Rolf Gössner: Datenkraken im öffentlichen Dienst. »Laudatio« auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Mit Gastbeiträgen von Gerhart Baum, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Heribert Prantl. PapyRossa Verlag, Köln 2021, 366 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-89438-753-2
In den letzten zwei Jahrzehnten haben nicht nur die technischen Möglichkeiten für Überwachung und Datensammlungen zugenommen, sondern auch die praktischen Anwendungen werden mehr und mehr. Im Buch „Datenkraken im öffentlichen Dienst“ wird einmal mehr beeindruckend deutlich, an welchen verschiedenen Stellen der Staat sich zum Überwachungsstaat entwickelt. Rolf Gössner hat hier seine Laudationes aus den letzten 20 Jahren „Big Brother Award“ zusammengestellt.
Beginnend mit dem Preis von 2020 für die Bundesregierung zur Unterstützung des US-Drohnenkriegs reist das Buch Jahr für Jahr in die Vergangenheit. Mir wurde klar, dass manche der Maßnahmen, mit denen wir uns heute konkret herumschlagen müssen, wie beispielsweise Identifikationspflicht für den Telefonkauf, Fingerabdrücke in Ausweisdokumenten, Vorratsdatenspeicherung oder gemeinsame Dateien von Polizei und Verfassungsschutz, schon 2001 angedacht waren und in den letzten zwei Jahrzehnten nach und nach umgesetzt wurden – unter wechselnden Innenministerien, aber immer in die gleiche Richtung. Da schimmert auf, dass unabhängig von der konkreten Regierung der Staat einen langen Atem hat. Es wird auch deutlich, dass die Geschwindigkeit der neuen Überwachungsmaßnahmen eher zugenommen hat.
Themen der Preisreden sind die militärische Nutzung von Daten für Cyber- und Drohnenkrieg, an einer Stelle auch mal die Arbeitsagentur, die alles über Leistungsempfänger*innen speichert, aber immer wieder auch die gefährliche Arbeit der Geheimdienste, die mit den technischen Möglichkeiten auch immer mehr rechtliche bekommen und zu einer einzigen Datensammlung werden. Mit diesen Datensammlungen werden beispielsweise durch Terrorlisten auf EU-Ebene teilweise ganze Existenzen zerstört. Auch die Innenministerien und Polizei sind immer wieder Thema, durch Vorratsdatenspeicherungen, rassistische Kontrollen, fragwürdige Ermittlungsmethoden und präventive „Gewalttäterdateien“.
Ich fand es beim Lesen bedauerlich, dass erst die Analyse am Ende des Buches die einzelnen beleuchteten Aspekte zu einem Gesamtbild zusammenfasst. Das Problem an der Zusammenstellung der Reden erscheint mir, dass immer nur einzelne Facetten angesprochen werden und andere eher am Rande aufscheinen. Die Analyse am Ende des Buches zum Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat ist lesenswert, zutreffend und oft erschreckend. Sie beschreibt einen Staat, in dem Militär, Geheimdienste und Polizeien aufgerüstet werden und auch immer mehr zusammenwachsen und Grundrechte immer weniger interessieren.
Im letzten Abschnitt des Buches wird überlegt, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmenpakete haben könnten, um diese Entwicklung weiter zu beschleunigen – mit durchaus interessanten Gedanken jenseits von Corona-Leugner*innen, die leider einen Teil der Debatte gekapert haben. Es steht aber zu befürchten, dass die Entwicklung zu mehr Sicherheitsstaat auch in den nächsten Jahren unbegrenzt weitergeht.
Rolf Gössner kritisiert viele der Entwicklungen in der Demokratie in Richtung Überwachungsstaat, stellt jedoch Regierungen nicht grundsätzlich in Frage. Das fand ich manchmal anstrengend, weil ich die einzelnen mit dem „Big Brother Award“ ausgezeichneten Maßnahmen des Staates mehr als Spitze des Eisberges wahrnehme, mit welchem der Staat seine Herrschaftssicherung betreibt. Aus meiner Sicht ist es notwendig, die herrschenden Verhältnisse insgesamt zu überwinden. Nichtsdestotrotz ist es natürlich wichtig, die Entwicklungen wahrzunehmen und zu analysieren – wozu das Buch einen Beitrag leistet.