein in die Pandemie veröffentlichte etwa die Bertelsmann-Stiftung, deren „Zentrum für Klinik-Management“ den Abbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung wissenschaftlich vorantreibt, eine zweite Studie, die noch einmal all jene Punkte bekräftigt, die die Stiftung in ihrer ersten, schon fast berüchtigten Studie aus der Vor-Pandemie-Zeit vorgebracht hatte (da noch bei äußerst geringer öffentlicher Aufmerksamkeit). Und Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität (TU) Berlin und einer der engsten BeraterInnen des ehemaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), hatte immerhin die Größe, sich auf Einladung von „Gemeingut in BürgerInnenhand“ einer öffentlichen Diskussion zu stellen, die im Netz in voller Länge einzusehen ist. Dass neoliberale LobbyistInnen auf einmal ihr Gesicht zeigen und sich öffentlicher Kritik stellen müssen, hat den Vorteil, dass ihre Argumente so erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Man kann sich auseinandersetzen und erlebt dabei manch handfeste Überraschung.
„Es ist eigentlich genug Geld da“
So haben neoliberale GesundheitslobbyistInnen, plötzlich im grellen Licht der Öffentlichkeit, ihre Strategie erkennbar verändern müssen. Das leidige, altgewohnte Argument, es sei einfach nicht genug Geld vorhanden, um die in der Tat (noch) erfreulich dichte klinische Versorgung in Deutschland weiter zu betreiben („Wir leben über unsere Verhältnisse!“), ist aus ihrem Repertoire geschwunden. Es wäre angesichts astronomischer Gesundheitsausgaben des Staates während der Pandemie auch schwer zu halten gewesen. Stattdessen ist nun immer häufiger die Rede davon, dass staatliche Gelder verschwendet würden, und zwar an Krankenhäuser, die eher Folterkellern glichen und, wie es Reinhard Busse in der erwähnten Diskussion ausdrückte, „besser nicht täten, was sie tun“. Auch Jens Spahn hatte (vor der Pandemie) in einem internen Vortrag vor MitarbeiterInnen der Asklepios-Gruppe in Hamburg, einer der fünf großen privaten Betreiberfirmen von Krankenhäusern in Deutschland, noch leutselig geplaudert, es sei „eigentlich genug Geld da“. Es werde nur „schlecht ausgegeben“.
Die Umsetzung der größenwahnsinnigen neoliberalen Reformpläne dagegen wird, so viel steht schon jetzt fest, Menschenleben kosten.
Krankenhäuser in der Provinz schlechtzureden ist seither zum entnervenden basso continuo neoliberaler Gesundheitspolitik geworden, vermengt mit den üblichen schrillen Arien über mangelnde „Zukunftsfähigkeit“, „stärkere Profilbildung“ und „attraktive Angebote“, ganz so, als ginge es um probate Werbestrategien für den Einzelhandel und nicht um die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. Am 10. Dezember 2021 kappte der Gesundheitsminister von Baden-Württemberg, Manne Lucha (Grüne), Fördergelder für kleinere Krankenhausstandorte mit dem Argument, kleinteilige Krankenhausstrukturen hätten „keine Zukunft“. Aber was ist dran an diesem Argument?
Das Krankenhaus von Essen-Kettwig
Ich möchte versuchen, diese Frage zunächst mit ein paar persönlichen Erlebnissen zu beantworten: Ich bin im Essener Süden aufgewachsen, in Kettwig. Dort gab es in meiner Kindheit tatsächlich noch ein eigenes Krankenhaus, ein schönes, weißes, längliches Gebäude mit einem grünen Eisenzaun davor. Der letzte Leiter des Klinikums war der Vater eines späteren Schulfreunds von mir. Der Ruf des Kettwiger Krankenhauses war im Ort, man kann es nicht anders sagen, unterirdisch: Man zerriss sich das Maul über unfähige Ärzte und lustlose Krankenschwestern, spottete, wer dort mit einem gebrochenen Arm hineinkomme, ginge mit einer Niere weniger wieder nach Hause, und riss überhaupt die blutigsten Witze, so dass man hätte meinen mögen, das Klinikum sei in Wahrheit eine Zweigstelle des Essener Zentralschlachthofs.
Jahre später, als Zivildienstleistender, lernte ich viele der ehemaligen Krankenhausärztinnen und -ärzte kennen, die nach der Schließung und dem Abriss ihrer alten Arbeitsstätte Privatpraxen aufgemacht hatten. Es war eine Geisterbahnfahrt an Selbstgefälligkeit, Arbeitsunlust und Inkompetenz. Eine Ärztin kam allen Ernstes mit verdreckten Gummistiefeln und der Rosenschere in der Faust in den Behandlungsraum. Ein anderer schickte mich mit der Bemerkung „Junge Leute müssen arbeiten!“ mit einem angebrochenen Handgelenk zurück in den Dienst. Ich müsste meine Glaubwürdigkeit also weit über Gebühr strapazieren, wenn ich behaupten wollte, das Kettwiger Provinzkrankenhaus sei eine Leuchte der Medizin gewesen.
Aber: Eines Tages klappte mein kleiner Bruder beim Spielen im Wohnzimmer plötzlich zusammen, hielt sich mit beiden Händen den Bauch und schrie. Mein Vater, geistesgegenwärtig, packte ihn, stürzte zum Auto und fuhr wie der Henker zum Kettwiger Krankenhaus. Er brauchte ganze vier Minuten. Mein Bruder hatte einen Blinddarm-Durchbruch. In einer Notoperation wurde sein Leben gerettet. Hätte mein Vater auch nur bis ins gerade einmal 14 Kilometer entfernte Essen-Werden fahren müssen, wäre der Zustand meines Bruders kritisch geworden. Eine Fahrt zum renommierten Krupp-Krankenhaus in Essen-Rüttenscheid hätte ihn vermutlich das Leben gekostet. Die Schlüsse, die aus dieser Episode zu ziehen sind, sind denkbar einfach: Im Notfall ist auch ein schlechtes Krankenhaus immer noch besser als gar keines, zumal, wenn es rasch zu erreichen ist. Und: Noch das schlechteste Krankenhaus ist nicht in allen Abteilungen schlecht, wie übrigens auch das beste Krankenhaus nicht in allen Abteilungen gut ist. Denn immerhin war die Operation ja ein Erfolg, mein Bruder kam nicht etwa mit zwei schimmernden Flügeln auf dem Rücken wieder zur Türe heraus und führt bis heute ein gesundes und erfülltes Leben.
Die Lügenwelt der ReformerInnen
Die noch immer gültige Regel, dass in Deutschland kein Notfalltransport zum Krankenhaus länger als 30 Minuten dauern darf, ist denn auch ein echtes Hindernis bei der geplanten Durchökonomisierung und partiellen Zerschlagung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Entsprechend häufig wird sie angegangen, nicht nur von PolitikerInnen. Im Januar 2014 beispielsweise verkündete der Vorsitzende der AOK (wiederum) in Baden-Württemberg, ein Herr Hermann, öffentlich: „100 Kilometer zur Klinik sind zumutbar“. Es wird an seiner Zerstreutheit gelegen haben, dass er vergaß hinzuzufügen: „… zumutbar für andere, natürlich nicht für mich!“ Man hätte außerdem gerne erfahren, aufgrund welcher neuen medizinischen Erkenntnisse Herr Hermann zu seiner gewagten These kam.
Aber weit ist es ohnehin nicht her mit der Wahrheitsliebe der neoliberalen GesundheitsreformerInnen. Als 2020 die Linke im Bundestag eine Anfrage stellte, wie es um drohende Klinikschließungen während der Pandemie stehe, schickte Jens Spahn einen Staatssekretär vor, der allen Ernstes behauptete, man wisse nichts von Klinikschließungen. Kurz danach verkündete Spahn, auf dem Lande wolle man ohnehin keine Kliniken schließen. Es gehe nur um den Abbau der Überkapazitäten in den großen Städten. Auch das war, mit Verlaub, gelogen.
Krankenhausschließungen sind in Deutschland derart unpopulär, dass ihre BefürworterInnen ständig neue argumentative Haken schlagen müssen, um sie zu rechtfertigen. Die mangelnde Qualität von Provinzkrankenhäusern ist am Ende auch nur ein weiterer dieser Hakenschläge. Das wird insbesondere an folgendem Umstand deutlich: Zwar werden Krankenhäuser überall im Land sehr wohl geschlossen und sogar abgerissen. Von der zu ihrem Ersatz geplanten Struktur an „Gesundheitszentren“ dagegen fehlt jede Spur. Nachdem 2020 im Essener Norden gleich zwei Krankenhäuser geschlossen worden waren, gründete man dort in der Not sogar „Gesundheitskioske“ (!), um der drohenden Unterversorgung zumindest leidlich abzuhelfen. Ich bezweifle allerdings, dass meinem Bruder damals mit einem frischen Pflaster oder zwei Aspirin geholfen gewesen wäre.
Und schließlich muss die Frage erlaubt sein, warum denn wohl manche Provinzkrankenhäuser in einem derart üblen Zustand sind? Könnte es vielleicht etwas mit ihrer Finanzierung zu tun haben? Oder der Ausbildung und Auswahl ihres Personals? Krankenhäuser zu schließen, weil sie schlecht arbeiten, ist in etwa so, als würde ein Arzt ein geschwächtes Bein amputieren, anstatt es zu trainieren. Die Einführung der diagnosebedingten Fallpauschale zur Krankenhausfinanzierung im Jahr 2003 allerdings hatte ausdrücklich zum Ziel, kleinere Standorte unlukrativ und gleichzeitig die Gesundheitsversorgung für PrivatinvestorInnen interessant zu machen.
Der Abschied Jens Spahns vom Gesundheitsministerium dürfte die Lage nicht verbessern. Denn der Architekt der Umgestaltung, damals noch unter einer rot-grünen Bundesregierung, war ein gewisser Karl Lauterbach (SPD), der aktuelle Bundesminister für Gesundheit. Eine Rückkehr zur kostendeckenden Krankenhausvergütung (statt der diagnosebedingten Fallpauschale), zur ehemals hochwertigen öffentlichen Ausbildung von Pflegepersonal, ein damit einhergehendes Ende der Privatisierungen und Öffentlich-Privater Partnerschaften, menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der Pflege und die Abkehr von dem Wahn, eine allgemeine Gesundheitsversorgung müsse nach den gleichen Profit-Regeln organisiert werden wie der Coca-Cola-Konzern, könnten dagegen einiges besser machen. Die Umsetzung der größenwahnsinnigen neoliberalen Reformpläne dagegen wird, so viel steht schon jetzt fest, Menschenleben kosten. Wer das nicht einsehen will, dessen Handeln dürfte am Ende nur noch von drei Faktoren motiviert sein: Karrierehunger, Geldgier und ideologischer Starrköpfigkeit.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.