Buchbesprechung

Hoch der intersektionale Feminismus!

Grundlagenwerk feministischer Theorie mit Praxisbezug

| Jonathan Eibisch

Verónica Gago: Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern, Unrast Verlag, Münster 2021, 288 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-89771-335-2

Schon Anfang letzten Jahres erschien die deutsche Ausgabe von Für eine feministische Internationale. Die Autorin Verónica Gago ist Professorin für Soziologie in Buenos Aires und nimmt eine ähnliche Rolle ein wie Alicia Garza für die „Black Lives Matter“-Bewegung. (1) Bekannt ist, dass der Frauen*Streik insbesondere von Argentinien ausgehend eine neue Welle globaler feministischer Mobilisierungen angestoßen hat, deren wesentliche Forderungen – Recht auf Schwangerschaftsabbruch und sexuelle Selbstbestimmung, Beendigung patriarchaler Gewalt und der Ausbeutung unbezahlter oder schlecht bezahlter weiblicher Sorge-Arbeit – schon vorher berechtigt waren. Gerade anhand des jüngeren Feminismus, der zugleich radikal und subversiv sowie eine populäre Massenbewegung ist, bilden sich die Konfliktlinien zwischen progressiv-emanzipatorischen und reaktionär-konservativen politischen Lagern deutlich ab. Während in Argentinien auf Druck der „Ni Una Menos“-Bewegung im letzten Jahr Abtreibung tatsächlich legalisiert wurde, wurde sie in Polen im gleichen Zeitraum nochmals verschärft und ist in zahlreichen anderen Ländern aktuell umstritten. Doch in der neuen Welle feministischer Mobilisierung geht es um weit mehr – wenn man Gagos Buch folgt, darum, wie wir alles verändern.

Die situierte Praxistheorie des Kartografierens

Und für diesen umfassenden Transformationsprozess liefert die Autorin, welche die „Ni una menos“-Bewegung selbst mitbegründet (2) und damit der feministischen Streikbewegung einen neuen Schub gegeben hat, die politische Theorie. Für eine feministische Internationale ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie die Verbindung zwischen Praxis und Theorie als wechselseitiger Prozess gelingen kann. Darin wird eine involvierte und leidenschaftlich engagierte wie gleichermaßen theoretisch unterfütterte und auf verallgemeinerte Anwendung bezogene Perspektive entfaltet, die sich als Ergebnis langjähriger feministischer Theorieentwicklung in deren Tradition stellt. Gago interpretiert die Ereignisse, Praktiken, Subjekte, Organisations-, Aktions- und Ausdrucksformen der feministischen Bewegung und verortet sie in einem großen Kontext, wodurch eine Reflexion und Weiterentwicklung möglich wird. Feministische Aktivist*innen und Sympathisierende sollten sich die Zeit nehmen, ihr Buch zu lesen und miteinander zu besprechen. Es lohnt sich und verdeutlicht meiner Ansicht nach zudem, wie wichtig es ist, dass soziale Bewegungen mit politischer Theorie unterfüttert sind.
Mit den Begriffen Kartografierung und Situiertheit beschreibt Gago eine Variante, feministische Theorie zu denken. Unter ersterem versteht sie das Sichtbarmachen – und also das Politisieren – von patriarchaler Gewalt und Sorge-Arbeit. Als situiert beschreibt sie eine Wissensform, die mit Erfahrungen, Emotionalität und daher auch mit Körperlichkeit verbunden ist. Dementsprechend thematisiert sie unter der Kapitelüberschrift „Körper-Territorium: Der Körper als Schlachtfeld“, wie alltägliche strukturelle Gewalt letztendlich immer von konkreten Einzelnen erfahren wird und sie betrifft. Daher sind umgekehrt aber auch die unterworfenen, ausgebeuteten, erniedrigten Körper die Ausgangspunkte von Widerständigkeit und Subversion. Und darüber hinaus werden Kartografieren und Situieren für die feministische Sozialwissenschaft analytische Methoden, um eine politische Theorie zu entwerfen, welche von den tatsächlichen Vorgängen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen ausgeht und auf diese zurückwirkt. Gago spricht hierbei auch von einer „kollektiven Intelligenz“, welche in den Versammlungen entsteht und wirkt. Darin wohlwollend Potenziale zu sehen, ist begrüßenswert. Nicht vergessen werden sollte aber, dass Massen auch träge und verdummend sein können …
Dies sehen wir nicht zuletzt in der vehementen anti-feministischen Reaktion, welche durch die feministische Theorie in einem anderen Licht erscheint: Katholische und evangelikale Kirchen, neoliberale Wirtschaftseliten und nach wie vor mit den staatlichen Repressionsapparaten verbundene Faschisten verbünden sich zum Gegenangriff auf das „Gespenst des Feminismus“, wie dies besonders deutlich unter der Regierung Bolsonaro in Brasilien zu Tage tritt. (3) Mit dem neurechten Kampfbegriff der „Gender-Ideologie“ wurde der Feminismus als „innerer Feind“ ausgemacht, den es religiös, ökonomisch und militärisch zu bekämpfen gelte. – Unter anderem diese Perspektive des Buchs ist es, in der eine explizit strategische Denkweise zum Ausdruck kommt, von der sich Aktive im deutschsprachigen Raum inspirieren lassen sollten.

Verbinden, was zusammengehört

Die Autorin wendet marxistische Argumentationsgänge in Hinblick auf Klassengesellschaft, Ausbeutung und Entlohnung nicht als verkrustete Doktrin, sondern als praktisches Analysewerkzeug an. Ihr Feminismus speist sich aus den Theorien von Silvia Federici, Wendy Brown und Maria Mies. Insbesondere erstere ist in der autonomen und anarchistischen Tradition zu verorten, in welcher die Kritik am Patriarchat mit der an Kapitalismus und Staat zusammen gedacht wird. Verschiedene Achsen der Unterdrückung zusammen zu denken, entspricht der Intersektionalitätstheorie, für welche auch Angela Davis und Audre Lorde stehen, welche im Buch erwähnt werden. In der viral gegangenen, inzwischen legendären Performance aus Chile „Der Vergewaltiger bist du“ kommt dieses neu erstarkte, inhaltlich anarchistische Verständnis zum Ausdruck. So heißt es in einer Zeile: „El Estado opresor es un macho violador“ („Der Unterdrücker-Staat ist ein machistischer Vergewaltiger“). (4) In diesem Zusammenhang ließe sich auch gut an das politische Denken John Holloways anschließen, was Gago jedoch nicht tut. Sie bezieht sich allerdings auf das radikal-demokratische Demokratieverständnis in der Linie von Baruch de Spinoza, Jacques Rancière und Ernesto Laclau, indem sie einen Gegensatz zwischen der konstituierenden Handlungsmacht feministischer Bewegung als potentia und der verfestigten Herrschaftsmacht des patriarchalen Staates aufmacht. Die Aufzählung erfolgte an dieser Stelle nicht, um Name-Dropping zu betreiben, sondern weil ich damit deutlich machen möchte, dass ich Für eine feministische Internationale als ein wichtiges Grundlagenwerk für die feministische politische Theorie ansehe.
Darüber hinaus bedient sich die Autorin der Revolutionstheorie Rosa Luxemburgs, welche mit dem Konzept der revolutionären Realpolitik eine Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes von revolutionären und reformerischen Strategien denkbar machte. Hierbei könnte Gago allerdings auch noch einen Schritt weiter gehen. Denn ebenso wie die mögliche Verbindung von Radikalität und Popularität sozialer Kämpfe ist jene zwischen Revolution und Reform gerade ein Markenzeichen anarch@syndikalistischer Bewegungen, wie sie traditionell mit der argentinischen FORA (5) verbreitet war. Damit zeigt sich, dass Gago eine linke Denkerin bleibt, auch wenn die feministische Bewegung gerade in lateinamerikanischen Ländern sehr stark anarchistisch geprägt ist. In der Staatskritik gehen die zeitgenössischen radikal-feministischen Strömungen beispielsweise über Luxemburg hinaus, indem sie nicht lediglich eine Verbindung zwischen parlamentarischer Parteipolitik und außerparlamentarischer Bewegung anstreben, sondern faktisch neue Versammlungsorte und Strukturen der Selbstorganisation schaffen – und damit meiner Ansicht nach auch das patriarchale Moment des Politischen untergraben, statt sich dieses lediglich feministisch anzueignen.

Plurinationaler Feminismus als sozial-revolutionäre Kraft des 21. Jahrhunderts

Verbindungen zu schaffen, wird von Gago auch als „Transversalität“ begriffen. Damit ist nicht nur das strategische Bündnis von Frauen, Lesben, Travestis und Transpersonen im Sinne eines Zusammenschlusses von vermeintlich vorab kategorisierten sozialen Gruppen gemeint. Vielmehr geht es um die Überschreitung der jeweils zugewiesenen Positionen, um die aktive Verbindung von Menschen in verschiedenen sozialen Positionen, Lebenslagen und sexuellen Identitäten. Gerade indem Differenzen anerkannt werden, können sie auf Augenhöhe verhandelt und in einem Prozess des Streitens und Lernens vermittelt werden. So wurde und wird mit dem Frauen*Streik auch die herkömmliche Definition von Streik und damit die traditionelle Rolle der Gewerkschaften in Frage gestellt. (6) Statt diesen lediglich vom sozialen Kampf innerhalb der Kategorien von Lohnarbeitsverhältnissen als Gegenpol zum Kapitalismus ausgehend zu denken, ermöglichen die Thematisierung der feminisierten „popularen“ Ökonomie (Hausarbeit, Sorge- und Pflegearbeit, emotionale Arbeit) und eine Organisierung entlang dieser Konfliktlinie neue Formen sozialer Kämpfe. In Für eine feministische Internationale werden Staat, Kapitalismus, weiße Vorherrschaft und Patriarchat als miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse gedacht – welche im Prisma des Feminismus zugleich abgebaut werden sollen. Dementsprechend stellt sich der zeitgenössische Feminismus als pluri- und transnational heraus, da er im Nationalstaat keinen primären Bezugspunkt mehr sieht. Setzen wir alles daran, den Feminismus als als sozial-revolutionäre Kraft des 21. Jahrhunderts weiter zu entwickeln.