Der Ukrainekrieg steht im Mittelpunkt des Interesses, und andere Kriege geraten aus dem Blick. Dazu gehören die jüngsten Angriffe irakischer und türkischer Truppen auf die nordirakische Region Şengal und die dortige êzîdische Bevölkerung. Über die Hintergründe, die Rolle der Bundesrepublik und die Verhaftung der beiden Journalist:innen Marlene und Matej informiert Fabian Priermeier von Civaka Azad im Interview mit der Graswurzelrevolution. (GWR-Red.)
GWR: Im Windschatten des Ukrainekriegs haben die irakische und die türkische Armee die nordirakische Region Şengal angegriffen, in der hauptsächlich Êzîd:innen leben. Was ist der Hintergrund?
Fabian Priermeier: Im Oktober 2020 kam es zwischen der Türkei, der Demokratischen Partei Kurdistan (PDK) unter der Führung des Barzanî-Clans und der irakischen Zentralregierung zu einem Abkommen, wonach die „PKK“ aus Şengal vertrieben werden sollte. Der Haken an dem Abkommen war allerdings, dass diese die Region schon längst verlassen hatte.
Die Guerillaeinheiten der PKK waren 2014 nach Şengal vorgedrungen, um die Bevölkerung vor den Angriffen des islamistischen IS zu schützen. Zuvor hatte der IS die Stadt erobert, nachdem die Peshmerga-Einheiten der PDK abzogen und die Bevölkerung schutzlos zurückließen. Als der IS dann später aus Şengal zurückgedrängt wurde, baute die êzîdische Bevölkerung Selbstverwaltungsstrukturen samt eigenen militärischen Strukturen auf, um sich in Zukunft vor weiteren genozidalen Angriffen schützen zu können. Viele Familien, die vor dem IS geflüchtet waren, kehrten daraufhin in die Region zurück. Die Menschen schöpften Hoffnung und Kraft aus ihrer Selbstorganisierung. Die PKK hingegen zog sich nach dem Aufbau dieser Strukturen zurück in ihre Kerngebiete. Die jüngste Angriffswelle der irakischen Armee richtet sich deshalb nicht gegen die PKK, sondern gegen die Selbstverwaltung.
Wann begannen die Angriffe? Handelt es sich um ein koordiniertes Vorgehen des Irak und der türkischen Regierung?
Nach einigen begrenzten Angriffen setzte die irakische Armee Anfang Mai 2022 zu einem Großangriff an. Sie gab an, damit das Abkommen von Oktober 2020 umsetzen zu wollen. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass die Offensive der irakischen Armee in Şengal im Zusammenhang mit dem türkischen Angriffskrieg in Südkurdistan steht. Die Türkei hat nämlich alle Gebiete, in denen die Kurd:innen basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen, also das Konzept des Demokratischen Konföderalismus, umsetzen wollen, zu legitimen Angriffszielen erklärt. Dazu gehören neben Şengal auch Rojava und das Geflüchtetencamp Mexmûr in Südkurdistan. Die irakische Armee hat deshalb womöglich auf Druck der Türkei diese Offensive gestartet.
Aktuell ist die Situation wieder ruhig, auch wenn eine gewisse Anspannung in der Region vorhanden ist. Die Kämpfe wurden vorerst eingestellt, und die irakische Armee hat wohl einen Waffenstillstand mit der Selbstverwaltung von Şengal ausgehandelt. Ob sich daraus eine langfristige Lösung für die êzîdische Bevölkerung entwickelt, bleibt abzuwarten.
Welche gemeinsamen Ziele verfolgen der Irak und die Türkei?
Şengal ist ebenso wie die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, die den meisten wohl unter dem Namen Rojava bekannt ist, sowohl den Nationalstaaten in der Region als auch den imperialistischen Nationalstaaten ein großer Dorn im Auge. Das hat verschiedene Gründe. Einer der zentralen Gründe ist, dass die êzîdische Gesellschaft vor Ort seit dem Angriff des IS den staatlichen Strukturen nicht mehr traut und eigene geschaffen hat. Das wiederum machte sie unabhängig von den Staaten, was insbesondere der Irak und die Türkei nicht akzeptieren wollen.
Ein weiterer Grund für den Angriff ist, dass sowohl Şengal selbst als auch die gesamte Region rund um Mossul von immenser geostrategischer Bedeutung sind. Seit vielen Jahren versuchen sowohl der Irak als auch die Türkei, die Region und die Bevölkerung für sich zu vereinnahmen, um die Region kontrollieren zu können. Da beide Staaten alleine aber nicht über ausreichend Kraft verfügen, die Region für sich einzunehmen, haben sie ihre Kräfte zusammengeschlossen, um gemeinsam die gelebte Alternative zu ihrem Krisenmodell zu zerschlagen.
Die aktuellen Angriffe im Şengal werden in den hiesigen Medien kaum wahrgenommen. Das liegt nicht nur am Ukrainekrieg, der momentan die Nachrichten dominiert. Warum bleiben offensichtliche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Türkei hierzulande meist unkommentiert?
Das ist tatsächlich eines der größten Probleme, mit denen Şengal zu kämpfen hat. Bereits letztes Jahr gab es eine ähnliche Situation. Damals blickte die ganze Welt nach Afghanistan und verfolgte, wie die Taliban nach dem NATO-Rückzug die Macht wiedererlangten. Die Türkei nutzte diese Situation aus und bombardierte ein Krankenhaus in Sikêniyê bei Şengal, wobei acht Menschen starben.
In Deutschland werden die Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Türkei, verkürzt gesagt, aus zweierlei Gründen verschwiegen: Die Türkei ist der einzige NATO-Partner im Nahen Osten, und insbesondere Deutschland hat über die Jahrhunderte hinweg sehr viel investiert, um durch die Türkei Einfluss auf die Region zu gewinnen. Für die deutsche Außenpolitik ist die Türkei das vermeintliche Sprungbrett in den Nahen Osten. Dafür wurde im Lauf der Jahre bereits über sehr vieles hinweggesehen. Die ganzen völkerrechtswidrigen Angriffskriege werden ebenso ignoriert wie das, was die Türkei mit besetzen Gebieten wie Efrîn anstellt. Die deutsche Regierung will die Türkei nicht verstimmen, indem sie ihre Verbrechen verurteilt, man will weiterhin beim Bild der guten Zusammenarbeit bleiben.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass Deutschland bei vielen Verbrechen der Türkei direkt beteiligt ist, sei es in Form von Waffenlieferungen und militärischer Ausbildung, sei es durch diplomatische Weichenstellungen.
Die türkische Armee nutzt oft Waffen, die in der BRD hergestellt wurden. Ist das auch im jetzigen Konflikt der Fall?
Erst neulich gab es erneut Berichte darüber, dass deutsche Waffentechnologie in Kurdistan eingesetzt wird. Neben den Leopard-Panzern und Sturmgewehren ist es vor allem Drohnentechnik, die von deutschen Unternehmen an die Türkei geliefert wird und dann gegen die êzîdische Gesellschaft in Şengal zum Einsatz kommt. Einige Teile der vor allem auch durch die Ukraine bekannt gewordenen Killerdrohne Bayraktar TB 2 kommen aus Deutschland. Zum Beispiel werden oft die Linsen der Kameras von deutschen Unternehmen gefertigt, aber auch die „intelligente“ Luft-Boden-Rakete MAM-L kommt aus deutscher Produktion, und zwar von der „TDW Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme mbH“.
Schon vor den jetzigen Angriffen lebten noch immer viele Êzîd:innen in Geflüchtetencamps angrenzender Länder. Wie ist dort die Lage? Verschärft sich die Situation in den Camps durch die neuerlichen Kämpfe?
Die Lage in den Camps ist schwierig. Viele Êzîd:innen leben beispielsweise in Geflüchtetencamps, die sich im Hoheitsgebiet der PDK befinden. Das ist dieselbe PDK, welche 2014 die Êzîd:innen in Şengal im Stich gelassen hatte. Für die Menschen in den Camps ist das natürlich eine unerträgliche Situation. Zudem versucht die PDK, die Geflüchteten für ihre eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren und gegen die Selbstverwaltung von Şengal aufzuwiegeln.
Eigentlich wollen viele Menschen in den Camps in ihre Heimat zurückkehren und einen Neuanfang wagen. Die Angriffe des irakischen Staates machen dieses Vorhaben allerdings nicht einfacher.
Parallel zu den militärischen Angriffen hat die irakische Regierung auch die Pressefreiheit noch einmal massiv eingeschränkt. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Verhaftung der beiden Journalist:innen Marlene und Matej. Kannst du ihren Fall kurz zusammenfassen?
Ja, das stimmt, während der êzîdischen Selbstverwaltung in Şengal allmählich die Luftröhre zugedrückt wird, versucht man auch gleichzeitig, jegliche Berichterstattung zu verhindern. Marlene und Matej sind zwei Journalist:innen, die sich bereits seit Längerem in der Region befunden haben. Sie haben zur Geschichte, Kultur und Tradition der êzîdischen Gesellschaft geforscht. Sie haben sich für das Leid der dortigen Menschen interessiert und wollten der Welt sichtbar machen, was diese Gesellschaft bisher hat erleiden müssen, wie sie aber trotz allem nicht aufgab. Sie hatten es sich zu Aufgabe gemacht, möglichst viele Informationen zu sammeln, um dann zurück in Europa für die Êzîd:innen ein Sprachrohr darzustellen.
Es fehlte nicht mehr viel bis zur Beendigung ihres Projekts, als die irakische Regierung intervenierte. Bei der Rückkehr vom êzîdischen Neujahrsfest „Çarşema Sor“ am 20. April 2022 wurden die beiden an einem Checkpoint der irakischen Armee kontrolliert. Obwohl sie sich umgehend als Journalist:innen zu erkennen gegeben haben, wurden sie festgenommen und verschleppt. Die restlichen Mitfahrer:innen im Auto wurden weggeschickt.
Wie ist ihre aktuelle Haftsituation? Werden inzwischen die deutsche und tschechische Botschaft bzw. die Regierungen tätig, um die Freiheit der beiden Journalist:innen zu erreichen?
Lange war ihr Haftsituation komplett unklar – weder wusste man, wo sie sind noch was ihnen überhaupt vorgeworfen wird. Erst nachdem Marlene für mehrere Tage in den Hungerstreik getreten war, gab es erste Kontakte. Den Hungerstreik führte sie bis zum 28. April durch, bis letztlich der erste und bisher einzige Besuch bei ihr stattfand. An diesem Tag erwirkte die Vertretung der deutschen Botschaft ein persönliches Gespräch mit Marlene. Dieses fand, laut Informationen der Botschaft, im Hauptquartier des irakischen Geheimdienstes statt, in welchem Marlene in einer Einzelzelle inhaftiert sei. Zu Matej besteht weiterhin kein Kontakt, doch bestätigte die deutsche Botschaft auch seine Anwesenheit im Hauptquartier des Geheimdienstes. Sie sicherte zu, darauf hinzuwirken, ihn persönlich zu besuchen. Das ist alles, was wir im Moment zu ihrer Situation wissen. Hier in Deutschland bleibt die Regierung jedoch weiterhin still. Das Auswärtige Amt schweigt und reagiert weder auf Fragen der Familie und des Unter-stützer:innenkreises noch auf Anfragen einzelner Politiker:innen und Journalist:innen.
Wie kann die Kampagne für ihre Freilassung unterstützt werden?
Es gibt einen großen Unterstützer:innenkreis bestehend aus der Familie und Freund:innen der beiden Betroffenen. Sie haben bereits viele Aktionen durchgeführt und versuchen konstant, Druck auf die Regierung aufzubauen, indem sie mit Journalist:innen und Politiker:innen reden. Auf der Kampagnen-Website freemarleneandmatej.org werden alle Informationen gesammelt und Handlungsmöglichkeiten empfohlen.
Vor allem geht es gerade darum, den Offenen Brief an Annalena Baerbock zu unterzeichnen, sich auf sozialen Medien zu den beiden zu äußern, sich an der Fotokampagne zu beteiligen, zu spenden und allgemein alle Möglichkeiten zu nutzen, Druck auf das Auswärtige Amt auszuüben, um die Politiker:innen zum Handeln zu bringen.
Vielen Dank, dass du dir Zeit für das Interview genommen und uns einen so umfangreichen Überblick gegeben hast!