Einige Départements im Südosten Frankreichs waren von November 1942 bis September 1943 von italienischen Truppen besetzt, die dem deutschen Massenvernichtungsprogramm der Shoah nicht zuarbeiteten. Für „jüdische“ Menschen bot diese Region deshalb für einige Monate Schutz, wie Michael Scheer anhand von Alpes-Maritimes und insbesondere der Gemeinde Saint-Martin-Vésubie für die Graswurzelrevolution darstellt. Welche Folgen der Einmarsch der deutschen Truppen im September 1943 hatte und wie schwierig das Gedenken bis heute ist, ist Thema der Fortsetzung dieses Artikels, die in der GWR 470 erscheinen wird. (GWR-Red.)
Leider notwendige Vorrede
Warum die Anführungszeichen bei „JüdInnen“? Welche immer über die Shoah schreiben oder reden, haben das Problem der Benennung der Verfolgten und Ermordeten. Und welche, wie ich, nicht jedes Mal bei deren Erwähnung „die von den MörderInnen als JüdInnen Bezeichneten“ oder Ähnliches schreiben oder sagen wollen, müssen sich was überlegen. Ich habe mir fürs Schreiben die Anführungszeichen überlegt.
Begründung: Welche eine willkürlich ausgewählte Gruppe von Menschen diskriminieren, verfolgen, ermorden wollen, haben sofort das Problem, diese Gruppe zu definieren. Die Nazis haben das am 14. November 1935 mit der „1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935“ getan: „§ 5. (1) Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt.“ (Kursivsetzungen von mir, M. S.) Diese rassistische (hier stimmt einmal das Wort!) „Definition“ definiert aber noch gar nichts: Denn wer stellt fest, ob die jeweiligen Großeltern „jüdisch“ waren und deren Großeltern und und und …? Das war den Nazis auch klar, deshalb steht im § 2 der genannten Verordnung: „Als volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat.“ (Kursivsetzungen von mir, M. S.)
Entgegen ihren rassistischen Ansichten („Die Religion ist einerlei, im Blute liegt die Schweinerei!“ – das ist von Georg von Schönerer) griffen die Nazis also auf eine religiöse Definition zurück. Erklärten damit selbst ihre rassistische Definition für nicht funktional in ihrem Sinne. Und es geht noch weiter: Schon zwölf Tage nach der „1. Verordnung…“ wurde am 26. November 1935 in einem „Runderlaß des Reichsministers des Innern“ festgelegt: „c) Bei der Beurteilung, ob jemand Jude ist oder nicht, ist grundsätzlich nicht die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft, sondern zur jüdischen Rasse maßgebend. Um Schwierigkeiten bei der Beweisführung auszuschließen, ist aber ausdrücklich bestimmt, dass ein Großelternteil, der der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat, ohne weiteres als Angehöriger der jüdischen Rasse gilt; ein Gegenbeweis ist nicht zulässig.“ (Kursivsetzungen von mir, M. S.) Also im ersten Satz wieder eine rassistische Definition, die im direkt folgenden Satz konterkariert wird durch eine religiöse Definition.
Da es eine „jüdische“ „Rasse“ nicht gibt, wohl aber eine jüdische Religion, kann ich sinnvollerweise, wenn ich das Wort jüdisch/JüdIn schreibe, nur die Religionszugehörigkeit meinen (mit aller Kultur, die daran hängt). Aber, zum Beispiel: Im Dezember 1944 waren 28 % der Gefangenen in dem Ghetto-Lager Terezín (Theresienstadt) nicht jüdischen Glaubens. Und am 20. April 1945 waren es 36 % der Gefangenen dort. Nach der rassistischen Nazi-Definition waren sie aber alle „JüdInnen“. Wenn ich also in Bezug auf die Shoah von JüdInnen schreibe und eben nicht von „von den Nazis als JüdInnen Bezeichneten“, übernehme ich die rassistische Zuschreibung der Nazis. Um mich von dieser zu distanzieren, setze ich „JüdInnen“ in Anführungszeichen.
Les „JuiVes“ de Saint-Martin-Vésubie – Die „JüdInnen“ von Saint-Martin-Vésubie
Wir befinden uns im Jahre 58 vor der Jahrtausendwende. Ganz Gallien ist von den Germanen besetzt …Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Esubianern und Judäern bevölkertes und von den Römern (!) besetztes Dorf hört nicht auf, dem germanischen Eindringling Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die germanischen Legionäre, die als Besatzung in den befestigten Lagern Lutetia, Massilia und Lugdunum liegen …
Ganz so war es nicht, aber …
Am 7./8. November 1942 landen US-amerikanische und britische Truppen in Marokko und Algerien, die damals zu Vichy-Frankreich gehören. Darauf besetzt die deutsche Wehrmacht am 11. November 1942 den bisher unbesetzten Teil Frankreichs (grob: die Südhälfte außer der Atlantikküste), der von Vichy regiert wird. Im äußersten Südosten Frankreichs allerdings besetzt die italienische Armee am selben Tag etwa neun Départements (etwa ein Zehntel der Gesamtfläche Frankreichs, dazu Korsika). Eines dieser Départements ist Alpes-Maritimes (Seealpen), wo auch „unser“ Dorf Saint-Martin-Vésubie liegt.
Für die „JüdInnen“ in der ehemals unbesetzten Zone ändert sich durch den deutschen Einmarsch nichts – die von der Vichy-Gendarmerie auf deutsches Verlangen hin schon vorher durchgeführten Razzien gehen weiter. Die letzten großen Razzien vor der Besetzung der „Südzone“ hatten am 26./27. August 1942 stattgefunden. Dabei wurden 610 „JüdInnen“ aus den Alpes-Maritimes festgenommen.
Und Razzia heißt: Festnahme, Drancy, Auschwitz, Ermordung. Hier will ich – auch angesichts der aktuellen Diskussion in Frankreich – darauf hinweisen, dass die Vichy-Regierung versucht hat, „JüdInnen“, die sie als „FranzösInnen“ definiert hat, vor der Verschleppung zu bewahren – das allerdings keineswegs konsequent. Die staatenlosen bzw. „ausländischen“ „JüdInnen“ wurden für die deutschen MörderInnen gejagt und ihnen ausgeliefert. Das war der Handel von René Bousquet, dem Polizeichef Vichys, mit der deutschen Mörderbande. (Bousquet, nach 1945 unter anderem Direktor der „Banque d’Indochine“, 1991 (!) angeklagt wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wurde am 8. Juni 1993 mit 84 Jahren vor der Eröffnung des Prozesses erschossen.)
Doch in der von der italienischen Armee (in den Alpes-Maritimes die IV. Armata) besetzten Zone ändert sich für „JüdInnen“ „alles“: Für etwa neun Monate können sie jetzt dort unbehelligt leben, sie müssen sich lediglich zweimal täglich bei den Carabinieri melden. In den Alpes-Maritimes sind sie oft in Hotels untergebracht, die wegen der Kriegsereignisse leerstehen, so vor allem in Nizza und Saint-Martin-Vésubie, das als „Sommerfrische“ einen guten Ruf hatte – und deshalb viele Hotels. Diese Unterkünfte werden den „JüdInnen“ zwangsweise zugewiesen („résidence forcée“/„residenza forzata“). Nicht nur die deutschen MörderInnen, auch Vichy und seine Gendarmen haben in der italienischen Zone bezüglich der „JüdInnen“ nichts mehr zu melden. In der ersten Zeit ist es vorgekommen, dass italienische Soldaten mit Waffengewalt „JüdInnen“ aus der Haft der Vichy-Gendarmen befreit haben, zum Beispiel in Annecy im Februar 1943.
Die deutsche Mordmaschinerie ist in der italienischen Zone so zum Stillstand gekommen. Sehr schnell spricht sich das unter den „JüdInnen“ in der „Südzone“ herum, und viele fliehen in die italienische Zone. In den Alpes-Maritimes leben so im September 1943 etwa 25.000 „JüdInnen“.
Soweit bekannt (das bestätigt auch Serge Klarsfeld) wird von den Italienern aus den Alpes-Maritimes ein einziger „Jude“ an die deutsche Gestapo ausgeliefert: Theodor Wolff, der Ex-Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, wird am 19. Mai 1943 in Nizza von der italienischen politischen Polizei, OVRA (Opera volontaria di repressione antifascista bzw. Organizzazione di vigilanza e repressione dell’ antifascismo), festgenommen und als politischer Gegner (nicht als „Jude“) an die Gestapo ausgeliefert, was er nicht überleben wird. Die OVRA unterhält in Nizza ein Folterzentrum in der „Villa Lynwood“; sie bekämpft politische GegnerInnen des faschistischen Italiens (viele italienische AntifaschistInnen waren nach 1923 über die Alpen nach Frankreich geflüchtet, wo sie nun von der OVRA eingeholt werden).
Die deutsche Mörderbande in Paris (Carl OBERG, Höherer SS- und Polizeiführer in Frankreich; Helmut KNOCHEN, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst) in Frankreich; Heinz RÖTHKE, Leiter des Judenreferats der Gestapo beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich) läuft „Amok“:
Knochen an Heinrich Müller (Gestapo-Chef im Reichssicherheitshauptamt – RSHA – in Berlin) am 13.1.1943:
„Wenn jetzt die Italiener aber für alle Juden ausländischer Staatsangehörigkeit eintreten, so macht das die Fortführung einer Judenpolitik in unserem Sinne unmöglich …“
Knochen an Müller am 2.2.1943:
„Der Bericht schildert ausführlich, wie sich die italienischen Stellen im Departement Alpes Maritimes für die Juden eingesetzt haben und wie die Durchführung aller von der französischen Regierung angeordneten Judenmaßnahmen in dem von Italien besetzten Gebiet von den Italienern verhindert worden ist.“
Knochen an Müller am 22.2.1943:
„Durch das Eintreten der Italiener für die Juden ist den französischen Behörden erneut bewiesen worden, daß die deutsche und die italienische Auffassung in der Judenfrage absolut verschieden ist.“
„… ist es auf die Dauer ein unhaltbarer Zustand, daß die Endlösung der Judenfrage im neubesetzten Gebiet Frankreichs ausgerechnet von dem mit Deutschland verbündeten Italien … teilweise sogar unmöglich gemacht wird.“
„Gerade aber in dem von den Italienern besetzten Gebiet Frankreichs haben sich die Juden ganz besonders nach der Flucht aus dem altbesetzten Gebiet zusammengeballt. So ist insbesondere Lyon und die Côte d’Azur geradezu von reichen und einflußreichen Juden überschwemmt.“
Kurt Lischka (Stellvertreter Knochens) / Röthke an das RSHA am 13.3.1943:
„Alle Juden genießen noch heute in der von den Italienern besetzten Zone vollste Freiheit und erhalten laufend Zuzug aus dem von den deutschen Truppen neu besetzten Gebiet Frankreichs.“
Lischka / Röthke an das RSHA am 15.3.1943:
„So ist insbesondere die Côte d’Azur zu einem Asyl für das Judentum geworden …. Die Juden fühlen sich dort in völliger Sicherheit und gehen ihren schmutzigen Geschäften … völlig ungehindert nach.“
„Solange die italienischen Behörden ihre bisherige Haltung zur Judenfrage beibehalten, kann eine Lösung des Judenproblems im neubesetzten Gebiet Frankreichs nicht oder nur unvollkommen herbeigeführt werden …“
Knochen an Adolf Eichmann (Leiter des Referats für „Judenangelegenheiten“ bei der Gestapo im RSHA, IV B 4) am 29.3.1943:
„ 2.) Weil von französischer Seite ständig mit der Haltung der Italiener operiert wird und die Italiener erklären, sie würden die Juden nicht behandeln wie die Deutschen, sondern sie würden sich dagegen stellen, daß die Judenmaßnahmen weiter durchgeführt werden.“
Röthke, Vermerk vom 21.7.1943:
„Haltung der Italiener nach wie vor verständnislos. Italienisches Militär und italienische Polizei schützen die Juden mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Italienische Einflusszone, insbesondere die Côte d’Azur, sind geradezu das gelobte Land in Frankreich für die Juden geworden. In den zurückliegenden Monaten Massenflucht der Juden aus dem von uns besetzten Gebiet in das italienische Interessengebiet.“
Und so weiter, und so weiter …
Das sind nur einige Auszüge aus einer Flut beschriebenen Papiers der Mörderbande in Paris zu dem Thema.
Und es bleibt nicht nur bei Papier. Ab Februar 1943 interveniert das Deutsche Reich auch direkt massiv in Rom. Es wird Druck aufgebaut durch den deutschen Botschafter Hans Georg von Mackensen, der bei Ministerpräsident Benito Mussolini vorspricht. Sogar Außenminister Joachim von Ribbentrop kommt am 25. Februar 1943 persönlich nach Rom, um Mussolini unter Druck zu setzen. Doch vergeblich. Mussolini laviert, er lügt und weicht aus. Verbal macht er den Deutschen Zugeständnisse, real werden die aber nicht eingehalten. Und so geht das hin und her. Unter anderem ist am 27. März 1943 der deutsche Gestapo-Chef Heinrich Müller in Rom – vergeblich.
Über die Frage der Motivation Mussolinis und der italienischen Generalität gibt es verschiedene Ansichten. Ein Motiv der italienischen Regierung war sicherlich, in „ihrer“ Zone (die sie sehr wahrscheinlich nach dem „Endsieg“ annektiert hätte) von Anfang an eine eigenständige, vom deutschen und französischen Staat strikt abgegrenzte Autorität und Prä-Staatlichkeit zu behaupten. Ansonsten wird mehrheitlich vertreten, Mussolini habe den Deutschen nachgeben wollen, seine Generale in Frankreich hätten das aber sabotiert, bzw. es hätten einzelne italienische Offiziere entgegen Anweisungen human gehandelt. (Diese Ansichten vertritt besonders Davide Rodogno: Il nuovo ordine mediterraneo,Turin 2003.)
Ich tendiere dazu, dass ohne Mussolinis (vielleicht stillschwei-
gendes) mindestens Einverständnis dieses Verhalten der italienischen Armee in Frankreich angesichts des massiven deutschen Drucks nicht durchzuhalten gewesen wäre. Übrigens hat sich die italienische Armee in weiteren Gebieten, die sie in Kroatien, Montenegro und Griechenland besetzt hatte, ebenfalls gegen erbitterten Druck der deutschen MörderInnen als Schutzmacht für die dort lebenden „JüdInnen“ verhalten. (1)
Und das Leben der „JüdInnen“ in den Alpes-Maritimes im Frühling und Sommer 1943 geht weiter, ohne von diesem von Fanatismus getriebenen Papierkrieg zu wissen. In Saint-Martin-Vésubie, ca. 950 m hoch, idyllisch gelegen vor der Kulisse der Seealpen (bis über 3.000 m hoch), leben bis zu 1.500 „JüdInnen“ in der „résidence forcée“, zusammen mit etwa der gleichen Zahl Einheimischer. Die, die in André Waksmans Film (2) darüber berichten, waren damals Jugendliche und haben meist sehr schöne Erinnerungen an diesen Sommer in den Bergen.
Doch in Italien wird am 24./25. Juli 1943 (14 Tage nach der Landung von US-amerikanischen und britischen Truppen auf Sizilien) Mussolini weggeputscht. Der neue Staatschef ist Marschall Pietro Badoglio. Und der verhandelt mit den Alliierten (was die Deutschen „wissen“). Am Abend des 8. September 1943 wird die Kapitulation Italiens gegenüber den Alliierten vorzeitig bekannt (unterzeichnet wurde sie schon am 3. September).
Die bisher von der italienischen Armee Geschützten stehen vor
der Frage: weiterflüchten oder bleiben. In Saint-Martin-Vésubie entscheiden sich etwa 1.000 „JüdInnen“ für die sofortige Flucht über die Alpen ins Piemont, Italien. Dabei sind zwei Wege (und jahrhundertealte Schmugglerwege) möglich: über die Pässe Col de Fenestre oder Col de Cerise, beide etwa 2.500 m hoch. Die Flucht beginnt ungeordnet schon morgens am 9. September. Auch die italienische IV. Armee flieht Hals über Kopf auf denselben Wegen nach Italien. Meist nach zwei Tagen erreichen die Flüchtenden das Piemont.
Michael Scheer, Dezember 2021
(1) vgl. „The Righteous Enemy“ (Regie: Joseph Rochlitz, USA 1987)
(2) „1943. Le temps d’un répit“ (Regie: André Waksman. Frankreich 2009)
Teil 2 des Beitrags über die „JüdInnen“ von Saint-Martin-Vésubie erscheint in GWR 470. Die ausführlichen Quellenangaben und Literaturhinweise werden in der Onlinefassung des zweiten Teils auf graswurzel.net dokumentiert.