Cécile Lecomte ist seit vielen Jahren im Herausgeber*innenkreis der Graswurzelrevolution (GWR) aktiv und schreibt regelmäßig Artikel zu verschiedenen sozialen Bewegungen. Zum 50-jährigen Bestehen der GWR geht sie im Interview auf die internen Abläufe und Veränderungen ein. (GWR-Red.)
GWR: Wie hast du die Zeitung kennengelernt, und was bedeutete die GWR damals für dich?
Cécile: Ich habe Wolfgang Hertle kennengelernt, als ich 2003 angefangen habe, mich in der internationalen Vernetzung des Anti-Atom-Widerstandes zu engagieren. Ich erzählte ihm, wie die Geschichte des gewaltfreien Widerstandes im Larzac mein politisches Engagement präge. Er schenkte mir alte GWR-Nummern mit Artikeln über den Larzac. Das hat mich beeindruckt, mir Lust gemacht, mich mehr mit der Vergangenheit und Gegenwart von politischen Bewegungen sowie mit Theorie und Praxis zu beschäftigen.
Du bist vor allem in der Klimabewegung aktiv, aber auch in vielen anderen Zusammenhängen. Wie siehst du das Verhältnis zwischen der Zeitung und den sozialen Bewegungen?
Ich finde es wichtig, dass es Bewegungsjournalismus mit kritisch-solidarischer Berichterstattung gibt. Dass über Proteste der Gegenwart, aber auch über die Vergangenheit, über die Geschichte von sozialen politischen Bewegungen – aus libertärer emanzipatorischer Perspektive – berichtet wird. Journalistisch tätige Menschen, die sich selbst als Teil dieser Bewegungen begreifen und oftmals darin sehr aktiv sind, bieten andere Einblicke in Bewegungen als Mainstream-Journalist*innen.
In den vergangenen Jahren hat sich die GWR an vielen Punkten schneller verändert als zuvor, vor allem durch die Digitalisierung. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Neuentwicklungen, seit du dabei bist?
Das Layout sah früher etwas „altbacken“ aus, das hat sich sehr zum Positiven verändert! Und ich finde es auch gut, dass die Inhalte über Social Media beworben werden, um mehr Menschen zu erreichen.
Der Herausgeber*innenkreis ist sehr vielfältig zusammengesetzt. Die Mitglieder decken eine große Altersspanne ab und verschiedene Lebensrealitäten, sie sind mit unterschiedlichen Schwerpunkten aktiv. Ist das ausschließlich eine Bereicherung, oder gibt es auch Konflikte?
Es ist für mich eine Bereicherung, mich mit so vielen Menschen mit so viel Wissen austauschen zu können.
Natürlich gibt es auch Konflikte. Das ist aber nicht unbedingt negativ zu sehen. Ich denke, in jeder Gruppe gibt es Konflikte. Wichtig ist es, diese zu bearbeiten, dass sie die gemeinsame Arbeit nicht lähmen.
Mir fallen spontan ein paar Beispiele ein für Themen, die immer mal wieder zu kleineren oder größeren Konflikten führen: die ewige Veto-Debatte, Fragen um die Gewaltfreiheit (Definition, Ansprüche), die Zugänglichkeit von Inhalten (Kritik an „Bleiwüste“ versus akademischer Anspruch).
Problematisch finde ich Konflikte, wenn sie sich um Personen drehen, an Personen festgemacht werden – sie verlaufen selten konstruktiv. Solche Konflikte gibt es hin und wieder auch bei der GWR.
Welche Veränderungen im Herausgeber*innenkreis würdest du dir wünschen?
Ich finde gut, dass im Herausgeber*innenkreis mehrere Generationen vertreten sind. Aber es fehlt schon noch an jüngeren Menschen mit ihren Perspektiven. Es mangelt im Herausgeber*innenkreis nach wie vor an Vielfalt: Er besteht überwiegend aus Akademiker*innen, es sind keine BiPoC, keine LGBTIQ-Menschen dabei.
Wie ist die Rolle von Frauen* im Herausgeber*innenkreis?
Es sind noch zu wenige Frauen* dabei. Aber immerhin deutlich mehr als noch vor zehn Jahren, als wir auf Herausgeber*innenkreistreffen manchmal nur zwei Frauen* waren. Die Redaktion ist auch weiblicher geworden. Das ist eine positive Entwicklung, die sich in den Inhalten wiederfindet. Ich denke zum Beispiel an die regelmäßigen Schwerpunkte zum feministischen Kampftag, über „unsichtbare Frauen*“ (März 2021), das A-Feminismus-Extrablatt (März 2020), oder auch im November 2021 zu „Gewalt gegen Frauen*“.
Was siehst du als die drängendsten Fragen, mit denen die GWR in die nächsten 50 Jahre starten sollte – sowohl von der Themensetzung her als auch in Form von strukturellen Neuerungen?
Die GWR ist von Beginn an an Themen dran, die auch in Zukunft von großer Bedeutung bleiben werden: Klima(kämpfe), Anarchismus, Antimilitarismus, politische Organisationsformen, soziale Bewegungen. Strukturell sollten wir uns intensiver mit der Digitalisierung beschäftigen und unseren Weg finden: digitalaffines Publikum ansprechen und dabei auf Datenschutz, digitale Sicherheit und Unabhängigkeit achten.
Was ist die Zielgruppe der GWR? Wie würdest du die Leser*innenschaft der GWR charakterisieren?
Das ist sehr divers. Anarchist*in-nen, Menschen, die sich für libertäre Theorie interessieren, Menschen aus verschiedenen sozialen politischen Bewegungen …
Ich habe mal gelesen, dass auch der Verfassungsschutz die GWR liest, fähig daraus zu lernen sind die Herrschaften jedoch nicht.
Wo siehst du die GWR in der Medienlandschaft angesiedelt? Was unterscheidet die GWR von anderen (nicht nur anarchistischen) Zeitschriften?
Die GWR ist nah bei sozialen politischen Bewegungen, sie ist libertär, unabhängig und gewaltfrei. Wichtige Unterschiede sind der Fokus auf Anarchismus und Gewaltfreiheit und die Tatsache, dass die Artikel ausschließlich Erstveröffentlichungen sind – alles sind Artikel, die mensch nicht bereits anderswo gelesen hat. Ansonsten kann ich es von der Arbeitsweise her nicht vergleichen, da ich nicht weiß, wie es bei anderen Zeitschriften abläuft.
Wie sieht die Zusammenarbeit von Herausgeber*innenkreis und Redaktion aus?
Wir treffen im Herausgeber-*innenkreis Entscheidungen möglichst im Konsens. Veto darf jede*r einlegen, es muss aber begründet werden. Die Redaktion hat vor allem eine koordinierende Rolle, über Inhalte entscheidet der Herausgeber*innenkreis gemeinsam. Die Redaktion übernimmt darüber hinaus viele wichtige Aufgaben wie Ausgabenplanung, Lektorat (und/oder Koordination dessen), Kommunikation mit Autor*innen und Leser*innen etc. Ich selbst mische mich eher inhaltlich ein, wenn es um Bewegungen geht, die ich gut kenne, z. B. Anti-Atom-, Klima-, Behindertenrechtsbewegung.
Vielen Dank für das Interview und den guten Einblick in die GWR-Abläufe!