In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bauten die Anarchist:innen in Bulgarien eine bemerkenswerte Bewegung auf und beteiligten sich an zahlreichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Bewegung durch die Repression des bulgarischen Staatssozialismus zerschlagen. Für die Graswurzelrevolution verfasste Konstantin Behrends einen Rückblick. (GWR-Red.)
Entstehung der anarchistischen Bewegung in Bulgarien
In den 1860er-Jahren, noch zur Zeit des Osmanischen Reichs und vor Gründung des bulgarischen Nationalstaats, kamen bulgarische Nationalrevolutionär:innen als erste in Kontakt mit den anarchistischen Ideen und ließen sich von ihnen beeinflussen. Nach Entstehung des ersten bulgarischen Staats 1878 verbreiteten sich diese Ideen dank der Ankunft russischer Narodniki, der Kontakte bulgarischer Auslandsstudent:innen und der Veröffentlichungen von Frühsozia-list:innen weiter. So entstanden in den 1880er- und 1890er-Jahren die ersten anarchistischen Gruppen.
Zwischen 1897 und 1903 beteiligten sich die bulgarischen Anarchist:innen in Abstimmung mit der radikaldemokratischen Befreiungsbewegung in der Region Mazedonien am Kampf gegen das Osmanische Reich. Ihre spektakulärsten Aktionen waren 1903 die Anschläge von Thessaloniki und ein bewaffneter Aufstand im Strandscha-Gebirge. Das Ziel, eine Autonomie aller Völker der Region, konnten sie nicht erreichen. Sie verlagerten anschließend ihren Aktionsschwerpunkt ins bulgarische Königreich. Dort bauten sie ein eigenes Verlagswesen und anarchistische Gruppen auf.
Die FAKB in der Zwischenkriegszeit
Nach dem Ersten Weltkrieg, gegen den die Anarchist:innen als Kriegsdienstverweigerer und Antimilitarist:innen aktiven Widerstand leisteten, gründeten sie 1919 die landesweite Föderation der Anarchokommunisten in Bulgarien (FAKB). Am fünften Kongress der FAKB 1923 in Jambol nahmen 104 Delegierte und 350 Gäste aus 89 lokalen Organisationen teil. Die Föderation unterhielt zu dem Zeitpunkt vier Verlage und veröffentlichte die Zeitung „Rabotnitscheska Missal“ (dt. „Arbeiterdenken“) mit einer Auflage von 7.500 Exemplaren, die in 140 Orten vertrieben wurde. Etwa 10.000 Menschen dürften zu dem Zeitpunkt unter dem Einfluss anarchistischer Ideen gestanden haben. Die Bewegung hatte eine weitgehend anarchokommunistische Ausrichtung und verfügte über einen bewaffneten Flügel.
In Bulgarien kam es schon 1923 zu einem erfolgreichen rechten Militärputsch gegen die linke Regierung des Bauernbunds. Die Anarchist:innen beteiligten sich an den zwei bewaffneten Aufständen, die im Juni und September in Reaktion darauf ausbrachen und beide blutig niedergeschlagen wurden. Einige bewaffnete anarchistische Partisan:innengruppen konnten sich bis 1925 halten.
Abgesehen von einer kurzen Liberalisierungsphase von 1926 bis 1934 wurde Bulgarien bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs von autoritären Regimen beherrscht. Dennoch schafften es die Anarchist:innen, ihre Arbeit fortzuführen und Solidarität für die Spanische Revolution zu organisieren. Zum großen Teil taten sie dies versteckt im Rahmen der Esperanto- und Abstinenzvereine. Etwa 40 von ihnen gingen nach Spanien und kämpften dort in den anarchistischen Milizen und Organisationen. Im Zweiten Weltkrieg ging die bulgarische Regierung das Bündnis mit Hitler ein. Diese Zeit verbrachten viele Anarchist:innen in Gefängnissen und Lagern sowie im Untergrund und im Exil.
Reorganisierungsversuche unter den zunehmenden Repressalien der Kommunistischen Partei
Am 9. September 1944 putschte die Vaterländische Front, ein extrem breites Volksfront-Bündnis, gegen die Regierung und wechselte anschließend auf die Seite der Alliierten. Gleichzeitig marschierte die Rote Armee in Bulgarien ein. Die Anarchist:innen sahen nun die Zeit gekommen, ihre Bewegung wieder aufzubauen. Die Ortsgruppen gründeten sich neu. Schon im Oktober 1944 fand eine erste landesweite Konferenz statt. Im Dezember wurde die erste Ausgabe der Zeitung „Rabotnitscheska Missal“ herausgebracht.
Innerhalb der Vaterländischen Front riss die Kommunistische Partei (BKP) die Macht zusehends an sich und etablierte eine Ein-Parteien-Diktatur. 1945 richtete die Staatssicherheit eine eigene Gruppe zum „Kampf gegen die Anarchisten“ ein. Diese wurde im Rahmen von Umstrukturierungen verschiedenen Abteilungen unterstellt, blieb aber als eigenständige Gruppe bestehen. Erst 1956 wurde sie mit anderen Strukturen zusammengelegt. Die Überwachung der Anarchist:innen wurden mit einigem Aufwand betrieben. 1951 waren auf geschätzte 3.000 Anarchist:innen über 140 Spitzel angesetzt.
Die Anarchist:innen stritten sich schon Anfang 1945 über ihr Verhältnis zur Vaterländischen Front. Während die Anarcho-kommunist:innen offen Kritik übten, unterstützten die Syndikalist:innen die Regierung zunächst weiterhin und empfahlen ihren Mitgliedern, im Gewerkschaftsbund, in den Abstinenzvereinen und den Kulturhäusern mitzuwirken.
Dennoch entschieden die Anarcho-kommunist:innen und ein Teil der Syndikalist:innen im März 1945, sich auf Grundlage eines gemeinsamen Programms zusammenzuschließen. Am 10. März 1945 traten dazu ca. 80 Anarchist:innen aus dem ganzen Land zu einer Konferenz im Sofioter Stadtteil Knjaschwo zusammen. Die BKP ließ die Sitzung stürmen, alle Delegierten festnehmen und steckte einen Großteil von ihnen für ein halbes Jahr in die neu eröffneten Arbeitserziehungslager bzw. Konzlager. Seitdem nahmen die Repressalien und Verhaftungen stetig zu.
Am 18. März 1947 verstarb mit Michail Gerdschikoff eine der großen Gründungs- und Führungsgestalten der bulgarischen anarchistischen Bewegung, aber eben auch eine der großen Gestalten des nationalen Befreiungskampfes in Mazedonien. Trotz des Verbots politischer Propaganda und Symbole wurde der Trauerzug anlässlich seines Begräbnisses zur letzten großen öffentlichen Aktion der anarchistischen Bewegung. Das erinnert nicht von ungefähr an die Beerdigung Peter Kropotkins am 13. Februar 1921 in Moskau, die zugleich die letzte legale öffentliche Aktion der Anarchist:innen in der Sowjetunion war.
Die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung
Am 16. Dezember 1948 schließlich folgte der große Schlag der kommunistischen Macht gegen die anarchistische Bewegung. In den frühen Morgenstunden führte die Milizija, die kommunistische Polizei, eine landesweite Massenverhaftungswelle gegen bekannte Anarchist:innen durch. Nach dem ursprünglichen Plan und späteren Berichten der Staatssicherheit sollten und wurden die 200 bis 220 aktivsten Anarchist:innen verhaftet. Zeitzeug:innen berichteten später von 600 Verhafteten. Sie wurden planmäßig in die verschiedenen Konzlager gesteckt, die meisten in das berüchtigte Lager auf der Insel Persin bei Belene. Laut Listen der Staatssicherheit befanden sich zu der Zeit über 200 Anarchist:innen in Konzlagern. Viele von ihnen sollten dort bis 1953 verbleiben, bis nach dem Tod von Josef Stalin ein Großteil der Lagerhäftlinge entlassen wurde.
Ein Teil der Bewegung, laut Zeitzeug:innen um die 100 Personen, laut der Staatssicherheit 75 bis 80, schaffte es vor und nach dem 16. Dezember 1948, zumeist über die Türkei und Griechenland ins Ausland zu fliehen. Die meisten von ihnen sammelten sich in Frankreich und gründeten dort auf Grundlage einer letztlich 1952 beschlossenen Grundsatzerklärung ihre Exilorganisation. Dort unternahmen sie Bemühungen zur Unterstützung ihrer verfolgten Genoss:innen in Bulgarien. Sie regten unter anderem Anfang 1948 die Publikation der Broschüre „Bulgaria, a new Spain – The Communist Terror in Bulgaria“ durch den Alexander-Berkman-Hilfsfonds der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) an und brachten von 1952 bis 1990 die Zeitung „Nasch Put“ (dt. „Unser Weg“) heraus. Von 1980 bis 1991 brachten sie außerdem gemeinsam mit politischen Geflüchteten aus anderen Ostblockländern die französischsprachige anarchistische Zeitschrift „Iztok – revue libertaire sur les pays de l’Est“ (dt. „Istok – libertäre Zeitschrift über die Länder des Ostens“) heraus. Die Exilant:innen konnten erst nach einer Amnestie nach dem Regimewechsel 1990 nach Bulgarien zurückkehren.
Untergrund und Widerstand gegen die Diktatur
Trotz des hohen Repressionsniveaus wagten einzelne Anar-chist:innen mutige Widerstandsaktionen gegen das Regime. Am 3. März 1953 sprengte der damals 19-jährige Anarchist Georgi Konstantinoff gemeinsam mit anderen in Sofia während einer Massendemonstration anlässlich des bulgarischen Unabhängigkeitstages das Stalin-Denkmal in die Luft. Konstantinoff wurde daraufhin zu 20 Jahren Haft verurteilt, wovon er zehn Jahre absaß. Im September 1953 ließen sich drei Exil-Anarchist:innen um Christo Nestoroff mit Fallschirmen über dem Balkan abwerfen. Über ein halbes Jahr bereiteten sie den bewaffneten Widerstand gegen das Regime vor, legten Verstecke und Waffenlager an und bauten ein Unterstützungsnetzwerk auf. Im März 1954 wurde die mittlerweile vierköpfige Gruppe bei Pawel Banja im Rahmen einer Militäroperation von Hunderten Soldat:innen, Milizionär:innen und bewaffneten Parteimitgliedern zerschlagen. Nestoroff sprengte sich vor seiner Festnahme in die Luft, Milju Iwanoff wurde gefangen genommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Emilija und Dontscho Karaiwanoff schafften es, zu entkommen und nach Paris zu flüchten.
Auch nach dem Tod Stalins und der Destalinisierung blieb das Repressionsniveau so hoch, dass an Organisation nicht zu denken war. Die Anarchist:innen bemühten sich, Knäste und Lager zu überleben, dem gesellschaftlichen Ausschluss und der Diskriminierung die Stirn zu bieten, ihre Verbindung untereinander nicht abreißen zu lassen, Literatur zu retten, zu verstecken und auszutauschen, sich zu informieren und im unmittelbaren Umfeld auf ihre Mitmenschen einzuwirken. Auch dafür zahlten sie einen hohen Preis. So wurde Aleksandar Nakoff in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wegen einer kritischen Grabrede bei der Beerdigung eines älteren Genossen für drei Jahre in die Provinz verbannt.
Erst mit dem Regimewechsel im November 1989 war es möglich, sich wieder offen zu organisieren. Die Bewegung konnte aber bis heute nicht an ihre Stärke vor ihrer Zerschlagung durch die Kommunistische Partei anknüpfen.
Weiterführende Gedanken
Die Erfahrung der Anarchist:innen in Bulgarien kann für die internationale Bewegungsgeschichtsschreibung von einigem Interesse sein. Sie bauten in einem Land der kapitalistischen Peripherie eine anarchokommunistisch und klassenkämpferisch ausgerichtete Bewegung mit einigem gesellschaftlichen Einfluss auf. Das zeigt, dass der historische Anarchismus mitnichten als kleinbürgerliche, eurozentrische und individualistische Szene abzutun ist.
Weiterhin stellt der bulgarische Anarchismus ein krasses Beispiel für den politischen Terror und die Gewalt dar, den die kommunistischen Parteien gegen ihre Gegner:innen ausübten. Nach vier Jahrzehnten in Polizeirevieren, Lagern, Knästen, Folter und Mord, im Exil und in der Verbannung, unter ständiger Überwachung und ausgeschlossen von der guten Gesellschaft erhielten die überlebenden An-
archist:innen bis heute nicht die gesellschaftliche und staatliche Anerkennung, die Diktaturopfern in Deutschland zumindest irgendwann gewährt wurde: Keine Ehrungen, keine Gedenkveranstaltungen, keine Denkmäler, keine Zeitzeug:innengespräche. All das ist mitnichten „Geschichte“: Opfer und Täter:innen leben heute noch. Das sollte uns zu denken geben, wenn wir heute über den Sozialismus, das Verhältnis zu selbsterklärten Kommunist:innen, über antifaschistische Einheitsfronten und dergleichen diskutieren.
Eines dieser Opfer ist Aleksandar Nakoff, der 2018 im Alter von 99 Jahren gestorben ist. Ich habe seine Autobiografie unter dem Titel „Knast, Lager, Verbannung“ ins Deutsche übersetzt und 2021 mit einem einführenden Artikel über die Geschichte des Anarchismus in Bulgarien bei der Edition AV veröffentlicht. Dort finden sich alle Quellenangaben zu diesem Artikel und weitere Einblicke.