Buchbesprechung

Wie die Landwirtschaft das Werden des Menschen beeinflusste

Die Menschheitsgeschichte anhand von Ackerbau und anderen Herrschaftsinstrumenten neu erzählt

| Franziska Wittig

Florian Hurtig: Paradise Lost. Vom Ende der Vielfalt und dem Siegeszug der Monokultur.Oekom Verlag, München 2020, 432 Seiten, 28,00 Euro, ISBN 978-3-96238-203-2

Der Begriff der Kultur kann Pflanzenkulturen in der Landwirtschaft meinen und menschliche Kultur im Sinne eines sozialen Miteinanders. Florian Hurtig hat ein spannendes Buch geschrieben, das beide Lesarten des Kulturbegriffs in Beziehung setzt. Ihm zufolge hat sich die Menschheit stets zusammen mit den Pflanzen und Tieren entwickelt, von denen sie lebte. Im Gespräch über das Buch erläutert Florian Hurtig: „Die Idee, dass der Mensch etwas Singuläres außerhalb jeder Naturbeziehung wäre, ist ein christliches Narrativ. Daraus resultiert die Vorstellung, dass der Mensch zwar andere Lebewesen nach seinen Bedürfnissen züchten könnte, dabei aber selbst stets der gleiche bliebe. Tatsächlich verändert der Mensch sich aber selbst gleichermaßen im Prozess der Veränderung von Pflanzen oder Tieren.“ Der Autor und Aktivist bezieht sich dabei auf den Begriff des „Miteinander-Werdens“ nach Donna Harraway. Er zeigt, dass unterschiedliche Pflanzen, die von Menschen kultiviert wurden, ganz verschiedene Kulturen, also Gesellschaftsformationen, hervorbrachten.

Wie aus dem Getreide der Staat erwuchs

Da die Esskastanie die früheste nachweislich kultivierte Frucht war, ist ihr das erste Kapitel gewidmet. Dem Buch zufolge brachte sie im mesolithischen Japan eine über 10.000-jährige egalitäre Kultur ohne Kriege und ohne Umweltübernutzung hervor. Florian Hurtig fasst seine Erkenntnisse zusammen: „Der Mensch ist zusammen mit der Esskastanie geworden und hat dabei eine recht friedliche Lebensform entwickelt. Später erst entwickelten sich im Nahen Osten die Getreidekulturen während des Neolithikums. Hier entstanden die ersten Staaten der Welt. Das ist kein Zufall, auch wenn nicht der Fehler gemacht werden darf zu sagen, dass Getreideanbau automatisch zu Herrschaft führen würde. Er bringt aber verschiedene Gegebenheiten mit sich, die die Bildung von Herrschaft begünstigen. Ackerbau ist in der Regel eine harte, monotone und unangenehme Arbeit, die man gerne auf andere abwälzt. Zweitens eignet sich Getreide in idealer Weise als Steuerfrucht, da es lagerbar ist. Zudem ist die Ernte gut anhand der Fläche zu errechnen, und es lässt sich gut teilen. Der mit dem Getreide gewordene Mensch war ein ganz anderer als der mit der Esskastanie gewordene Mensch.“ Ausgehend von der Steinzeit legt Florian Hurtig in diesem umfangreichen Sachbuch anhand vieler quer durch verschiedene Regionen, Zeiten und Kulturen gehender Beispiele dar, dass der Anbau von besteuerungsfähigen Getreiden im Laufe der Jahrtausende zu Machtballungen in Form von Monopolen und damit auch immer stärker zementierten Herrschaftsstrukturen führte. Durch großflächige Landnutzung bis hin zu Monokulturen wurde der Einsatz von „Monotechniken“, also einheitlichen Bewirtschaftungsformen, die aus der Ferne gesteuert werden können, möglich.

Die kapitalistische Übernahme kollektiven Landeigentums

Ein Kapitel des Buches ist der Entstehung des Kapitalismus gewidmet. Florian Hurtig zufolge gibt es einen starken Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Kapitalismus und der Monotonisierung der Landnutzung. Die vielfältige Landschaft des europäischen Mittelalters war geprägt durch die kleinen Felder der Kleinbäuer*innen und die Allmenden. Dieses gemeinsame Land der Dorfgemeinschaften wurde von allen gepflegt und von allen genutzt. Florian Hurtigs Recherchen zufolge ermöglichten dort ausgeklügelte und vielfältige Anbausysteme unter Einbeziehung von Baumkulturen teilweise sechs oder mehr Ernten. Als im Frühkapitalismus Wolle für die Tuchproduktion gebraucht wurde, wurden diese Allmenden enteignet, um auf den so frei werdenden Flächen Schafe zu halten. „Diese ‚Ursünde des Kapitalismus‘ war nicht nur eine Enteignung des Landes der Kleinbäuer*innen, sondern auch eine Enteignung ihrer Lebensweise. Auf den Allmenden wurde gefeiert und gelebt. Es waren Orte, an denen insbesondere Frauen sich organisierten. Und es waren Orte der kollektiv-selbstverwalteten Selbstorganisierung. Die Enteignung zog überall sehr viel Widerstand nach sich. Die Bauernkriege fanden in verschiedenen Wellen statt. Die Forderungen richteten sich stets auch gegen die Einhegungen der Allmenden. Um diese Aufstände, die oft von Frauen angeführt waren, niederzuschlagen, wurden in Deutschland Hexenverbrennungen als gezielte Terrorkampagne eingesetzt oder in England Menschen gefangen genommen und in die neuen Kolonien verfrachtet. Die Vielfalt der Allmenden ging so verloren und mit ihr ein kollektiv-selbstbestimmtes Tun der Subsistenzwirtschaft der gemeinen Leute“, erläutert Florian Hurtig. Industrielle Monokulturen und der Krieg gegen die Kleinbäuer*innen Ein weiteres Kapitel des Buches beschäftigt sich mit der besonderen Härte der monokulturellen Landnutzung infolge des Kolonialismus, die geprägt war durch Plantagen, die Zerstörung indigener Waldbausysteme und natürlich auch Sklaverei. Unter der Überschrift „Industrielle Landwirtschaft“ geht es anschließend unter anderem um den Einsatz von Maschinen (Getreide-Kohle-Komplex), Agrochemie, zunehmende Marktmacht, Saatgutpolitik und auch die großflächigen Monokulturen in den staatskapitalistischen Systemen des real existierenden Sozialismus. „Man muss wissen, dass die russischen Kleinbäuer*innen ihre eigene Revolution gemacht hatten und ihr kollektiviertes Land lange Zeit gegen die Sowjets verteidigten, welche als Überfallkommandos und Getreidebeschaffungsbrigaden in Erscheinung traten“, fasst Florian Hurtig den Abschnitt des Buches zusammen. „Der Krieg gegen die Kleinbäuer*innen wurde militärisch geführt. Die Sowjets brauchten Getreidesteuern, um das aufkommende Industrieproletariat zu versorgen. Die Kleinbäuer*innen wurden nun Arbeiter*innen auf den Kolchosen und Sowchosen, die am Reißbrett und in unglaublichen Dimensionen geplant wurden. Um diese Felder zu planen, engagierten die Sowjets hunderte von US-amerikanischen Agraringenieuren. Das größte solchermaßen entworfene Feld wurde auf zweihunderttausend Hektar geplant – von einem Hotelzimmer in Chicago aus. Das musste natürlich in die Hose gehen – was es dann auch tat.“ Nachdem zwangsläufig ein Kapitel über die Grüne Revolution und die Extreme der heutigen Landwirtschaft folgen muss, endet das Buch mit einem Ausblick, der bedrohliche Entwicklungen nicht verschweigt, aber auch gezielt auf hoffnungsvolle Bewegungen von unten schaut. Zum Hintergrund des Buches erzählt der Autor: „Eigentlich wollte ich ein Buch über die Potenziale von Agroforstsystemen für das Klima und die damit einhergehende Re-Lokalisierung der Wirtschaft schreiben und nur einen kleinen historischen Exkurs machen. Aber dieser historische Teil hat mich am meisten gefesselt, weshalb ich daraus ein ganzes Buch machte, für das ich vier Jahre lang recherchiert habe. Das Thema ist aber so umfassend, dass ich auch nach der Veröffentlichung noch zu neuen Erkenntnissen komme.“ Polykultur und Agroforst-wirtschaft als Perspektive Erstaunlich ist dieser Schwerpunkt allerdings nicht, denn Florian Hurtig interessiert sich seit über fünfzehn Jahren für „Geschichte von unten“. Als wichtige Bezugspunkte nennt er unter anderem 1917 und 1968: „Ich würde sogar sagen, es gibt gar keine politische Arbeit ohne geschichtliche Bezüge. Deswegen ist es so wichtig, sich mit der Geschichte sozialer Bewegungen auseinanderzusetzen. Erst während meiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Landwirtschaft ist mir aufgefallen, dass wir heute in der Regel die Form der Landnutzung viel zu wenig betrachten bei unseren Auseinandersetzungen mit Herrschaft.“ Da Florian Hurtig seit über 15 Jahren in der Klimabewegung aktiv ist, möchte ich von ihm wissen, ob eine polykulturelle Gesellschaft seiner Meinung nach die Probleme der menschengemachten Klimaveränderung lösen könnte. Er antwortet: „Andersherum betrachtet hat die Frage mehr Sinn. In einer polykulturellen Gesellschaft wäre es nicht zu menschengemachter Klimaerwärmung gekommen. Ein sehr entscheidender Emittent von Kohlenstoff sind die so genannten Landnutzungsänderungen. Dabei änderte sich die Landnutzung fast immer von vielfältigen Systemen, die viel Kohlenstoff speichern, hin zu monotoner Landnutzung, die wenig Kohlenstoff speichert und die mittelfristig zur Desertifizierung tendiert. Heute könnten wir aber wieder viel Kohlenstoff binden, wenn wir die Monokulturen durch Polykulturen ersetzen. Dabei müssen wir die Systemlogiken der Anbausysteme im Blick haben: Monokulturen lohnen sich, wenn ich aus einer Fläche einen möglichst großen monetären Wert ziehen will. Komplexe Polykulturen machen hingegen in lokaler Subsistenzwirtschaft Sinn. Es gibt aber einen Zwischenweg, der aus einer pragmatischen Klimaperspektive spannend ist: Werden Agroforstsysteme in rationellem Design angelegt, können die Landmaschinen zwischen den Baumreihen hindurchfahren, die Gesamternte wird gesteigert, und die Bäume binden über- wie unterirdisch große Mengen CO2. Es kursieren sehr unterschiedliche Zahlen. Die weitestgehenden sagen, dass wir durch Agroforstsysteme ein vorindustrielles Niveau des Kohlenstoffs in der Atmosphäre erreichen können. Diese Perspektive kann Mut machen: Wir haben Werkzeuge, um das Ruder herumzureißen.“ Aber auch seine Arbeit als Baumpfleger und die Tätigkeit für eine Solidarische Landwirtschaft haben Florians Schreiben beeinflusst: „Mein Interesse an komplexen, hochproduktiven und
klimapositiven Anbausystemen war für mich sowohl die Grundlage, mich mit Obst- und Nussbau zu beschäftigen, als auch diese historische Arbeit dazu zu machen. Spannend finde ich es dabei, im Alltag Querverbindungen zwischen Praxis und Theorie zu ziehen. In der Solidarischen Landwirtschaft, in der ich arbeite, sehe ich zum Beispiel, wie unser polykulturelles Anbausystem tatsächlich viele Menschen zusammenbringt, um in schöner Atmosphäre polytechnisch tätig zu sein.“

Zur Entstehung des Buches

Trotz dieser Querverbindungen zum Alltäglichen liest sich das Sachbuch geradezu akademisch. Gründlich recherchierte Quellenangaben und stichhaltige Argumentation täuschen darüber hinweg, dass Florian Hurtig offiziell keinen universitären Abschluss hat: „Ich habe in der Schule Klassenbucheinträge be-kommen, weil ich unter dem Tisch Marx gelesen habe. Als Schulabbrecher bleibt mir bis heute der Zugang zu akademischen Abschlüssen verwehrt. Deshalb ist es für mich auch spannend zu zeigen, dass es nicht der individuelle Mensch ist, der versagt, sondern das Schulsystem, das gleichmachen will, anstatt individuelle Potenziale zu erkennen und zu fördern. Trotzdem saß ich beim Schreiben aber tatsächlich viel in der Uni. Das Historische Institut mit seinen meterhohen Regalen voller staubiger Bücher, die fast zerfallen, wenn man sie anfasst, hat schon eine spannende Atmosphäre.“ Das Sachbuch sollte eigentlich unter dem Titel „Monokultur, Monotechnik, Monopol“ erscheinen. Doch auf Druck des Vertriebs wurde der Titel zu „Paradise Lost“ geändert. Florian Hurtig dazu: „Dieser schreckliche Name passt eigentlich gar nicht zu meinen Inhalten. Deswegen bin ich froh, dass das Buch noch einmal mit neuem Titel erscheinen wird. Gerade schreibe ich aber auch noch an zwei weiteren Büchern. In einem geht es noch mal auf eine praktischere Weise um die Potenziale von Polykulturen und Agroforstwirtschaft. Das andere Buch dreht sich auf einer theoretischen Ebene um die Rhizome des Lebendigen.“