Die Festung Europa greift bei der Abwehr von flüchtenden Menschen vermehrt auf die Justiz zurück: Immer öfter werden Refugees, die die Fahrt übers Mittelmeer geschafft haben, in Griechenland wegen „illegaler Einreise“ und „Beihilfe zur illegalen Einreise anderer“ in rassistischen Prozessen zu jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelangen Haftstrafen verurteilt. Die Kampagne You can‘t evict Solidarity, die die Gerichtsverfahren begleitet und die Betroffenen unterstützt, stellt zwei aktuelle Fälle vor. (GWR-Red.)
Die Entfernung zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln erscheint so gering, und dennoch ist die Überfahrt für tausende Menschen seit Jahren sehr gefährlich: Unzählige Menschen haben dort schon ihr Leben gelassen, sind ertrunken, wurden nicht gerettet, wurden von Küstenwachen angegriffen, in türkische Gewässer zurückgepusht, sind in Seenot geraten oder wurden nach ihrer Ankunft verhaftet und kriminalisiert.
Unsagbare Ungerechtigkeit
So erging es auch Amir und Razuli, als sie im März 2020 versuchten, mit einem Schlauchboot von der türkischen Küste aus die griechische Insel Lesbos und somit die EU zu erreichen – und ebenso Hasan und N.* („Samos 2“), die im November 2020 auf der griechischen Insel Samos ankamen. Diese beiden Geschichten sollen hier exemplarisch für die unsagbare Ungerechtigkeit, das rassistische europäische Grenzregime und die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht erzählt werden.
Verschiedene internationale Initiativen und selbstorganisierte Gruppen haben sich seit Jahren zusammengeschlossen, um auf solche „boat driving“-Prozesse aufmerksam zu machen, sie kritisch zu beobachten und die Betroffenen solidarisch zu begleiten. Das Legal Centre Lesvos, Aegean Migrant Solidarity, Borderline Europe e. V., You can’t evict Solidarity und Deportation Monitoring Aegean sind Teil der Solidaritäts- und Öffentlichkeitskampagnen zu den hier beschriebenen Fällen von Amir und Razuli und von Hasan und N. Sie fordern Freiheit und Gerechtigkeit für alle Betroffenen, die einfach nur Schutz in Europa gesucht hatten und stattdessen willkürlich zu unsagbar hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt werden.
Das Berufungsverfahren von Amir und Razuli, die bereits im September 2020 verurteilt worden waren, war auf den 17. März 2022 auf Lesbos angesetzt und wurde schließlich – vielleicht aus Gründen zu großer Medien- und Beobachter*innen-Präsenz – erst auf den 7. April 2022 und dann auf den 8. Dezember 2022 verschoben. Gegen Hasan und N. wird am 18. Mai 2022 in erster Instanz auf Samos verhandelt.
Amir und Razuli
Amir und Razuli berichten, dass sie von der griechischen Küstenwache angegriffen wurden, die versuchte, sie unter Gewaltanwendung zurück in türkische Gewässer zu drängen, und dabei das Schlauchboot beschädigte. Die beiden Refugees wurden festgenommen und willkürlich der „Beihilfe zur illegalen Einreise“ und „Verursachung eines Schiffbruchs“ angeklagt, außerdem für ihre eigene illegale Einreise. Am 8. September 2020 wurden sie zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt.
Amir und Razuli, 27 und 24 Jahre alt, flohen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit aus Afghanistan nach Europa. Angesichts Europas zunehmender Abschottungspolitik, die es flüchtenden Menschen unmöglich macht, legal nach Europa einzureisen und Asyl zu beantragen, waren sie gezwungen, sich auf den gefährlichen Weg über die Ägäis zu begeben. Mit auf dem Boot befanden sich unter anderem auch Amirs kleine Tochter und seine hochschwangere Frau. Sie traten ihre Reise im März 2020 an – dem Monat, in dem die griechische Regierung die Aussetzung des Asylrechts als eines der grundlegendsten Menschenrechte verkündete und infolgedessen Schutzsuchende für ihre eigene „illegale Einreise“ anklagte. Dies steht in drastischem Widerspruch zum EU-Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention.
In ihrem ersten Gerichtsprozess sagten Razuli und Amir aus, dass die griechische Küstenwache das Boot angriff, sobald es in griechische Gewässer eingelaufen war. Die Küstenwache versuchte, das Boot mit Metallstangen zurück in türkische Gewässer zu drängen. Dabei durchbohrten sie die Wände des Schlauchboots, sodass Wasser eindrang und die Menschen an Bord in Lebensgefahr gerieten. Als das Boot zu sinken drohte, nahm die Küstenwache die fliehenden Menschen schließlich an Bord. Nach dieser zutiefst traumatisierenden Erfahrung wurden Amir und Razuli zusätzlich von Küstenwächtern verprügelt und willkürlich beschuldigt, „Schmuggler“ zu sein. Laut Amirs Frau, die gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter all dies miterleben musste, hörten sie erst damit auf, als sie ihr kleines Kind schützend vor ihren Mann hielt und die Männer anflehte aufzuhören. Sobald sie auf der griechischen Insel Lesbos ankamen, wurden Amir und Razuli vom Rest der Gruppe getrennt und auf die Polizeiwache gebracht. Sie wurden der eigenen „illegalen Einreise“, der „Beihilfe zur illegalen Einreise anderer Personen“ und der „Gefährdung des Lebens anderer Menschen“ beschuldigt. Sie kamen direkt in Untersuchungshaft und wurden am 8. September 2020 zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl es außer den Aussagen der Küstenwache keine Beweise gegen sie gibt, wurden sie lediglich vom Vorwurf freigesprochen, das Leben der anderen im Boot gefährdet zu haben.
Anwält:innen des Legal Centre Lesvos und des Human Rights Legal Project Samos haben Amir und Razuli in dem Prozess verteidigt. Dass der ohnehin schon verschobene Berufungsprozess nun erneut verschoben wurde – auf den 8. Dezember 2022 –, bedeutet weiteres monatelanges Warten und Ausharren in Unsicherheit und Unklarheit, auch für die Familie von Amir, die in einem Camp bei Thessaloniki lebt. Auch die Familie von Razuli ist verzweifelt: Nachdem Vater und Bruder von den Taliban ermordet wurden und seine Mutter vor Gram starb, hofften seine kleinen Geschwister wenigstens für ihn auf Sicherheit.
„Wir sind nur Fliehende, wir sind keine Menschenhändler und waren es auch nie“, sagte Razuli nach der erneuten Verschiebung der Berufungsverhandlung und weinte untröstlich. „Wir haben Afghanistan verlassen, um nach Europa zu kommen, um frei zu sein. Wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen gehört werden.“
Hasan und N. (Samos2)
Eine ähnliche Geschichte teilen Hasan und N., die in der Nacht des 7. November 2020 mit 22 anderen Menschen in einem Schlauchboot versuchten, von der Türkei aus die griechische Insel Samos zu erreichen. Ihr Boot geriet kurz vor der Küste von Samos in Seenot und kenterte, die herbeigerufene Küstenwache ließ sich mehrere Stunden Zeit, zum Unglücksort zu kommen, und unternahm auch dann zunächst keinerlei Versuche zu helfen. Erst im Morgengrauen griff sie ein – da war bereits der sechsjährige Sohn von N. ertrunken. Eine hochschwangere Frau überlebte nur knapp. Einen Tag nach dem Unglück wurden N. und Hasan von der griechischen Polizei verhaftet.
N. wird wegen des Todes seines Sohnes der „Kindeswohlgefährdung“ angeklagt, ein bisher einmaliger Vorgang in der Kriminalisierung von Schutzsuchenden in Griechenland. Würde er verurteilt, drohen ihm zehn Jahre Gefängnis. Hasan wurde verhaftet, weil er das Boot gesteuert haben soll; der Vorwurf lautet „unerlaubter Transport von Drittstaatsangehörigen in griechisches Hoheitsgebiet“, die „Gefährdung des Lebens von 23 Personen“ und das „Verschulden des Todes von einer Person“. Ihm droht im Falle einer Verurteilung eine absurd hohe Haftstrafe: Für jede transportierte Person zehn Jahre Haft, d. h. 230 Jahre, plus lebenslänglich für den Tod von N.s Sohn. Am 18. Mai 2022 wird der Prozess gegen Hasan und N. auf Samos stattfinden. Die Kampagne Free the #Samos2 setzt sich dafür ein, dass die Anklage gegen N. und Hasan fallen gelassen wird, sie mobilisiert zu Protesten und versucht, Aufmerksamkeit für diesen grausamen Fall zu erzeugen.
Keine Einzelfälle: systematische Kriminalisierung von Flucht
Fast täglich werden Schutzsuchende für ihre eigene Flucht kriminalisiert und willkürlich zu langen Haft- und hohen Geldstrafen verurteilt. Angeklagte – besser als „Opfer“ dieser ungerechten Gesetzgebung bezeichnet – haben in der Regel nur begrenzt Zugang zu einem Rechtsbeistand: Urteile werden oft trotz fehlender Beweise und mangelhafter oder fehlender Übersetzung gefällt. In Griechenland dauert ein derartiges Gerichtsverfahren im Schnitt lediglich 30 Minuten und mündet in einer durchschnittlichen Gefängnisstrafe von 44 Jahren und einer Geldstrafe von 370.000 Euro.
Nach offiziellen Angaben des griechischen Justizministeriums befinden sich derzeit fast 2.000 Menschen aus diesem Grund in griechischen Gefängnissen. Die Schicksale dieser Menschen sind jedoch nur selten bekannt. Sie werden meist unmittelbar nach ihrer Ankunft verhaftet und unbemerkt weggesperrt, ohne dass ihre Namen bekannt sind und ohne Zugang zu Unterstützung von außen. Große Aufmerksamkeit gibt es in diesen Fällen nicht, und die Gewalt und Verbrechen des europäischen Grenzregimes und insbesondere die Menschen, die darunter leiden müssen, verschwinden in der Unsichtbarkeit.
Die Fälle von N., Hasan, Amir und Razuli machen die Mechanismen der systematischen Kriminalisierung und ihre Auswirkung auf das Leben der Betroffenen nur beispiel- und ausschnitthaft deutlich. Sie zeigen aber, wie in Europa abseits öffentlicher Sichtbarkeit auf grausame Art und Weise Rechtsprechung im Interesse einer rassistischen Abschottungspolitik betrieben wird. Die Verhaftungen sollen primär der Abschreckung vor weiteren Überfahrten dienen. Dieser Gedanke ist absurd, da es nach wie vor keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt! Menschen, die aus Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit nach Europa fliehen wollen, haben keine andere Wahl, als sich auf lebensgefährliche Routen und in die Abhängigkeit Dritter zu begeben, die ihnen bei der Überfahrt helfen. Einmal auf dem Meer muss darüber hinaus eine Person das Steuern des Boots übernehmen.
Der Anwalt von Hasan und N. meint dazu: „Wir kriminalisieren damit Asylsuchende, die keine Alternative haben. Es gibt einen Abschnitt der Reise, in der das einzige, was sie tun können, ist, das Boot zu steuern, um ihr Leben zu retten.“ Und Hasan selbst beschreibt: „Wir sind nur Migrierende, und wenn Migrierende kommen wollen, werden die Schmuggler nicht mitkommen. Sie werden die Migrierenden zwingen, das Boot selbst ans Ziel zu bringen, ganz egal ob diese wissen, wie man ein Boot fährt oder nicht.“
Es sind willkürliche Schuldzuweisungen aus politischen Motiven auf strukturell marginalisierte Menschen, die sich situationsbedingt schlecht wehren können. Dabei ist es die Grenzpolitik, die Menschen tötet und zur Rechenschaft gezogen werden sollte! Auch N. gibt Hasan nicht die Schuld am Tod seines Sohnes. Stattdessen hat er inzwischen die griechische Küstenwache verklagt, weil sie die Rettung verzögert und keine Hilfe geleistet hat. Auf dem Grabstein seines Sohnes steht zu lesen: „Es war nicht das Meer, es war nicht der Wind, es sind die Politik und die Angst.“
Die Initiativen, die die Fälle von Amir und Razuli, von Hasan und N. beobachten, begleiten und sichtbar machen, fordern einen fairen Prozess, Gerechtigkeit und die Freilassung der Angeklagten sowie Freispruch in allen Anklagepunkten!
Sie fordern Freiheit für alle, die als „boat driver“ inhaftiert sind, und ein Ende der Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht. Die Europäische Union muss die willkürliche Inhaftierung von Geflüchteten und Migrant:innen beenden!
* Es ist N.s Wunsch, dass sein Name und der seines Sohnes nicht veröffentlicht werden.
Weitere Infos und Updates zu diesen und weiteren Fällen:
https://freethesamostwo.com/ und https://cantevictsolidarity.noblogs.org/
Twitter: @cantevict; #FreeAmirAndRazuli; #Samos2
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.