Dieser Krieg hat viele Dimensionen, sodass hier nicht alle angesprochen werden können. Sie sind so umfassend, dass sich wohl viele gewaltfreie und antimilitaristische Anarchist*innen von ihnen anfangs nahezu überwältigt und fassungslos fühlten. Im Folgenden ein Versuch von Lou Marin, wieder Fuß zu fassen, die Nationalismen und Militarismen auf allen Seiten zu kritisieren und antimilitaristische Lichtblicke am Ende des Tunnels zu erkennen. (GWR-Red.)
Die Kriegsschuldfrage ist für mich als gewaltfreien und antimilitaristischen Anarchisten eindeutig geklärt: Wladimir Putin ist Drahtzieher, Auftraggeber und Verantwortlicher des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Wer das bestreiten will, hat sich bereits von jeder emanzipatorischen Perspektive auf diesen Krieg ins Reich der Fake-News, „Putin-Versteher“ usw. verabschiedet.
Gleichzeitig kritisiere ich die militaristische Landesverteidigung der Selenskyj-Regierung, die bereits viele Tote, die Besetzung einiger Städte durch die russischen Truppen und Bombardierungen in Kauf genommen hat, und von dem die am 9. März erstmals geäußerte Bereitschaft, über eine Neutralität zu verhandeln, nach nationalistischen Eskalationsforderungen der erste vernünftige (d. h. nicht unverantwortliche) Verhandlungsvorschlag seit dem russischen Truppenaufmarsch war.
Auch die NATO muss antimilitaristisch kritisiert werden. Sie hat nach dem Wegfall ihrer Legitimationsbasis 1991 durch die Auflösung des Warschauer Pakts in zwei Wellen, 1999 und 2004, ihre Osterweiterung nach Polen und in die baltischen Staaten durchgeführt. Rücksichtslos war das weniger gegenüber Putin, der ebenfalls 2004 noch sagte, „dass jedes Land das Bündnis wählen solle, das ihm für seine Sicherheit am geeignetsten erscheine“ (1), sondern gegenüber dem kollektiven Gedächtnis und den Erinnerungsinitiativen (etwa „Memorial“, die wegen ihrer Geschichtsarbeit zu Josef Stalins Verbrechen von Putin schon Ende 2021 verboten wurde) in der Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion, die an die 27 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Kriegsführung verloren hat.
Zur Mitbeteiligung der NATO an diesem Krieg gehört, dass sofort nach Putins Angriff Truppenverlegungen nach Polen und in die baltischen Staaten angeordnet wurden und eine ständige Bedrohung Russlands an der NATO-Ostgrenze aufgebaut wird, ein neuer Kalter Krieg, der jederzeit zu einem heißen werden kann, etwa durch die Lieferung von polnischen Mig-Flugzeugen via NATO-Territorium. An der nuklearen Abschreckungsideologie der NATO hat sich seit dem Fall der Mauer nichts geändert, „weder im öffentlichen Wissen und in der Einstellung noch in der staatlichen Politik und Praxis, um den Westen davon abzuhalten, in Zukunft nukleare Drohungen auszusprechen. Dies ist ein ernüchternder Gedanke, wenn wir heute mit der russischen nuklearen Gesetzlosigkeit konfrontiert werden“, so Milan Rai in seinem Blogbeitrag für die englischsprachige Zeitschrift „Peace News“, die mit der War Resisters’ International (WRI) assoziiert ist. Es sei hier auch daran erinnert, dass 2020 die Militärausgaben der NATO mit 1.106 Mrd. ungefähr 18-mal so hoch waren wie die Russlands mit 61,7 Mrd. Dollar. (2)
Transformation der Demokratie: Putins Netz als Integration der KGB-Seilschaften
Wie konnte Putin in eine nahezu allein entscheidende Machtposition innerhalb der russischen Administration aufsteigen, sodass er einen solchen Angriffskrieg auszulösen in der Lage war? Es müssen hier strukturelle Ursachen genannt werden. Eine davon möchte ich die „Transformation der Demokratie“ (Johannes Agnolis Begriff für die autoritäre Evolution der parlamentarischen Demokratie im Vorfeld von 1968) nennen, die bei Boris Jelzin als einem anfänglichen Demokraten mit einer ernsthaften Vorstellung von Russland als einer wirklichen Föderation begann, der seine Amtszeit aber bereits mit dem Ersten Tschetschenienkrieg gegen eine abtrünnige Republik beendete und dann selbst 1999 die Macht an Putin übertrug. Putin beendete diese „Transformation der Demokratie“ vorläufig durch die Verfassungsreform von 2020, als er sich selbst die Präsidentschaft bis potenziell 2036 sicherte. (3)
Damit lag er jedoch in einem strukturellen Trend einer langsamen „Transformation der Demokratie“ in den Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer hin zu immer stärker rechtsnationalistischen Bewegungen sowie autoritären Staatsstrukturen, die in anderen Ländern autokratische Herrscher wie Donald Trump, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip
Erdoğan, Viktor Orbán oder auch die gegenwärtige polnische PiS-Regierung hervorbrachten.
Russlands neue Herrschende nach 1990/91 sicherten ihre Macht dadurch ab, dass sie die bürgerlich-demokratischen Institutionen, wie etwa die russische Duma, Stück für Stück durch Ausschluss missliebiger Kandidat*innen ihrem Präsidenten botmäßig machten und schließlich in Putins Sinne steuern ließen. Parallel dazu wurden personale Netzwerke, die Putin aus KGB-Zeiten in seine Regierungsform integrierte, mächtiger. Das analysierte Catherine Belton, ehemalige Moskau-Korrespondentin der „Financial Times“ und Investigativjournalistin für die Agentur Reuters, in ihrem 700-Seiten-Buch „Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“. (4) Ihrer These nach stützt sich Putins Herrschaft auf ein persönliches Netz früherer KGB-Agent*innen, dessen Einflussnahme weit über Russland hinausreicht. Dieses Netz, meist von russischen Firmenchefs und Geheimdienstagent*innen geprägt, verfolgt noch im Ausland Oligarchen und Oppositionelle, die gegenüber Putin abtrünnig und zu Konkurrenten geworden sind, daher die Giftmorde und -anschläge im Westen, aber vor allem im eigenen Land, wie gegen Alexei Nawalny. Sie seien in Russland „eine traurige Tradition“, so Wladimir Kara-Mursa von der „Open Russia Stiftung“ des Putin-Kritikers Michail Chodorkowskij; Kara-Mursa überlebte selbst zwei Giftmordanschläge 2015 und 2017. Putin lässt sich dabei vom eurasischen Großraumdenken des Faschisten Alexander Dugin inspirieren, das Russland und China als „raumgebundene Völker“ definiert, die autoritär gegen die individualistischen und „degenerierten“ Atlantiker*innen stehen. (5)
BRD: Die Kehrtwende bei der Bundeswehr, ihre Aufrüstung für 100 Mrd.
In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine umfassende Kehrtwende bei Rüstungslieferungen für die Ukraine und eine Aufrüstung der Bundeswehr mittels eines „Sondervermögens“ in Höhe von 100 Mrd. Euro an. Diese zusätzlichen Gelder werden die bereits bestehenden Sondervermögen nochmals extrem erhöhen. 2021 betrug der Rüstungsetat bereits 46,9 Mrd. Euro, für 2022 waren im Haushaltsplan schon vor der jetzigen Erhöhung 50,33 Mrd. Euro vorgesehen. Außerdem versprach Scholz, dass ab sofort „mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ (6) in den Militärhaushalt investiert werden sollen, was die NATO und die USA schon lange forderten. Dieses Sondervermögen soll nun, so heißt es, im Grundgesetz abgesichert werden. Erforderlich ist dafür also eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Damit soll angeblich die Schuldenbremse ausgehebelt werden, die im Grundgesetz verankert ist.
Heute, so steht es im jüngsten „Bericht zu Rüstungsangelegenheiten“ vom Dezember 2021, „beträgt die Verzögerung (bei der Produktion von beschlossenen Rüstungsprojekten) im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021 (…) liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn.“ (7) Die Strukturen der Bundeswehr sollen also gestrafft und die dort bisher herrschende chronische Verschwendung bekämpft werden; „blank“ aber, im Sinne von nicht-verteidigungsfähig, wie zuletzt Heeresinspektor Alfons Mais und mit ihm die bürgerlichen Medien meinten, war die Bundeswehr nie. (8)
Dieser militaristische Kurswechsel überrascht weniger, wenn wir uns vor Augen führen, dass nach Angaben des SIPRI-Jahresberichts von 2021 die BRD 2020 mit 5,5 % Anteil an den weltweiten Rüstungsexporten bereits auf Platz vier lag. 23 % der deutschen Rüstungsexporte gehen an den Nahen Osten, bedeutendster Abnehmer ist Ägyptens Diktatur um Abdel Fatah al-Sisi, den Unterdrücker der arabischen Revolte von 2011. Vor allem exportiert die BRD Kriegsschiffe und U-Boote an das ägyptische Regime, das auch massiv am Krieg im Jemen beteiligt ist. Angesichts dieser langjährigen Tradition an Rüstungsexporten, die nicht einmal vor Lieferungen an Diktatoren Halt machte, war es beim ersten starken internationalen Druck auf die Ampel-Regierung für mich als Anarchisten nur zu erwarten, dass die ersten Rüstungsexporte (1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“) auch in die Ukraine genehmigt werden würden.
Die Stimmen von Politiker*innen für eine Reaktivierung der Kriegsdienstpflicht in der BRD mehren sich bereits, so etwa bei Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Partei Die Linke. Im Moment widerspricht aber noch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, das sei „in der jetzigen Situation nicht erforderlich“. Denn dann würden ihnen auch die 100 Milliarden nicht reichen, angesichts eines dafür notwendigen Programms von Hunderten neuer Kasernenbauten. Außerdem hätten junge Kriegsdienstleistende gar nicht das technische Niveau für fortgeschrittene Waffensysteme und ihre Ausrüstung. (9) Gedacht wird bei diesen Stimmen an einen – natürlich immer „modernen“ – kombinierten Zwangsdienst mit sowohl militärischer wie ziviler Dienstoption, wobei Emmanuel Macrons „Service national universel“ (Nationaler Allgemeindienst) Pate steht, der in Frankreich bereits im Experimentierstadium ist und bis 2024 dort allgemeinverbindlich durchgesetzt werden soll. (10)
Schon jetzt zeigen die ersten Verlautbarungen von Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock, der vorgezogene Stopp der Kohleförderung und damit die Klimaziele bis 2030 müssten als „Preis für Solidarität“ wohl verschoben werden. Gas werden sie durch die Abhängigkeit von russischen Importen kaum als ihre „Brückentechnologie“ nutzen können. Es bleibt der Rekurs auf die Absicht, die erneuerbaren Energien auszubauen, aber womit, wenn 100 Milliarden für die Bundeswehr reserviert werden? Dominant wird die öffentliche Begründung, mit den fossilen Energien erst mal die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das ist ein reales Problem, denn dahinter steht die demokratietheoretische Unterstellung, die Bevölkerung bliebe der Demokratie nur so lange gewogen, wie Wohlstand und Wachstum gewährleistet werden können. Das ökologische Bewusstsein ist noch nicht so weit entwickelt, dass nicht faschistische Kräfte Nutzen daraus ziehen könnten.
Die BRD zahlt derzeit Russlands Rechnungen für Öl, Gas und Kohle weiter und finanziert damit Putins Krieg. Und wie lange hat es gedauert, bis endlich Nord Stream 2 auf Eis gelegt wurde? Vorschläge, die Laufzeiten der letzten AKWs zu verlängern, werden von Wirtschaftsminister Robert Habeck noch mit dem Leichtgewicht-Argument abgelehnt, die Vorbereitungen für die Abschaltung zu Jahresende seien bereits zu weit fortgeschritten. Es wird sich zeigen, ob das reicht, um dem Druck der Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann – der in Baden-Württemberg kaum Windräder baut, aber jetzt AKW-Laufzeitverlängerungen fordert – und Markus Söder und dem der FDP in der Ampel standzuhalten. Es genügt ein Blick in die Schweiz, wo Laufzeitverlängerungen und neue AKWs bereits seit Januar 2022 von der dortigen FDP-Parteispitze gefordert werden. (11)
Ukraine: Patriarchal-nationalistische Arbeitsteilung und die Illusion der wirksamen militärischen Verteidigung
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist als demokratisch gewählter Präsident jüdischer Herkunft ein lebendiger Gegenbeweis zu Putins Propagandalüge von der faschistischen Ukraine, die „entnazifiziert“ werden müsse. Trotzdem ist eine faschistische Bewegung in der Ukraine so real wie in Deutschland und Russland, wofür etwa der heutige Kult um den Faschisten Stepan Bandera (1909–1959) in der West-Ukraine spricht, dessen Milizen an Pogromen in Lemberg 1941 gegen jüdische Zivilist*innen beteiligt waren.
Selenskyj hatte gleich in den ersten Tagen des russischen Angriffs seinen besten Fernsehauftritt, als er – der auch in Russland bekannte ehemalige Komiker – in russischer Sprache die russische Bevölkerung dazu aufrief, sich dem Krieg zu widersetzen. Seither aber reihte er sich ein in einen nationalistischen Widerstandsmythos, der schnell nur noch von nationaler Ehre, heldenhaften Kämpfen, bewaffneter Verteidigung und Guerillakrieg sprach. Am militaristischsten war seine allgemeine Mobilmachung für Ukrainer, ein staatliches Verbot der Ausreise aller Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, an sich bereits eine staatlicherseits verübte Menschenrechtsverletzung. (12) Es war gleichzeitig eine Rückkehr zur klassischen geschlechtlichen Arbeitsteilung im Kriegsgeschehen, nach welcher kriegerische Männer wie Selenskyj an der Front bleiben und im Wesentlichen den Krieg führen, während die Frauen in millionenfacher Mehrheit auf Flucht und Versorgung der Kinder orientiert werden, mit Ausnahme des Heranschleppens von Flaschen für den Bau von Mollis, die die männlichen Krieger dann werfen dürfen.
Und die bereits integrierten Frauen im ukrainischen Militär? Bereits seit Frühjahr 2021 sind Frauen aus bestimmten Berufsgruppen bei Strafandrohung verpflichtet, sich bei den Wehrämtern der Ukraine mustern zu lassen. Diese Meldung ging damals öffentlich unter. Nachdem das ukrainische Verteidigungsministerium aber eine Liste von 100 betroffenen Berufen bekannt gab, waren viele Frauen wütend. Denn nach der zwangsweisen Musterung sollten sie im Kriegsfall nicht zum Frontdienst, sondern zu Aushilfsdiensten einberufen werden, sowohl zugunsten der Armee als auch zu zivilen Diensten, beispielsweise Ärztinnen, Krankenschwestern oder auch Bäckerinnen. Sie sollten, so hieß es, „Lücken schließen“. (13) Klar, aus Sicht der Militärs ist das die eigentliche Aufgabe der Soldatinnen. Seit damals sind in der ukrainischen Armee 32.000 Frauen unter Waffen, 16.000 nahmen jetzt bereits an Kampfhandlungen teil.
Aber was folgt daraus? Kann es je emanzipatives Ziel sein, alle Frauen eines Landes für die Armee zu rekrutieren? Auch noch per Kriegsdienstzwang? Dazu gibt es eine klare antimilitaristisch-gewaltfreie Haltung seit der Forderung von Alice Schwarzer in den 1970er-Jahren, Frauen in die Bundeswehr zu integrieren. Nämlich die, dass Frauen keinen Grund haben, die patriarchal-militaristischen Fehler der Männer systematisch zu wiederholen. Frauen sind und bleiben in solchen Utopien Dienerinnen einer patriarchal-nationalistischen Kriegsführung.
Nicht ohne Grund wurden durch das Ausreiseverbot für Männer im Rahmen der Fluchtbewegung nach Europa massenhaft Familien an den Grenzübergängen auseinandergerissen, weil Kriegführen in der realen Praxis des Staates Ukraine immer noch und immer wieder als Männersache angesehen wird. Der Verteidigungskrieg rekurriert wieder auf die Zurichtung heteronormativer Geschlechterrollen – und das im Geburtsland der feministischen Organisation „Femen“.
Es folgten dann die nur durch eine nationalistische Verengung Selenskyjs erklärbaren Aufrufe zum sofortigen Beitritt der Ukraine in die EU und in die NATO sowie zur Einrichtung einer Flugverbotszone, die zum Glück aus NATO-Kreisen abgelehnt wurden.
Der militärische Widerstand konnte zwar Kiew und auch andere Städte wie Charkiw, das bereits fast vollständig durch Bomben zerstört ist (14), vorläufig als ukrainisch halten, aber unter großen Verlusten aufgrund der russischen Bombardements, während südukrainische Städte wie Berdjansk und Cherson oder Mariupol bereits von der russischen Armee eingenommen worden sind. Die militärische Verteidigung hat also in diesen Fällen bereits versagt. Das Vorhaben, das russische Militär aus der Ukraine zu vertreiben, ist eine Illusion. Und gegen Guerillakrieg und Häuserkämpfe kann Putin auf seine Tschetschenien-Erfahrung zurückgreifen. Er wendet einfach dasselbe Mittel an wie im Zweiten Tschetschenienkrieg, den er durch Bombardierungen Grosnys und anderer Städte von 1999 bis 2009 gewann, zum Preis von etwa 80.000 getöteten Zivilist*innen und Soldaten. (15)
Die Probleme der militärischen Verteidigung und die absehbar hohe Anzahl an zivilen Opfern, die durch sie nicht verhindert werden konnten, ebnen uns aber den Weg für den Blick auf vereinzelt zum Vorschein kommende Ansätze sozialer Verteidigung.
Ansätze spontaner und improvisierter sozialer Verteidigung
Die War Resisters’ International veröffentlichte in ihrer Erklärung zum Krieg in der Ukraine den Absatz:
„Wir rufen die ukrainische Bevölkerung auf, einer möglichen von Russland eingesetzten neuen Regierung jeden Gehorsam zu verweigern. Das nennt man Soziale Verteidigung. Wenn sich alle den Anweisungen Russlands verweigern, (…) dann kann es seine Ziele letztlich nicht erreichen.“
Was hier noch abstrakt klingt, dafür gibt es in der Ukraine durchaus Möglichkeiten und auch einen gewissen Erfahrungshintergrund. Die soziale Verteidigung wurde von gewaltfreien Anarchist*innen wie Pierre Ramus direkt nach der russischen Revolution und ihrer Verteidigung gegen die westlich-kapitalistischen Interventionsarmeen der „Weißen“ als Alternative zur Roten Armee Leo Trotzkis vorgeschlagen. Eine intensivere Ausformulierung und einen Praxistest im Widerstand gegen den aufkommenden Faschismus erfuhr sie in den Niederlanden der 1930er-Jahre als „Pazifistische Volksverteidigung“. (16) Doch auch sie war nicht erfolgreich. Im Anschluss daran gab es aber viele Formen „zivilen Widerstands“ in den von Nazis besetzten Ländern, etwa Aktionen der Judenrettung in mehreren Ländern (Dänemark, Schweden, Norwegen, Bulgarien, in der französischen Résistance) (17), die zwar den Kriegsverlauf nicht entscheidend beeinflussten, aber unzählige Menschenleben retten konnten. Wenn die Besetzung der Ukraine lange andauert, wäre wohl auch hier realistischerweise eine Kombination oder auch Konkurrenz von zivilen und militärischen Widerstandsformen nicht auszuschließen, auch wenn mir das nicht gefällt und ich für antimilitaristischen Widerstand eintrete.
Björn Kunter (Bund für Soziale Verteidigung) analysiert sowohl für 2014 wie für 2022: Während schon 2014 bei der Besetzung der Krim „die russischen Medien über Schießereien und Gewalt auf der Krim fantasierten, verweigerte die ukrainische Armee die gewaltsame Auseinandersetzung. Stattdessen nutzte sie improvisierte Methoden der gewaltfreien Verteidigung. Angehörige und Protestierende schützten die Militärbasen.“ Auch jetzt sind wieder ähnliche Widerstandsformen zu beobachten: Einen vergleichbaren Versuch, mit Massen dem russischen Militär den Weg zu versperren, sahen wir am 5. März 2022 auf den Zugangsstraßen zum ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja kurz vor dessen Bombardierung – zum Glück nicht des Reaktors. Nach der Einnahme von Cherson durch die russische Armee gab es Berichte von massenhaften Friedensprotesten Unbewaffneter in der Stadt. Zivilist*innen bestiegen dort auch einen fahrenden russischen Schützenpanzer. Dazu meinte etwa die „Süddeutsche Zeitung“ am 5. März 2022: „Warum der zivile Widerstand auch militärisch immer wichtiger wird.“ Auf die Idee, dass der zivile Widerstand auch autonom existieren könnte, kommt Autor Sebastian Gierke nicht. Dabei ist der verlangsamte Vormarsch der 65 Kilometer langen russischen Militärkolonne auf Kiew nicht nur auf Logistikprobleme und fehlenden Benzinnachschub, sondern auch auf motivationslose russische Soldaten und eigene, von Soldaten ausgeführte Sabotageakte gegen Panzer und Fahrzeuge zurückzuführen. Es kommt zu Desertion und Kriegsdienstverweigerung in den Reihen des russischen Militärs. (18)
Björn Kunter meint weiter, dass die militärische Verteidigung „noch dem Aggressor in die Hände spielt, da es ihm ermöglicht, die eigene Bevölkerung und Soldaten für sich zu mobilisieren. Eine gewaltfreie Verteidigung reduziert dagegen nicht nur das Ausmaß des Leidens. Sie setzt bei den Schwächen des Angreifers an und ist geeignet, die Gewalt eines Aggressors auf diesen zurückschlagen zu lassen. Denn die russische Armee ist aufgrund der sozialen Nähe und gemeinsamen Sprache sowie der gemeinsamen Vergangenheit mit der ukrainischen Armee anfällig für eine ‚Aufweichung’, ähnlich der Besatzungstruppen in der Tschechoslowakei 1968.“ Kunter schlägt eine Fortsetzung bereits im Krieg 2014 praktizierter Mittel vor: „Massendemonstrationen gegen Gewalt in Donezk; zahlreiche Briefe aus der russischsprachigen Bevölkerung, dass sie nicht geschützt werden wollen; Aufrufe zum Boykott russischer Waren und zur Nichtzusammenarbeit mit den Besatzer*innen; ziviler Ungehorsam lokaler Amtsinhaber, etwa bei der Durchführung der ‚Referenden’.“ Doch diese Ansätze zivilen Widerstands seien vor dem Krieg von den westlichen Medien nicht aufgegriffen worden, und die jetzigen drakonischen Strafen gegen jede putinkritische Berichterstattung innerhalb Russlands mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren könnten ein Übriges tun, um Berichte über solche Aktionen zu unterdrücken. Doch selbst dieses Bollwerk beginnt seit der fantastischen Aktion der Assistentin des russischen Staatsfernsehens am 13. März zu bröckeln: „Stoppt den Krieg! Glaubt der Propaganda nicht, hier werdet ihr belogen!“ Wenn der russische Dissens zu Putin schon im Staatsfernsehen angekommen ist, gibt es Licht am Ende des Tunnels.
Kunter meint aber auch, es sei notwendig, diese improvisierten und spontanen Ansätze „der gewaltfreien Verteidigung zu einer Strategie der Sozialen Verteidigung auszubauen, zu koordinieren und auch mit entsprechenden Ressourcen auszustatten (zum Schutz der betroffenen Bevölkerung, zur Überwindung der russischen Medienpropaganda, zur Koordinierung des Widerstands etc.).“ Außerdem müsse man aber auch versuchen, „Gewalt durch pro-ukrainische Demonstrierende oder paramilitärische Gruppen zu verhindern“, denn die „gewaltsame ‚Selbstverteidigung‘ (Samooborona)“ und die Rolle von „‚Rechter Sektor‘ und ‚Freiheit‘ (Swoboda) sind in diesem Schema vor allem Feindbilder zur Mobilisierung“ der russischen Bevölkerung auf Seiten Putins. (19)
Es gibt keine Garantien für den Erfolg sozialer Verteidigung, aber je länger sich eine potenzielle Besetzung der Ukraine hinzieht, und das auch noch nach einem eventuellen militärischen Erfolg der russischen Armee, desto eher hat diese Strategie Chancen auf Ausweitung und Wirksamkeit.
(1) Michael Thumann: Der Mythos vom falschen Versprechen, Zeit online, 21.01.2022.
(2) Milan Rai: „How the West paved the way for Russia’s nuclear threat over Ukraine“, in: Peace News Blog, 02.03.2022; Zahlen zu Militärausgaben siehe: Jürgen Wagner: „Zeitenwende im Rüstungshaushalt“, IMI Tübingen, 28.02.2022.
(3) Frank Herold: „Putin hebelt die Demokratie aus – und kann bis 2036 Präsident bleiben“, in: Der Tagesspiegel online, 10.03.2020.
(4) Catherine Belton: Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste, Hamburg: Harper Collins, 2022.
(5) Gesine Dornblüth: „Morden nach System. Der Fall Nawalny und die Tradition russischer Giftanschläge“, Deutschlandfunk online, 19.08.2021. Zu Dugin vgl. Micha Brumlik: „Der Philosoph hinter Putin“, in: taz online, 04.03. 2022.
(6) Olaf Scholz, zit. nach Jürgen Wagner, a. a. O.
(7) Jürgen Wagner, a. a. O.
(8) Alfons Mais, zit. nach Jürgen Wagner, a. a. O.
(9) Süddeutsche Zeitung online: „Militär Deutschland: Schluss mit freiwillig?“, 02.03.2022.
(10) Philipp Baumgärtner: „Ukraine-Konflikt: Debatte um späteren Kohleausstieg“, in: mdr.de, 03.03.2022; zu Baerbock siehe: „Späterer Kohleausstieg ist der Preis“, in: ZDF heute, 28.02.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/
video/politik-baerbock-illner-russland-konflikt-
100.html .
(11) „FDP-Führung will AKW-Ausstieg kippen“, in: Zeitung Blick online, 21.01.2022.
(12) dpa: „Selenskyi befehligt den Widerstand der Ukraine“, in: Luxemburger Wort online, 25.02.2022.
(13): Denis Trubetskoy: „Ukraine: Streit um Musterung von Frauen fürs Militär“, in: mdr-Online-Nachrichten, 02.02.2022, https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/frauen-musterung-ukraine-militaer-100.html .
(14) Interview mit dem Soziologen Denys Kozbin aus Charkiw: „Kharkiv, la ville dans laquelle je vivais n’existe plus“, in: Le Monde, 08.03.2022, S. 8.
(15) Siehe Wikipedia-Eintrag: „Zweiter Tschetschenienkrieg“: https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Tschetschenienkrieg .
(16) Vgl. dazu: Gernot Jochheim: Antimilitarismus und Gewaltfreiheit, Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 2021, S. 290-316.
(17) Vgl. Jacques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Neuauflage mit aktualisiertem Vorwort, Göttingen: Wallstein Verlag, 1995, hier 2022
(18) Sebastian Gierke: „Cherson – von Russland besetzte Stadt?“, in: Süddeutsche Zeitung online, 05.03.2022. Zur Blockade russischer Soldaten beim Konvoi vor Kiew siehe das Video der Rede von Bernd Drücke auf der Friedenskundgebung in Münster am 5. März: https://youtu.be/
2BaJJDZMYYU
(19) Alle Zitate in diesem Abschnitt von Björn Kunter: „Gewaltfreiheit in der Ukraine“, Newsletter Nr. 2/2022 des Bundes für Soziale Verteidigung, S. 1f., siehe: https://www.soziale-verteidigung.de/system/files/documents/bsv_newsletter_februar_2022.pdf .
(Stand der Ereignisse bei Abfassung: 15.3.)
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.