Hope Barker ist in einem Gemeindezentrum in Thessaloniki aktiv, das unter anderem Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel für Geflüchtete bereitstellt. Sie beteiligt sich am Border Violence Monitoring Network (BVMN), das in den letzten Jahren gewalttätige Grenzpraktiken auf dem gesamten Balkan dokumentiert hat. Das BVMN veröffentlicht regelmäßig Berichte auf seiner Website sowie das „Schwarzbuch der Pushbacks“. (1) Das Interview führte Wasil Schauseil im Oktober 2021 in Thessaloniki.
GWR: Wie arbeitet ihr als Teil des BVMN?
Hope Barker: Normalerweise sind wir jeden Tag, von Montag bis Freitag, zu dritt in unserem Gemeindezentrum in Thessaloniki: zwei Mitglieder des Dokumentationsteams und ein*e Übersetzer*in. Sie arbeiten gleichzeitig mit dem Ärzt*innenteam, d. h. jede*r, die*der mit Verletzungen zu uns kommt, die auf Polizeigewalt hindeuten, wird nach der ärztlichen Behandlung direkt an das BVMN-Team verwiesen. Wenn die Betroffenen zustimmen, nehmen wir eine Zeug*innenaussage auf.
Das geschieht in einem halbstrukturierten Format, bei dem wir bestimmte Informationen abfragen müssen, aber die Idee ist, harte Daten wie geografische Angaben, Fahrzeugbeschreibungen, medizinische Berichte über Verletzungen, Zeit- und Datumsangaben mit einem längeren qualitativen Bericht zu kombinieren. Dies gibt den Menschen auch den Raum, ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Verletzungen sind also ein Anzeichen dafür, dass ein Pushback stattgefunden hat?
Nicht immer. Von der Evros-Grenze aus sind es 20 bis 25 Tage Fußmarsch nach Thessaloniki. Wenn die Menschen gewaltsam zurückgedrängt wurden, hatten sie also bereits in der Türkei gewartet, sich ausgeruht und sind oft zurück nach Istanbul gegangen, um mehr Geld zu verdienen. Dann haben sie die Grenze zurück überquert. Wenn sie zu uns kommen, kann es also mehr als einen oder zwei Monate her sein, dass sie zurückgeschoben wurden.
Wenn wir von Pushbacks hören, versuchen wir die Betroffenen direkt an Josoor (2) in der Türkei zu verweisen, weil die Qualität natürlich umso besser ist, je früher nach dem Ereignis die Zeug*innenaussagen aufgenommen werden. Persönliche Zeug*innenaussagen sind besser als solche, die wir am Telefon bekommen. Die Evros-Pushbacks folgen seit 2020 demselben Muster. In 90 Prozent der Fälle werden die Betroffenen festgenommen, inhaftiert und dann in die Grenzzone von Evros gebracht, wo es all diese Blacksites, Militärkomplexe, nicht gekennzeichneten Polizeistationen und verlassenen Gebäude gibt, die als Hafträume genutzt werden. Es ist ganz anders als in Kroatien, denn dort ist das Muster im Allgemeinen so: Beamt*innen greifen eine Gruppe auf und schieben sie direkt ab. In Evros sammeln sie Menschen ein, bis es 100 oder mehr sind. Viele von ihnen bleiben 24 bis 48 Stunden lang in diesen Haftanstalten, während weitere Gruppen gebracht werden. In diesen Gewahrsamszentren, diesen „Incommunicado“-Gefängnissen, wird normalerweise die Gewalt ausgeübt. Schwarz gekleidete Beamt*innen mit Sturmhauben kommen herein, und es wird eine Reihe von Gewaltstrategien angewendet. Es wird berichtet, dass Elektroschockwaffen eingesetzt und Köpfe rasiert werden. Menschen werden gezwungen, sich zu entkleiden, und lange geschlagen. Ein Mann sagte, dass er mit Elektroschockwaffen gefoltert und sechs Stunden lang in Wasser getaucht wurde. Von dort aus werden sie zum Fluss gebracht, wo oft noch mehr Gewalt angewendet wird, z. B. Schläge, auch auf den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen, und dann werden sie in die Boote gesetzt. Es gibt eine weitere Veränderung: Früher waren es griechische Beamt*innen, die die Boote lenkten, jetzt sind es Mitglieder der zurückgedrängten Gruppe selbst. Sie bringen also Leute aus der Gruppe dazu, die Schlauchboote zurück zur türkischen Seite des Grenzflusses zu fahren. Dies ist ein geschickter semantischer Trick des griechischen Staates, denn nun kann er sagen: „Wir fahren keine Menschen in Schlauchbooten über den Fluss Evros“, während es natürlich die Behörden sind, die die Pushbacks durchführen.
Eine weitere Neuerung ist, dass sie oft nicht einmal zur türkischen Seite gebracht werden, sondern einfach auf den Inseln in der Mitte des Flusses abgesetzt werden: Winzige Inseln, auf denen es keine Nahrung, kein Wasser, keine Unterkunft gibt, bis zu 60 Menschen auf einem winzigen Stück Land. Sie haben die Wahl zu versuchen, entweder nach Griechenland oder in die Türkei zurückzuschwimmen. Viele von ihnen ertrinken, wie kürzlich, als 12 Menschen starben, nachdem sie entkleidet, auf einer Insel ausgesetzt und gezwungen worden waren, zurückzuschwimmen. (3) Dies geschah erstmals gegen Ende des letzten Jahres (2020, Anm. d. Red.).
Gibt es da also ein Muster?
Ja, das ist absolut systematisch, und die geografische Reichweite ist enorm. Ich will damit sagen, vor 2020 gab es niemals Pushbacks aus Thessaloniki, das war ein sicherer Raum. Seit dem ersten Covid-Lockdown werden die Leute im Inland zusammengetrieben und zurückgedrängt. Zum Beispiel aus dem Diavata-Lager: Beamt*innen gingen hinein, nahmen Menschen mit und schickten sie zurück. Sie nahmen 40 Menschen von unserem Zentrum mit, die für Lebensmittel anstanden, und am nächsten Tag waren sie in der Türkei.
Macht es einen Unterschied, ob die Menschen registriert sind?
Es spielt keine Rolle. Selbst wenn sie Papiere haben, werden sie mitgenommen.
Es gibt also ein massives Ausmaß an gewaltsamem Verschwinden-Lassen und Festnahmen aus Städten und aus Lagern?
Ja, das ist so seit 2020. Das war wirklich schockierend. Wir haben definitiv nicht erwartet, dass das so schnell passieren würde. Ich glaube, der Lockdown hat ihnen den Rücken gestärkt, alles zu tun, was sie wollen, und alle haben in die andere Richtung geschaut.
Es ist auch auffällig, dass die Sichtbarkeit der Menschen keinen Schutz mehr bietet, sodass selbst Leute, die von allen gesehen wurden, immer noch zurückgedrängt werden.
Ja, es spielt keine Rolle. Nichts bietet mehr Schutz! Nicht einmal Dokumente.
Wer sind die Täter*innen bei Pushbacks, die griechische Polizei – und wer noch?
Ja, aber es gibt auch mehrere Zeug*innenaussagen, die auf deutschsprachige Beamt*innen hindeuten, und sogar Zeug*innenaussagen, die von Leuten mit einer hellblauen Armbinde mit der Europaflagge darauf berichten.
Während welcher Phase der Pushbacks?
In der Regel in den Verwahrungszentren im Grenzgebiet. Wir wissen, dass dies das Einsatzgebiet von FRONTEX ist. Ich habe keine Beweise, um zu sagen, dass FRONTEX Pushbacks in Evros durchführt, aber sie wissen es offensichtlich. Es gibt deutschsprachige Beamt*innen, Fahrzeuge mit deutschen Nummernschildern. Sie sind also zumindest mitschuldig, weil sie diese Menschenrechtsverletzungen in einem Einsatzgebiet von FRONTEX nicht unterbinden, was einen Verstoß gegen ihren Verhaltenskodex darstellt.
Gibt es Schätzungen über die Zahl der Opfer von Pushbacks in diesem Jahr (2021)?
Ich habe hier die Statistiken von BVMN. Das ist das, was wir aufgezeichnet haben, und nur die Spitze des Eisbergs. Wir bekommen im Moment weniger Zeug*innenaussagen, weil viele Menschen mit Schlepper*innen unterwegs sind, was für viele die einzige Möglichkeit ist, die sie noch haben. Im Jahr 2020 waren es 87 Pushbacks von Griechenland in die Türkei, die 4.683 Menschen betroffen haben, und seit Anfang 2021 haben wir 54 Zeug*innenaussagen aufgenommen, was einer geschätzten Zahl von 4.007 Menschen entspricht. Wie gesagt, das ist nur das, was wir dokumentiert haben.
Es betrifft fast jeden. Wenn Neuankömmlinge zu uns kommen, frage ich sie normalerweise, wie oft sie schon versucht haben, die Grenze zu überqueren, und normalerweise sind es drei bis vier Mal. Ich glaube nicht, dass es jemand wirklich beim ersten Mal schafft.
Mir hat jemand auf Samos gesagt, dass sie Probleme haben, Beweise zu sammeln, weil die Leute bis zu zehn Mal zurückgedrängt worden waren.
Ja, und dann bringen sie die Geschichten durcheinander, ich weiß. Das ist eine der Schwierigkeiten. Außerdem muss man es den Leuten sagen: Die Zeug*in-nenaussage wird euch in keiner Weise helfen, das wird eurem individuellen Fall überhaupt nicht helfen. Vielleicht hilft es uns, dafür einzutreten, dass sich die Dinge in Zukunft ändern, aber es sieht nicht vielversprechend aus. Wenn man nur bedenkt, wie viel Geld und Mühe es kostet, einen Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder den Europäischen Gerichtshof zu bringen, und für einen Fall gibt es, ich weiß nicht, 5.000 andere …
Betroffene müssen also jede Klage auf einem individuellen Vorfall aufbauen?
Ja, genau. Ich meine, es gibt eine Gruppe, die vor kurzem versucht hat, Griechenland vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verklagen, aber ich glaube nicht, dass das etwas bringen wird.
Die Regierung leugnet die Vorwürfe von Pushbacks und gibt sie gleichzeitig zu, soweit ich weiß?
Ja, sie wechseln sich ab. Manchmal sagen sie: Das passiert nicht, manchmal sagen sie: Ja und? Aber die Sache ist auch die, dass es wirklich schlimm ist, wenn Leute in der Öffentlichkeit argumentieren: „Griechenland ist so schrecklich. EU, komm und rette uns“ – das ist falsch! Griechenland spielt natürlich seine Rolle im System, aber es geht auch von der EU aus. Wenn man sich die BVMN-Statistiken anschaut, sind sowohl Kroatien als auch Griechenland die gewalttätigsten Pushback-Täter mit bis zu 90 Prozent der Fälle, die eine oder mehrere Formen der Folter beinhalten. Griechenland liegt am Rande der EU und Kroatien an der Grenze des Schengen-Raums. Wenn man sich dies und die Statistiken ansieht, ist es offensichtlich, woher der Druck kommt.
Ändert die kürzlich in Kraft getretene Regierungsverordnung zur Türkei als „sicherem Drittland“ etwas?
Ich denke ja, denn im Grunde genommen werden die Asylanträge der Menschen jetzt bereits in den Zulässigkeitsverfahren abgelehnt, und dann sind sie in einem Zustand langfristiger Rechtsunsicherheit gefangen, weil man sagt, dass sie hier kein Asyl beantragen können und deshalb auch keine Papiere bekommen. Natürlich ist es ziemlich willkürlich, wer zurückgeschoben wird, aber wenn man keine Papiere hat, ist es viel wahrscheinlicher. Es ist auch wahrscheinlicher, dass man in einem Abschiebegefängnis festgehalten wird, z. B. in Paranesti oder Drama.
2019 wurde das „Gesetz zum internationalen Schutz“ verabschiedet, ein wichtiges Gesetzesdokument in Griechenland. Seitdem werden diese Zentren für Abschiebehaft genutzt. Wenn du ohne Papiere bist und aufgegriffen wirst und einen Asylantrag stellst, wirst du in eines dieser Zentren gebracht, wo du rechtlich gesehen 18 Monate lang festgehalten werden kannst, während dein Antrag bearbeitet wird. Wenn er dann abgelehnt wird, kannst du für weitere 18 Monate festgehalten werden, um auf deine Abschiebung zu warten. Wer also einen Asylantrag stellt, der abgelehnt wird, kann legalerweise drei Jahre lang festgehalten werden. Die Entwicklung des griechischen Staates geht in Richtung Masseninternierung, Eingrenzung und Kontrolle. Hinzu kommt, dass sich alle Lager in geschlossene Lager verwandeln. (4)
Wie in dem neuen Lager auf Samos?
Genau. Das ist völlig absurd, denn in der EU-Terminologie heißt es „Mehrzweck-Identifizierungs- und Aufnahmezentrum“, und auf Griechisch ist es eine „geschlossene kontrollierte Struktur“. Es handelt sich um dasselbe Gebäude, und sie nennen es völlig anders. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Regierung sehr systematisch vorgeht, und ein anderes Mal scheint es völlig willkürlich zu sein. Das ist der Punkt. In der Vergangenheit gab es wirklich eine Linie, der wir folgen konnten. Wir wussten, was geschah, während es jetzt so willkürlich ist. Ich glaube, das ist Taktik. Früher konnte ich zu den Leuten sagen: Wenn ihr dies tut, wird dies geschehen. Wenn ihr jenes tut, wird jenes passieren. Jetzt kann ich einfach keinen Rat mehr geben. Ich kann sagen: Das ist das Gesetz, aber ich muss auch sagen, dass es wahrscheinlich nicht befolgt wird.
Abschreckung auf ganzer Linie. Leute aussperren, und wenn sie da sind, es ihnen so unangenehm wie möglich machen.
Ja, genau. Es ist sehr entmutigend.
Was treibt dich an?
Ich denke, du kannst nicht vergessen, was du weißt, und dann kannst du nichts anderes tun. Ich kann direkte Hilfe leisten, aber beim BVMN kann ich auch politische Analysen durchführen und mich auf einer anderen Ebene einsetzen. Beides zu haben ist wirklich gut. Trotzdem ist es, besonders im Moment, sehr deprimierend. Alles, die Todesfälle, die vermissten Menschen, alles wird im Winter schlimmer.
Was würde einen Unterschied machen? Mehr Menschen, die Dokumentationsarbeit machen?
Es muss einen wirklich unabhängigen Grenzüberwachungsmechanismus geben, der unabhängig finanziert wird. Im neuen Migrationspakt der EU, der im Oktober letzten Jahres veröffentlicht wurde, war zwar von einem solchen unabhängigen Grenzüberwachungsmechanismus die Rede, aber es wurde nicht näher darauf eingegangen. Nun hat man es in Kroatien bereits versucht, und im Grunde war es ein völliges Chaos. Das kroatische Innenministerium wählt aus, wer die Überwachungsaufträge erhält, also wählt die Regierung aus, wer sie überwacht.
Es gibt einen neuen Vorschlag, der jetzt in Kroatien umgesetzt wird – und Griechenland wird das zweite Testgebiet sein: Es wird eine begrenzte Anzahl von Beobachtungsmissionen pro Jahr geben, und zwar nur an offiziellen Grenzübergangsstellen. Wenn sie sich in informelle „grüne Zonen“ begeben wollen, müssen sie den genauen Zeitpunkt ihrer Überwachungsreise fünf Tage vorher ankündigen, sodass es keine unabhängige Überwachung geben wird.
Es muss ein Alarmsystem geben, das die Menschen auslösen können, wenn die Gefahr besteht, dass ihre Rechte verletzt werden. Wenn man dies zulassen und die Menschen nicht kriminalisieren würde, wäre das genau das Richtige.
Das Gegenteil ist der Fall: Diejenigen, die Aufklärungs-, Dokumentations- und Solidaritätsarbeit leisten, werden kriminalisiert, wenn sie sich in die Grenzgebiete begeben, und sind irrsinnigen Prozessen und Medienverleumdungskampagnen ausgesetzt. Sie werden als Menschenschmuggler*innen dargestellt und Dinge beschuldigt, die sehr lange Haftstrafen nach sich ziehen können.
Was wird diesen Menschen vorgeworfen?
Spionage, Menschenschmuggel, Menschenhandel, Beihilfe zur illegalen Einreise, Beihilfe zum illegalen Aufenthalt. Da muss man sehr vorsichtig sein.
Das BVMN hat bereits zwei umfangreiche Schwarzbücher über Pushbacks veröffentlicht. Werdet ihr mit diesen Berichten fortfahren?
Wir haben bereits genug Material, um an einem weiteren Bericht zu arbeiten, und wir wollen unser Versprechen einlösen, jedes Jahr einen neuen Bericht zu veröffentlichen, bis die Pushbacks beendet sind.
(1) https://www.borderviolence.eu/launch-event-the-black-book-of-pushbacks/
(2) Josoor ist eine antirassistische Organisation, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und Soforthilfe leistet: https://www.josoor.net/
(3) https://news.sky.com/story/turkey-says-greek-guards-pushed-back-migrants-found-frozen-to-death-near-border-12531034#:~:text=Twelve%20migrants%20have%20been%20found,their%20clothes%2C%20Turkish%20authorities%20said
(4) https://migration-control.info/neues-auffanglager-in-griechenland-und-die-begrenzung-primaerer-stroeme/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.