Die Aktiven des Zeitungs- und Buchverlags Graswurzelrevolution trauern um Jochen Stay, der am 15. Januar 2022 im Alter von 56 Jahren plötzlich verstorben ist.Von 1989 bis 2008 als regelmäßiger Autor und von 1990 bis 1995 als Koordinationsredakteur hat er die Entwicklung der Graswurzelrevolution (GWR) als Monatszeitung für eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft mitgeprägt. Seine Erfahrungen aus der Graswurzelbewegung kamen ihm auch bei der Entwicklung der Kampagne „.ausgestrahlt“ zugute, für die er sich bis zuletzt stark gemacht hat. Jochen, Du fehlst uns.Mit zwei Nachrufen in dieser Ausgabe wollen wir an unsere gemeinsame Zeit erinnern. (Red.)
Wir hatten für die Graswurzelrevolution nach einem kontroversen inhaltlichen Richtungsstreit um die Zukunft der Zeitung, bei dem sich die gewaltfrei-anarchistische Strömung durchsetzen konnte, gerade eine neue Redaktion in Heidelberg aufgemacht. Dort traf sich der neu gegründete Herausgeber*innenkreis der Zeitung, der nun ein autonomes Projekt, unabhängig von der noch bestehenden Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) geworden war, sich letzterer aber weiter verpflichtet fühlte. Es war ein Souterrain-Stockwerk, in dem eine Initiativengemeinschaft, bestehend aus der GWR-Redaktion, dem örtlichen Heidelberger Friedensbüro und der lokalen Videofilm-Gruppe „Schrägspur“ – es gab damals eine florierende linke Videofilmszene, an die im heutigen digitalen Zeitalter kaum noch erinnert wird – arbeitete.
Redaktionsarbeit in Heidelberg
In der neuen Hauptredaktion arbeitete ich zunächst als einzelner Redakteur freiwillig, erst kostenlos, selbst finanziert durch meinen Unijob, dann gestützt durch spontane Spenden aus unseren eigenen Reihen. Die Artikel diskutierten einige an der Zeitungsarbeit Interessierte aus der damals sehr aktiven FöGA-Ortsgruppe, der „Gewaltfreien Aktionsgruppe Regenbogen“.
Zur täglichen Arbeit kamen vereinzelt auch Bewegungsaktivist*innen jeweils kurze Zeit hinzu, die von der neu eingerichteten Redaktion erfahren hatten. Eine davon sprach mir gegenüber von dem Mutlanger Langzeitaktivisten Jochen, der nun wieder in seine Geburtsstadt Mannheim zurückgekehrt war und sich für die neue Redaktion interessiere, seit Anfang 1989 auch schon mal erste Artikel für die Zeitung beigesteuert hatte. Seine Artikel drehten sich nun aber nicht mehr um Antimilitarismus und die Atomraketen, sondern um direkte gewaltfreie Aktionen gegen die „zivile Nutzung der Atomenergie“, weil er sich zwischenzeitlich am Widerstand gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf beteiligt hatte, deren Bau gerade vom Konzern VEBA 1989 aufgegeben worden war. (1) Auf dieser Basis einer gelegentlichen Mitarbeit lernte ich Jochen in der Redaktion kennen und schnell schätzen, vor allem aufgrund seiner oft witzigen Bemerkungen, seiner ansteckend guten Stimmung und seines mitreißenden Optimismus, was die Widerstandsperspektiven anbetraf. Er war eine Frohnatur – und das war damals beim kräftezehrenden Produktionsprozess der GWR auch sehr vonnöten, denn in der letzten Woche vor Druck machten wir dann regelmäßig die Nächte durch, oft fünf oder sechs am Stück. Aus der gelegentlichen wurde eine ständige Redaktionsarbeit.
Timeworks, durchgemachte Nächte und Massenzeitung
Wir befanden uns damals in der Frühzeit des Computerzeitalters, tippten und druckten die Artikel mit der ersten Generation Atari und den Programmen Timeworks und Calamus, falls die noch jemand kennt. Mit unserer Atari-Ausrüstung rückten wir noch 1993 nach Magdeburg zum ersten Jugendumweltfestival „AufTakt 93“ an, dem Urknall der Jugendumweltbewegung, und machten dort die Festivalzeitung. Jochen hatte ein Gespür dafür, was mensch mit einer Bewegungszeitung alles machen konnte und wie damit die Bewegung voranzubringen war.
Eine frühe Umsetzung seiner geradezu sprudelnden Ideen war das von ihm stammende Konzept der GWR-Massenzeitung (später „Aktionszeitung“) als 4- oder 8-seitige Aktionsmobilisierungszeitung im herausnehmbaren Innenteil der GWR, die wir in großer Extraauflage druckten, damit sie in damals noch florierenden linken Buchläden oder Szenekneipen verteilt werden konnte. Eine erste Massenzeitung war „Kein Krieg am Golf“ in GWR 152 vom Januar 1991 zur Mobilisierung für die Blockade an der Frankfurter Air-Base 1991 mitsamt einer Demo von 10.000 Menschen. Die Blockade-Demo wurde zur Initialzündung der damaligen Anti-Golfkriegs-Bewegung 1991, (2) an die schon niemand mehr geglaubt hatte, denn die Friedensbewegung war entschlafen und die Startbahnbewegung durch die Repression nach den tödlichen Schüssen gegen Polizisten vom 2. November 1987 tot. Es folgte eine Massenzeitung mit einer Auflage von 40.000 Exemplaren (die Normalausgabe der GWR lag bei 3.600 Stück) zu gewaltfreien Aktionen für den 6. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl: „Tschernobyl ist überall“ – als Innenteil der GWR 165 vom April 1992.
Damit hatte Jochen ein Mobilisierungsmodell für seine von ihm mitgeprägten Kampagnen über die nächsten Jahre hinweg gefunden. Aus der Mutlanger Zeit hatte Jochen einen riesigen Bekanntenkreis und persönliche Kontakte, die er für seine Kampagnen mobilisieren konnte.
Er kam nie in unsere örtliche FöGA-Gruppe, denn in der FöGA mit ihrem Modell von verbindlichen gewaltfreien Aktionsgruppen, Koordinierungs-Delegiertenräten (Ko-Rat) auf bundesweiter Ebene, die in den 1980er-Jahren sehr gut funktionierte und soziale Bewegungen beeinflussen konnte, dann aber bis zu ihrer Auflösung 1997 in eine Krise geriet, sah er keine Möglichkeit für Massenmobilisierungen mehr. Sein Kampagnenmodell entwickelte er als Anschreiben seiner persönlichen Kontakte (manchmal despektierlich „Seilschaften“ genannt), die dann Aufrufe zu gewaltfreien Aktionen mit Ausfüllen und Zurückschicken von Selbstverpflichtungserklärungen für eine Blockade oder andere gewaltfreie Aktion verteilten, etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt, einem Tag X zum Aktionscamp nach Gorleben zu kommen, wo dann vor Ort nach Trainings in gewaltfreier Aktion „Bezugsgruppen“ für die kommende Massenaktion gebildet wurden.
Es war eine schöne Zeit damals in Heidelberg, trotz – oder gerade wegen – der vielen durchgemachten Nächte. Ums Essen kümmerten wir uns, wenn wir Hunger bekamen, Getränke besorgten wir uns in der nahe gelegenen Tanke, deren Shop die ganze Nacht aufhatte und von uns schnell hoch frequentiert wurde. Jochen kaufte sich dort pro Nacht mehrere Tüten Kartoffelchips, sein damaliges Lieblingsessen, von dem er fast die ganze Woche lebte.
Wir beide nahmen dann die ausgedruckten Spalten der Artikel im Zug mit nach Stuttgart, wo wir die nächste Nacht in der Werkstatt von Johannes Sternstein und Maren Witthoeft verbrachten, die der GWR gerade ein neues, wunderschönes, von Letternkunst beeinflusstes Layout verpasst hatten. (3) Johannes und Maren klebten die Spalten auf riesige Druckvorlagen, die wir dann noch mal Korrektur lesen mussten, denn es kam schon mal vor, dass ein Schnipsel falsch geklebt war. So verbrachten Jochen und ich noch eine zusätzliche Nacht in Stuttgart, bevor wir heimkamen. Im Anschluss an diese durchgemachte Zeit von ca. fünf bis sechs Nächten (und Tagen) legten wir uns schlafen und überboten uns dann angeberisch in der Stundenzahl des langen Ausschlafens, zu dem wir endlich gekommen waren.
Gegen Atomkraft, Rassismus und Krieg
Selbst schrieb Jochen keineswegs nur zu seinem Schwerpunkt Anti-AKW-Bewegung, sondern auch viel über den damaligen Pogrom-Rassismus, den wir vor allem im Vorfeld der Bundestagsblockade zur Verschärfung des Asylrechts 1993 kritisch analysierten. Ein Pogrom fand damals auch mehrere Tage lang in Mannheim-Schönau statt.
Aktuelle Kurzartikel über Anti-AKW-Konferenzen oder die – mit unseren Massenzeitungen im Vorfeld beworbenen – gewaltfreien Aktionen zur Blockade der Castor-Transporte nach Gorleben, u. a. aus den süddeutschen AKWs Philippsburg und Neckarwestheim, zeichnete er noch lange mit dem Kürzel „jost“. (4)
Viel später, als Jochen auch kritisiert wurde, weil er etwa plötzlich beim Slogan „Sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke“ das „Sofortige“ rausließ, fragten sich einige von uns, ob er überhaupt jemals bewusst Anarchist gewesen wäre. Für die Zeit der Heidelberger Redaktion kann ich das klar bejahen. Er war kein anarchistischer Büchernarr, aber seine pragmatische Herangehensweise hinderte ihn nicht, sich der anarchistischen Bewegung zugehörig zu fühlen.
Auf dem Weg zur anarchistischen Gesellschaft
In seinem Kommentar zu den Zweiten Libertären Tagen 1993 (nach den Ersten 1987) mit über 2.000 Teilnehmer*innen in Frankfurt, wo es heftige Auseinandersetzungen um sexistisches Verhalten anarchistischer Männer gegeben hatte, schrieb der unverbesserliche Optimist Jochen eine „Verteidigungsrede“
der Veranstaltung, in der zu lesen war:
„Mehr davon! Wie schön, endlich mal innerhalb kurzer Zeit verschiedenste Beispiele libertärer Kunst erleben zu können. (…) Wie bereichernd, anarchistische Projekte und die Menschen, die dazugehören, kennenzulernen. (…) Welch ein Anblick, eine mit schwarz-roten Fahnen geschmückte Demo durch die Bankenmetropole zu erleben. (…) Da waren eine Menge Leute, die sich nicht mit den zahlreichen Mängeln der Veranstaltung und dem Verhalten der Leute abgefunden haben. Diese Leute haben versucht, was zu verändern. Die haben sich zumindest auf den Weg gemacht, zur anarchistischen Gesellschaft.“ (5)
Jochen war mit Leib und Seele dabei. Die wunderbare Zeit in Heidelberg mit ihm endete für mich mit dem Umzug der Hauptredaktion in die Kurve Wustrow im Wendland, wo er ab Ende 1992 eine Lebensgemeinschaft, das „Wendland-Projekt”, aufbauen wollte. (6) Die Redaktion ist bis 1995 in der Kurve Wustrow geblieben. Die Heidelberger Redaktion wurde zur „Süd-Redaktion“, daneben gab es noch eine „Nord-Redaktion“ in Bremen. Diese Struktur mit Regionalredaktionen ließ sich im Impressum der GWR noch bis 1999 wiederfinden.
Der Nachruf von Bernd Drücke findet sich hier:
Mensch, Vater, Anti-Atom-Aktivist, Autor, Anarchist
(1) Zur Geschichte des Widerstands in Wackersdorf aus unserer damaligen Sicht siehe: Squonk: „Wackersdorf. Von der ersten bis zur letzten Demo? Ein Rückblick nach vorn“, in: GWR 134, Mai 89, S. 1, 4.
(2) Vgl. dazu: „30 Jahre Zweiter Golfkrieg 1991“, in: GWR 456, Februar 2021, S. 15.
(3) Mein layouterisches Highlight von Johannes Sternstein war gerade die Ausgabe zum Ende von Wackersdorf, der Titel zu GWR 134.
(4) Ein Beispiel: jost: „Gorleben und kein Ende“ zu einem Transport aus Philippsburg, in: GWR 192, November 1994, S. 4, unter Aktuelles.
(5): Jochen Stay: „Mehr davon! Eine Verteidigungsrede“, Sonderseiten zur Auswertung der Libertären Tage, in: GWR 178, Mai 1993, S. 5.
(6): Jochen: „Neues von der Redaktion ...“, in: GWR 168, September 1992, S. 18.