Nicht im luftleeren Raum

Der Krieg in der Ukraine im Kontext globaler Interessen

| Robert Krieg

Im medialen Getöse dominieren Geschichtsvergessenheit und bewusste Auslassungen. Die Angriffskriege der NATO werden ebenso systematisch verschwiegen wie die provokative Osterweiterung oder die gesellschaftlichen Folgen der Rüstungsoffensive der BRD. In seinem Beitrag für die Graswurzelrevolution beleuchtet Robert Krieg die Hintergründe des Ukraine-Kriegs. (GWR-Red.)

Der brutale, menschenverachtende Überfall auf die Ukraine hat eine lange Vorgeschichte. Die Behauptung einer „Zeitenwende“, von der jetzt unsere Politiker*innen sprechen, offenbart ihre Geschichtsvergessenheit. Die Zeitenwende hat vor 23 Jahren stattgefunden, mit dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriff auf das ehemalige Jugoslawien. Der deutsche Eintritt in den Krieg wurde mit einer humanitären Katastrophe im Kosovo legitimiert, die es vor Kriegsbeginn nicht gab, wie der damals leitende General bei der OSZE Heinz Loquai und Norma Brown, die damalige US-Diplomatin bei der OSZE, bestätigen. Bis zu Beginn der NATO-Luftangriffe gab es keine humanitäre Krise, und allen Menschen vor Ort war Folgendes klar: „Tatsache ist, dass es erst zu einer humanitären Katastrophe kommen würde, wenn die NATO bombardiert.“ (1) Mit einer Lüge sollten die Menschen in Deutschland von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt werden.
Spiegelbildlich operieren die Machthaber*innen im Kreml gegenwärtig mit der gleichen Lügenpropaganda. Allerdings mit dem Unterschied, dass heute die betroffenen Menschen vor Ort mithilfe digitaler Netzwerke und sozialer Medien unmittelbar aus den Kriegsgebieten berichten und der russischen Gehirnwäsche das eigene Erleben entgegensetzen.

Rot-grüne Tabubrüche

Der Tabubruch 1999 geschah unter tätiger Mithilfe der ersten rot-grünen Bundesregierung. Und wieder einmal sind es Sozialdemokrat*innen und Grüne, dieses Mal gemeinsam mit der FDP, die Grundsätzliches über Bord werfen: War es unter Gerhard Schröder und Josef Fischer 2003 die soziale Gesetzgebung und damit die Schaffung des europaweit größten Niedriglohnsektors, so ist es heute eine Kehrtwende hin zu einer Aufrüstungspolitik, die seit 1945 ihresgleichen sucht. Die 2 % des Bruttoinlandsprodukts – das heißt 2 % unserer Arbeitszeit – als nationale Rüstungsausgaben und das 100-Milliarden-Sondervermögen sind ein Totalangriff auf den Sozialstaat. Diese Gelder werden bei der Sanierung von Brücken, Krankenhäusern, Schulen und der Finanzierung der ökologischen Wende fehlen.
Ich höre die Sektkorken bei den Rüstungsfirmen knallen, deren Aktienkurse in die Höhe gesprungen sind. Würde ich Verschwörungsmärchen anhängen, müsste ich an ein perfektes Drehbuch mächtiger Lobbyist*innen glauben. Politische Entscheidungen, die unter einer schwarzen Regierung nicht oder doch nur sehr schwer durchsetzbar wären, lassen sich im Parlament durchwinken, wenn mit einer ernstzunehmenden Opposition nicht gerechnet werden muss.
Wenn wir unseren Leitmedien glauben wollen, dann sind wir die letzten 30 Jahre furchtbar naiv gewesen in unserem Glauben, in Russland keinen Aggressor zu sehen. Mich überrascht die Brutalität der russischen Machthaber*innen nicht. Aus persönlicher Anschauung weiß ich, wie das russische Militär allein aus geopolitischen Interessen gegen die Bevölkerung Syriens gewütet und mit Aleppo eine der ältesten Städte unserer Zivilisationsgeschichte in Schutt und Asche gelegt hat. Der Assad-Clan war und ist nach Lesart des Kreml bis heute der Garant für russische Häfen und Flughäfen am Mittelmeer. Heute droht Kiew, der „Mutter aller russischen Städte“, das gleiche Schicksal.
Naiv war ich allerdings in dem Glauben, dass die internationale Verflochtenheit der wirtschaftlichen Interessen Russlands und des Westens einen Krieg auf europäischem Boden ausschließt. Und das besonders mit Blick auf den wachsenden Einfluss globaler wirtschaftlicher Akteure, die die Bedeutung von Nationalstaaten zunehmend infrage stellen und ihnen höchstens eine Rolle bei der innerstaatlichen Kontrolle ihrer Bevölkerung zugestehen wollen. Ich kann in der Kriegsführung des Kreml nur ein archaisches, patriarchalisches, rückwärtsgewandtes Muster erkennen, das den tatsächlichen ökonomischen Bedingungen und Entwicklungen diametral zuwiderläuft. Man könnte den Angriffskrieg des Kreml aber auch als Auftakt eines Ressourcenkrieges verstehen, der sich unter dem Eindruck des Klimawandels geostrategische Einflusszonen sichert.

Das Märchen vom Friedensengel NATO

Doch was bewegt unsere Leitmedien, die von Deutschland unter Willy Brandt in Gang gesetzte Entspannungspolitik, die ganz entscheidend zum Ende des Kalten Krieges beigetragen hat, ins Lächerliche zu ziehen? Warum treten nun unsere Kolumnist*innen und Kommentator*innen im Büßerhemd auf? Den „wachsweichen Idealisten“, die vergeblichen Träumen einer verfehlten Entspannungspolitik nachhängen, stehen jetzt die „knallharten Realisten“, die nach Entschlossenheit und Härte rufen, gegenüber – das ist das Bild, das evoziert werden soll, um den wankelmütigen Teil der deutschen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die NATO ein entscheidendes Instrument der Friedenssicherung in Europa ist. Diese Erzählung muss auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Ohne Emotionen und auf der Grundlage von Fakten. Und da trübt sich das Bild.
Die Zusage des US-Außenministers James Baker an Michail Gorbatschow 1990, dass sich die NATO „Not an inch!“ gen Osten ausdehnen werde, (2) wurde 1997 mit dem Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien und 2004 von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und der Slowakei gebrochen. Immer mit der vagen Zusage, keine Nuklearwaffen und nur ein kleines Truppenkontingent zu stationieren. Der langjährige UN-Korrespondent Andreas Zumach schreibt dazu: „Entgegen dem im Westen weitverbreiteten Narrativ begann die Verschlechterung der Beziehungen nicht erst mit Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim im März 2014, sondern bereits mit der NATO-Osterweiterung, die ab 1996 vollzogen wurde. Es wurde das Versprechen gebrochen, das US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow Anfang Februar 1990 nachweislich gegeben hatten. Die Osterweiterung war ein schwerer historischer Fehler der NATO.“ (3)
In ähnlicher Weise geißelte George F. Kennan, einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Diplomatie nach dem 2. Weltkrieg, bereits 1997 die geplante Ost-Erweiterung der NATO als einen schicksalshaften Fehler. (4) Und der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer, ein Vertreter der „realistischen Schule“, sagte in einem Interview mit der „Welt“: „Der Westen ist zweimal davongekommen, aber beim dritten Mal, als 2008 plötzlich die Ukraine und Georgien zur NATO kommen sollten, hat Russland nicht länger zugesehen. Noch im selben Jahr gab es Krieg in Georgien und sechs Jahre später in der Ukraine. Die NATO hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.“ (5)
Einen konkreten Beitrittsplan für die Ukraine, den die George-Bush-Regierung durchsetzen wollte, um ihr strategisches Einflussgebiet zu erweitern, verhinderten damals Frankreich und Deutschland. Es gab zu dem Zeitpunkt in der ukrainischen Bevölkerung keine Mehrheit für einen Beitritt in die NATO, und man wollte die regionale Stabilität nicht gefährden. Warum legte 2008 die US-amerikanische Regierung die Axt an die mühsam erarbeitete europäische Sicherheitsstruktur und ermunterte Georgiens Präsident zu einem Überfall auf Südossetien, was natürlich Russland zum Eingreifen seinerseits herausforderte?
Wir wissen heute, wie die Neokonservativen der Bush-Regierung 2003 mit Lügen den Irak-Krieg begründet und lieber auf Diktatoren und Feudalherrscher gesetzt haben, um ihre geostrategischen Interessen durchzusetzen. (6) Diese Art rückwärtsgewandter Politik paarte sich gegenüber Russland offenbar mit der Chuzpe, ihm einen Platz am Katzentisch zuzuweisen.

„Kornkammer Ukraine“ im Fokus der Geostrategie

Das Dilemma Europas besteht darin, dass wir den Interessen der USA ausgesetzt sind, die sie u. a. mit Hilfe der NATO prioritär behandeln und leider auch durchsetzen. Geostrategie hat immer mit Wirtschaft zu tun. Die Ukraine ist als Kornkammer ein wesentlicher Baustein in der globalen Wirtschaft. Sie steht ganz oben auf der Liste des Land-Grabbing: „Eine Fläche fast so groß wie Nordrhein-Westfalen wurde dort in den letzten Jahren verkauft, oft an Investoren mit Sitz in Zypern oder Luxemburg, bekannt für niedrige Steuern.“ (7) Dementsprechend ist die Ukraine als Wirtschaftsraum umkämpft und wird zum Spielball wirtschaftlicher Interessen. Der gegenwärtige Krieg treibt die Weizenpreise steil nach oben und wird eine Hungersnot in Afrika zur Folge haben.
Der viel beschworene Multilateralismus nach dem Ende der Sowjetunion war aus westlicher Perspektive immer gepaart mit der Ein- und Unterordnung Russlands und Chinas in das westliche System der „freien Märkte“, in der die westlichen Industriestaaten die Standards setzten. Doch deren Wirtschaftskraft ist inzwischen durch die Steigerung der Marktanteile Chinas und anderer Schwellenländer erheblich gesunken. Und erneut siegt die Ideologie über die globale wirtschaftliche Vernetzung: „Vor allem China und Russland wurden wieder zu systemischen Rivalen. In der EU-Handelsstrategie wird die Kooperation mit „gleichgesinnten Partnern“, die sich gegen ein „inkompatibles Wirtschaftssystem“ durchsetzen müssen, beschworen. … In dieser Konkurrenzlogik traten gemeinsame Sicherheitsinteressen und eine europäische Friedensordnung aus dem Blickfeld.“ (8)

Oligarchen als Machtstütze

Nach den chaotischen Jahren der Boris-Jelzin-Ära, die sicherlich zugleich auch von einem demokratischen Aufbruch gekennzeichnet war, ist mit Wladimir Putin ein Mann an die Macht gekommen, dessen Politik Russland ein Stück seiner Souveränität wiedergegeben hat. Zentral ging und geht es bis heute um die Wiederherstellung der Großmacht Russland. Dieses Bestreben hat seine Wurzeln im Zarenreich und in der Sowjetunion. Das wurde Putin lange Zeit von der Mehrheit der russischen Bevölkerung gedankt, ohne ihn bei seiner Wandlung zum Despoten rechtzeitig an der Wahlurne zu stoppen.
Zur Oligarchie, die den Kreml kontrolliert, gehört eine Reihe von Wirtschaftsbossen, die sich in der Privatisierungswelle unter Jelzin den größten Teil des wirtschaftlichen Volkseigentums einverleibt hatten. In den Neunzigerjahren versammelte Putin die dreißig wichtigsten Oligarchen im Kreml und offerierte ihnen ein Geschäft. Wenn sie seine künftige Politik unterstützen würden, würden ihre Raubzüge keine strafrechtlichen Folgen haben. Die meisten stimmten zu, nur wenige widersetzten sich. Der Oligarch Michail Chodorkowski wurde zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt.
Auf dieser Basis beruht die Macht des Kreml-Herrschers. Sie kann nur ernstlich bedroht werden durch harte wirtschaftliche Sanktionen, die den dem Kreml nahestehenden Wirtschaftsbossen ihre Geschäftsgrundlage entziehen. Da darf es keine Zurückhaltung geben und ein Öl- und Gasembargo nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Im Januar 2022 wurden allein von Deutschland binnen vier Wochen Öl und Gas im Wert von 2,6 Milliarden Euro importiert. Das füllt nicht nur die Kriegskasse des Kreml, sondern auch die Taschen der reichsten Männer Russlands.

Verhandlungen statt Waffenlieferungen

Wenn wir einen jahrelangen blutigen Krieg mit unermesslichem Leid stoppen wollen, dann müssen wir auf Verhandlungen und nicht auf Waffenlieferungen setzen. Es gibt dafür eine realistische Grundlage: Die bindende Anerkennung einer strategischen Parität zwischen Russland und den USA. Der Pferdefuß für uns Europäer*innen ist dabei, dass wir dabei auf die USA angewiesen sind.
Angesichts der Drohung einer Eskalationsspirale, die in einem Atomkrieg münden kann, wäre es für die NATO-Bündnispartner kein Gesichtsverlust, das Beitrittsangebot der NATO an die Ukraine zurückzunehmen. Das Recht auf freie Bündniswahl begründet kein Recht auf einen NATO-Beitritt, wenn dadurch die strategische Stabilität Europas bedroht wird. Seit Jahren fordert Russland die verbindliche Zusage, dass weder die Ukraine noch Georgien in die NATO aufgenommen werden. „Warum nicht im Gegenzug russische Garantien für diese Staaten einfordern? Warum nicht über eine großflächige Ausdünnung der Militärpräsenz in Mittel- und Osteuropa verhandeln? Warum nicht wirtschaftliche Anreize für eine derartige Schubumkehr schaffen? …. Oder glaubt jemand im Ernst, Kernfragen der heutigen Zeit – vom Umweltschutz bis zur Bekämpfung von Pandemien – wären zu lösen, indem man die Gräben vertieft und Konflikte auf die Spitze treibt?“ (9)
Ich weiß, wie schwer es vielen Menschen in den ehemaligen Ostblock-Staaten fällt, Russland als möglichen Vertragspartner wahrzunehmen und zu akzeptieren. Meine Freund*innen in Estland haben mir zu große Vertrauensseligkeit gegenüber Russland vorgeworfen, und der Krieg scheint ihnen jetzt recht zu geben. Doch da wird die Komplexität der Situation unzulässig vereinfacht. Im Grunde ist es ein archaisches militaristisches Denken, das zum Krieg in der Ukraine geführt hat. Auf der einen Seite die NATO-Osterweiterung und auf der anderen Seite eine Kreml-Führung, die bei der Durchsetzung ihrer geopolitischen Interessen allein auf das Militär setzt.

(1) „Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg – Es begann mit einer Lüge“ (WDR 2014), https://www.youtube.com/watch?v=ZtkQYRlXMNU
(2) https://www.spiegel.de/ausland/nato-osterweiterung-aktenfund-stuetzt-russische-version-a-1613d467-bd72-4f02-8e16-2cd6d3285295
Das ursprünglich als „secret“ eingestufte Dokument behandelt ein Treffen der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991 über die Sicherheit Osteuropas. Demnach betrachteten die westlichen Staaten eine NATO-Mitgliedschaft der osteuropäischen Staaten einhellig als „inakzeptabel“. Allerdings traf der Westen keine völkerrechtlich bindende Vereinbarung mit dem Kreml, die eine NATO-Osterweiterung ausschließt.
(3) Weitere wertvolle Hinweise und Details finden sich hier: https://extradienst.net/2022/01/19/nato-osterweiterung/
(4) George F. Kennan, A Fateful Error, in: New York Times, 5.2.1997
(5) John Mearsheimer im Interview, Welt, 30.1.2022
(6) vgl. Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, C. H. Beck, München, 2015
(7) Beate Bockting, „Sicherheit neu denken“, in: FR, 4.3.2022
(8) Roland Süß, „Systemische Rivalen“, in FR, 3.3.2022
(9) Bernd Greiner, „Alleintäter Russland: Wie man Feuer mit Benzin löscht“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/22, S. 52