M. P. T. Acharya: We Are Anarchists. Essays on Anarchism, Pacifism, and the Indian Independence Movement, 1923–1953, hg. von Ole Birk Laursen, AK Press, Chico (CA)/ Edinburgh (UK) 2019, 289 Seiten, 18,00 US-Dollar, ISBN: 978-1-84935-342-7
Mandayam Prativadi Bhayankaram Tirumal – was für ein Koloss an Vornamen, weshalb Acharya seine Schriften mit M. P. T. abkürzte. Acharya gehört zu den transnationalen Anarchist*innen des 20. Jahrhunderts, so wie Rudolf Rocker, Emma Goldman oder Augustin Souchy, die in mehreren Ländern, ja Kontinenten agierten und zuhause waren. Geboren 1887 in Madras/Indien als Angehöriger der privilegierten Brahmanenkaste, kam er schon 1908 nach London ins damalige „India House“, das indische Student*innen frequentierten, wo sie den europäischen Attentats-Anarchismus der „Propaganda der Tat“ rezipierten und selbst Anschläge auf britische Kolonialisten durchführten. Acharya stand damals dem Drahtzieher der Attentate, V. D. Savarkar, zur Seite, den er später in einem Artikel von 1950 als Hindu-Nationalisten kritisierte. (1) Nach ersten Kontakten zur ägyptischen und indischen antikolonialen Bewegung sowohl in Istanbul als auch in New York besuchte er 1917 in Stockholm die dritte Zimmerwald-Konferenz gegen den Weltkrieg. Ab 1919 war er an W. I. Lenins Seite in Moskau, der ihn als kommunistischen Organisator in den asiatischen Bereich der Sowjetunion schickte, wo Acharya im Oktober 1920 in Taschkent die Kommunistische Partei Indiens (CPI) mitbegründete, aber schon im Dezember desselben Jahres austrat. Die Neue Ökonomische Politik (NEP) mit Wiedereinführung von Marktmechanismen durch Lenin kritisierte er scharf als prokapitalistisch und kehrte 1922 zusammen mit seiner russisch-jüdischen Lebensgefährtin Magda Nachman nach Europa zurück, diesmal nach Berlin. Dort schloss er sich der gerade gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) an und lernte Rocker, Souchy und Max Nettlau kennen, über dessen Arbeit als Historiker er 1935 in der spanisch-anarchistischen „La Revista Blanca“ eine Hommage publizierte. (2) Ole Birk Laursen, Anarchismusforscher an den Universitäten von London und Kopenhagen, hat nach einem rund 30-seitigen biografischen Abriss insgesamt 50 Texte dieses transnationalen Anarchisten im Buch versammelt, die sicher nicht vollständig sind.
Transnational anarchistisch vernetzt
Acharya war in den 1920er-Jahren zunächst Anarchosyndikalist, dann kommunistischer Anarchist, schrieb Analysen in der IAA-Zeitung „Die Internationale“, übersetzte Texte zusammen mit Augustin Souchy, der mit dessen Übersetzungen nicht immer zufrieden war, trotzdem einen seiner Artikel 1928 separat als „Der Antimilitarismus in Indien“ auf Deutsch herausbrachte und erwähnte, dass dieser Text gleichzeitig bei der „Deutschen Sektion der War Resisters’ International“ eingereicht wurde. (3) Ständig blieb Acharya in Kontakt zur US-amerikanischen IWW (Industrial Workers of the World) und schrieb immer wieder für anarchistische US-Zeitungen wie „The Road to Freedom“ oder „Man!“. In seinen ökonomischen Analysen blieb er kompromissloser kommunistischer Anarchist, lehnte jede Form des – auch sozialistischen – Warentauschs ab, der nur immer wieder zu Staat und Kapitalismus zurückführe. Sein Schreibstil war propagandistisch, es gab in seinen Artikeln keine Quellenbelege. Die Analysen waren m. E. vereinfacht, ja manchmal sogar platt, weshalb er mitunter zu haarsträubenden Fehleinschätzungen kam; so etwa, als er noch 1938 fest überzeugt meinte, dass „trotz umfangreicher Kriegsvorbereitungen ein Weltkrieg unmöglich ist“ (4) – aus ökonomischen Gründen. Trotz scharfer Kritik sowohl am Kapitalismus als auch am Staatskapitalismus, mit welchem Begriff er seit der NEP die Sowjetunion verurteilte, blieb er in Kontakt mit Einzelnen aus seiner leninistischen Zeit. Dadurch bewahrte er ein ökonomisches Basis-Überbau-Denken, das den subjektiven Faktor, d. h. die Wirkungen individueller Willensstärke, unterschätzte, weshalb er etwa auch kaum perspektivische Einschätzungen sozialer Bewegungen und anarchistischer Einflüsse darauf geben konnte.
Ambivalentes Verhältnis zu Gandhi und Gandhianer*innen
Eine Ausnahme stellten hierbei seine erhellenden Analysen zur indischen Unabhängigkeitsbewegung und zu Gandhi dar. Zwar kritisierte er Gandhi immer wieder, deckte für dessen erste Kampagne 1918/19 Widersprüche auf, aber die Salzmarschbewegung 1930 nahm ihn dann mit und begeisterte ihn regelrecht. So schrieb er in „Gandhi and Non-Violence“ 1930: „Ohne Anhänger Gandhis zu sein, bewundere ich den Gandhismus, so wie er heute in Indien praktiziert wird.“ Gegen die britische Propaganda, Gewaltfreiheit werde früher oder später in Gewalt umschlagen: „Gewaltfreiheit ist das einzige Prinzip, das die Widerständigen davon abhält, den Provokationen und Provokateuren der Regierung zum Opfer zu fallen.“ Und: „Gandhis Predigt der Gewaltfreiheit bedaure ich nicht. Er hat gezeigt, dass Gesetze negiert und zu toten Buchstaben werden können, wenn die Leute es so wollen.“ (5) Nach jahrelang abgelehnten Anträgen für einen britischen Pass, der die Voraussetzung für seine Wiedereinreise in Indien darstellte, gelang ihm die Rückkehr 1935. Er begann nun, anarchistische Literatur in Indien zu verbreiten und eine erste anarchistische Gruppe aufzubauen. Während der Spanischen Revolution 1936 befürwortete er wieder zeitweise Gegengewalt und die Milizen als Notwehr, während er vordem und nachher den Bürgerkrieg abgelehnt hatte. Trotz Kritik an den so genannten Regierungsgandhianern wie Rajendra Prasad direkt nach der Unabhängigkeit Indiens kam es wieder zu einer Annäherung an Gandhi. Acharya schrieb noch 1953, ein Jahr vor seinem Tod durch Tuberkulose, Artikelserien für die gandhianische Zeitschrift „Harijan“ (dt. Kinder Gottes; positiver Begriff für „Unberührbare“), von denen hier leider nur einer abgedruckt ist. (6) Von 1948 bis 1953 stand er im Briefwechsel mit Boris Yelensky von der Chicagoer „Free Society Group“, in der auch Rocker war. Acharya schrieb Yelensky kurz vor seinem Tod aus Indien: „Die einzigen Leute, die hier dem Anarchismus nahestehen, sind die Gandhianer aus der Harijan-Gruppe. Sie sind Fast-Anarchisten, weil sie für Dezentralisierung (unabhängige Dorf-Kommunen), eine Produktion für den Gebrauch und die direkte Aktion eintreten.“ (7) Wer es nicht über Schottland oder die USA erwerben kann oder will: Dieses wichtige englischsprachige Buch über einen transnationalen Anarchisten ist inzwischen vollständig im Internet verfügbar. (8)