Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist erschütternd, und seine Konsequenzen sind noch kaum absehbar: Tod, Flucht, Entbehrungen für viele Menschen, ökonomische und geostrategische Neuordnungen, Aufrüstung. Auch im Denken zeitigt der Krieg Konsequenzen. Hochkonjunktur erfahren das Freund-Feind-Schema, nationalistische Identitätspolitiken, Heldenmythen und der Appell an die Wehrhaftigkeit.
Der Feind unseres Feindes ist unser Freund
Wer jetzt die Schließung von RT (früher: Russia Today) bedauert, hat immer noch die junge Welt. Die Tageszeitung, nach Selbstauskunft seit 75 Jahren gegen Krieg und Faschismus, macht sich in vielen prominent platzierten Artikeln zu Putins Sprachrohr in der Linken. Von Anfang an wird darin versucht, die militärische Aggression Russlands als bloße, geradezu notwendige Reaktion auf die Politik der NATO darzustellen. Die Überschrift „Krieg mit allen Mitteln“ beschreibt nicht etwa die Brutalität der Invasoren, sondern zielt auf die Tatsache, dass die ukrainische Zivilbevölkerung von ihrer Regierung zu Kombattant*innen gemacht worden sei. Unter dem Titel „Wer Wind sät“ schreibt junge Welt-Autor Arnold Schölzel am Tag, bevor Putin mit Atomwaffen droht, in abstruser Verkehrung der Tatsachen: „Krieg ist nie gut. Abwehr von Massenmord ist aber nicht nur elementare Pflicht, sondern hat auch das Recht auf ihrer Seite. Hinzu kommt: Kiew, das den Nazikollaborateur Bandera als Nationalhelden feiert, droht mit Atomwaffen und Raketen – und es hat das Know-how dafür.“
Sicherlich gibt es die geostrategische Dimension des Konflikts, in der die NATO keinesfalls unschuldig ist. Dass die NATO-Osterweiterung vom russischen Establishment als Provokation aufgefasst wurde, ist sicherlich unterschätzt worden und kommt auch in den Kommentaren zum Krieg kaum vor. Auch die Nazi-Assoziation verdiente vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges eine ordentliche Prüfung. Nur hat Putin die Regierung in Kiew nicht nur als „Nazis“, sondern auch als „Drogenabhängige“ bezeichnet. Es wäre nur konsequent gewesen, hätte die junge Welt noch irgendwelche Dealer-Affinitäten Selenskyjs behauptet, um zu verschleiern, was Tatsache ist: Putins Propaganda ist Propaganda, für Putin ist Provokation, was er als Provokation sehen will. Dass man die Politik der NATO deshalb nicht gutheißen muss, fällt vielen offenbar schwer zu denken. (Wie Putin von Teilen der antiimperialistischen Linken trotz offener Sympathie für Pinochets Chile, trotz Oligarchie, trotz der Einschränkung der Meinungsfreiheit und der Bekämpfung von Oppositionellen überhaupt als zu stützender Gegenpol zum westlichen Kapitalismus wahrgenommen werden konnte, verstehe wer will.)
Identitätspolitischer Protest
In der ersten Woche des Krieges werden weltweit Museen und Rathäuser, Türme und Tempel in Blau-Gelb angestrahlt. Die überwältigende Solidarität wird in Nationalfarben zum Ausdruck gebracht. Die nationale Identität wird beschworen, weil sie bedroht ist. Am 25. Februar postet das Museum Ludwig Köln unter dem Titel „WE STAND WITH UKRAINE“ (inklusive Fahnensymbol): „In unserem Sammlungsbestand findet sich eine umfangreiche Anzahl von Werken der ‚russischen Avantgarde‘. Der Name dieser Kunstepoche wird jedoch nicht den biografischen und historischen Fakten der Künstler*innen gerecht – denn diese stammen mehrheitlich aus der Ukraine, Polen oder den baltischen Staaten. Einige haben im Wesentlichen zur ‚russischen‘ Kunst beigetragen, ihre Eigenständigkeit sollte jedoch nicht vergessen werden. Kasimir Malewitsch, in der Ukraine geboren, ist einer der wichtigsten Vertreter dieser Kunstepoche. Sein Schaffen war dabei stark von seiner ukrainischen Herkunft inspiriert. Sie zeigte sich in seiner suprematistischen Formsprache oder seinen Figuren […]“.
Es ist auch eine identitätspolitische Logik des Krieges, die Besonderheit des Angegriffenen zu betonen, um es vor der Vernichtung zu bewahren. Die „russische Avantgarde“, die eigentlich „ukrainisch“ war, wobei nicht formaljuristisch (staatsbürgerschaftlich) und auch nicht rein geografisch argumentiert wird, sondern kulturell: Das Schaffen selbst (hier von Malewitsch) sei „von seiner ukrainischen Herkunft inspiriert“ gewesen. Diese nationalistische Identitätspolitik mag angesichts der Bedrohung durchaus nachvollziehbar sein, sie bleibt aber problematisch. Denn dass Malewitsch ein bedeutender Künstler war, hat viele Ursachen und ist wohl kaum auf Landestypik zurückzuführen. Diese Identitätspolitik sollte vor allem deutlich machen, was auch linke Identitätspolitiken immer sind: Reaktionen auf Angriffe, Verteidigung gegen Vernichtungsdrohungen, Appelle des Zusammenrückens angesichts feindlicher Attacken, Verengung komplexer Ursachenverhältnisse.
Solidarität nur mehr in Nationalfarben zu denken, führt aber auch dazu, tendenziell die einzelnen leidenden Menschen der angegriffenen Nation unterzuordnen. Die massenhafte konkrete Hilfe von und an zivilgesellschaftliche(n) Organisationen und die große Spendenbereitschaft sollen damit nicht kleingeredet werden. Zur nationalistischen Identitätspolitik gehört aber auch ein Wiederaufflammen des Heldenmythos, der als wertvoll nur den Menschen beschreibt, der für die Nation zu sterben bereit ist.
Heldenmythen
In der Fernsehsendung Club 3 appelliert der österreichische Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka am 26. Februar an die Ukrainer*innen, doch in ihrem Land zu bleiben und es zu verteidigen. Dass Menschen dadurch einem gewaltsamen Tod ausgesetzt sind, wird offenbar in Kauf genommen. Dass Heimatverteidigung Ehren- und Heldensache ist, soll sich wieder ganz von selbst verstehen. Gefeiert wird in den Sozialen Medien auch ein Bild, das die Fußballmannschaft von Dynamo Kiew statt in Trikots in Uniformen zeigt. Helden verteidigen ihre Heimat statt den Strafraum. Dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen, erscheint als logische Folge der Mobilmachung. Es ist eine brutale Maßnahme, die Familien auseinanderreißt und Menschen an die Waffen zwingt. Warum nicht dem Krieg entfliehen, statt sich einer übergroßen Militärmaschine entgegenzustellen? Desertion verhindert Kriege, nicht Mobilmachung.
Dass Sobotka mit seinem Aufruf gleich einer massenhaften Flucht nach Österreich vorbeugen will, ist sicherlich ein weiterer, moralisch nicht weniger verwerflicher Unterton des Appells. Von Wien bis zur ukrainischen Grenze ist es kürzer als von Wien nach Ischgl, wie das Magazin Katapult postete.
Wehrhaftigkeit
Zum Heldenmythos gehört die Behauptung der Wirkungslosigkeit des Pazifismus wie die Butter aufs deutsche Frühstücksbrot. Angeblich soll nach kaum einer Woche Krieg schon Konsens sein, dass eine Ablehnung von Aufrüstung und von militärischer Gewalt schlechthin zu nichts führen könne. Unter dem Titel „Zeitenwende – auch für Pazifisten“ zitiert die Tagesschau den renommierten Protestforscher Dieter Rucht, er habe auf den großen Antikriegsdemonstrationen in Deutschland „keine Empörung über die Waffenlieferungen und milliardenschweren Aufrüstungspläne wahrgenommen“. Sie würden als selbstverständlich akzeptiert.
Das ist allerdings eine eingeschränkte Wahrnehmung. Also sozusagen fürs Protokoll: Linke Grüne richteten sich in einem Offenen Brief an die Parteiführung am 2. März vehement gegen die Waffenlieferung an die Ukraine. Auch in der SPD gab es innerparteiliche Kritik an der Höhe des geplanten Rüstungsetats. Unter Friedensbewegten und Antimilitarist*innen war die Empörung ohnehin groß: Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), eine der langjährigsten und tonangebenden Institutionen der bundesdeutschen Friedensbewegungen, kritisierte die Pläne der Bundesregierung in einer Erklärung vom 2. März scharf: „Mehr Militär bringe niemandem was – nur die Aktien der Rüstungsunternehmen steigen“. Ein „furchtbarer Fehler!“ seien die Aufrüstungspläne, schreibt auch die seit 1978 bestehende Friedensorganisation Ohne Rüstung Leben in einer Erklärung vom 3. März 2022. Sie würden die deutsche Politik für „Jahrzehnte prägen“.
Was den Pazifismus betrifft – gewaltfreie Konfliktlösung, Sabotage von militärischer Infrastruktur und militaristischen Denkweisen –, ist es ja auch nicht so, dass er jahrelang angewandt worden sei und nun plötzlich an seine Grenzen stößt. Da muss man einfach der feministischen Autorin Antje Schrupp recht geben, die am 5. März 2022 trocken postet: „Ob Pazifismus gegenüber jemandem wie Putin funktionieren könnte, können wir schlicht und ergreifend nicht wissen, weil noch niemand es versucht hat.“
Im Moment der aktuellen Kriegshandlung bringt die geplante Aufrüstung in Deutschland jedenfalls der ukrainischen Bevölkerung überhaupt nichts, auch langfristig nicht; es steigen nur die Aktienpreise von Firmen wie Rheinmetall. Das sei nur betont, weil ja dem Pazifismus immer vorgeworfen wird, er sei wirkungslos. Immerhin entzieht er sich der Logik des Krieges.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.