Denunziationen, Deportationen – und Schweigen

Die „JüdInnen“ von Saint-Martin-Vésubie

| Michael Scheer

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Marche de la mémoire, Col de Cerise, 2. September 2018 - Foto: Michael Scheer

In der GWR 469 beschrieb Michael Scheer anhand der Gemeinde Saint-Martin-Vésubie eine wenig bekannte Phase im Südosten Frankreichs: Die Übernahme einiger Départements durch italienische Truppen im November 1942 gewährte den „jüdischen“ Menschen kurzzeitigen Schutz vor dem Mordprogramm der Nazis. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen im September 1943 begannen jedoch die Massendeportationen, an denen sich die französische Bevölkerung durch Denunziationen beteiligte. Bis heute bleibt das Gedenken schwierig, wie der folgende zweite Teil des Beitrags schildert. (GWR-Red.)

Schon am 10. September 1943 kommt ein Mordkommando der Gestapo unter Alois Brunner in Nizza an und beginnt sofort die Jagd auf „JüdInnen“. Die Mörder ziehen auch das Tal der Vésubie hoch und erreichen am 20. September das erste Mal Saint-Martin-Vésubie. So scheint der Impuls zur Flucht über die Alpen durchaus richtig gewesen zu sein. Allerdings haben die Deutschen (wie vorbereitet) ab dem 9. September auch Norditalien besetzt – und so erwartet die erfolgreich Geflüchteten (manche mussten zurückbleiben oder gar umkehren, weil der Weg zu schwer war) auf Plakaten die Aufforderung, sich bis zum 18. September in einer Kaserne in Borgo San Dalmazzo nahe Cuneo einzufinden. Etwa 350 der Geflohenen können oder wollen nicht mehr weiter – sie stellen sich. Sie werden über Nizza und Drancy nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet, zwölf Überlebende sind bekannt. Die meisten anderen Geflohenen haben auf die ein oder andere Art – oft mit Hilfe der katholischen Kirche – in Italien überlebt. Einige schließen sich der Resistenza im Piemont an.

Und in Saint-Martin-Vésubie und den Alpes-Maritimes? Das Mordkommando unter Alois Brunner richtet sich im am Hauptbahnhof Nizzas gelegenen „Hôtel Excelsior“ ein: Etwa 20 Gestapomänner, darunter viele Österreicher. Zuvor, seit Juli 1943, war Brunner der Leiter des Lagers Drancy bei Paris. Von dort gehen fast alle Transporte von Frankreich nach Auschwitz; vorher war das Lager von der französischen Gendarmerie geleitet worden.
Das „Hôtel Excelsior“ wird zur „Außenstelle“ von Drancy erklärt. Auch Adolf Eichmann schaut Mitte September 1943 in Nizza vorbei: Endlich! Die Côte d’Azur! Es beginnt eine gnadenlose Jagd auf „JüdInnen“. Bei dieser Jagd sind die Mörder auf sich gestellt, auf die französische Gendarmerie greifen sie nicht zurück. Brunner bedient sich auch einiger „Physiognomistinnen“, Frauen aus Belorussland (Weißrussland), die u. a. auf den Straßen Nizzas „JüdInnen“ aufgrund ihrer „Physiognomie“ rauszeigen.
Unter Brunners Leitung werden bis zum 15. Dezember 1943 1.820 „JüdInnen“ verhaftet und nach Drancy verschleppt. Danach übernimmt Franz Eisenburger die Leitung der Jagd; und es werden vom 30. Januar bis zum 30. Juli 1944 weitere 1.129 „JüdInnen“ über Drancy verschleppt. Aus Nizza werden insgesamt 1.304 „JüdInnen“ verhaftet und verschleppt, aus den Alpes-Maritimes 3.602; von diesen überleben 110 das Mordprogramm. Etwa 3.000 „JüdInnen“ überleben versteckt in den Alpes-Maritimes (21 in Saint-Martin-Vésubie). (Generell ist allerdings bei all diesen exakten Zahlen Vorsicht geboten.)

Clos Joli – Foto: Michael Scheer

Es gibt ein Netzwerk von HelferInnen, z. B. der „Réseau Marcel“ (Netz Marcel) von Odette Rosenstock und Moussa Abadi in Nizza; er rettet vor allem Kinder. Auch die katholische Kirche hilft energisch. Aus Mördersicht ist die „Bilanz“ in der ehemaligen italienischen Zone enttäuschend; sie waren jetzt auf sich allein gestellt.

Aber es gibt auch massenweise Denunziationen durch FranzösInnen. Maître Jean-Louis Panicacci, der Leiter des „Musée de la Résistance Azuréenne“, erzählt gerne, dass bei der Gestapo in Nizza jeden Tag hundert Denunziationen mit Bezug auf angebliche „JüdInnen“ eingingen.
Und in Saint-Martin-Vésubie und Umgebung? In Saint-Martin-Vésubie leben im „Clos Joli“ etwa 15 „jüdische“ Waisen. Anfang Oktober 1943 erscheint die Gestapo dort gezielt und verhaftet die Waisen (ein Junge entkommt, weil er sich versteckt); Maître Panicacci und andere sind überzeugt, dass die Mörder aufgrund einer Denunziation Bescheid wussten. Mario Levin erzählt, dass seine Großeltern, die mit der Familie schon seit 1928 in Saint-Martin-Vésubie lebten, Ende 1943 von einer Nachbarin denunziert wurden; der Großvater Grégoire Dridso wird 1944 in Auschwitz ermordet, die Großmutter Rachel überlebt in Nizza.
In Berthemont-les-Bains, nicht weit südöstlich von Saint-Martin-Vésubie, sind im „Hôtel Beau-Séjour“ etwa 50 alte „JüdInnen“ untergebracht. Am 24. September 1943 werden sie (wohl aufgrund einer Denunziation) verhaftet. Sehr bezeichnend: Ich traf einmal zufällig in Berthemont-les-Bains einen Korsen (!), Philippe, 50 Jahre alt, und kam auf die „JüdInnen“ im „Hôtel Beau-Séjour“ zu sprechen. Sofort reagierte er: Im Tal (der Vésubie) seien viele „JüdInnen“ von FranzösInnen denunziert worden. Auf meine Frage, woher er als Nachgeborener das wisse: Das habe er immer wieder gehört.

in Saint-Martin-Vésubie eine Stele zum Gedenken an „unsere“ Episode zu errichten, erforderte einen jahrelangen Kampf

Die Alpes-Maritimes werden bis September 1944 von US-amerikanischen Truppen befreit. Allerdings halten sich im Festungsgelände des Massivs von „L’Authion“, südöstlich von Saint-Martin-Vésubie, über 2.000 m hoch, bis zum 26. April 1945 deutsche Truppen. De Gaulle entscheidet anlässlich eines Besuchs in Nizza am 8./9. April 1945, dass diese Festung von französischen Truppen „erobert“ werden sollte. Und so geschieht es: vom 10. bis 26. April 1945 mit US-amerikanischen Waffen, Panzern und Ausrüstung. Die „Bilanz“ dieses symbolischen Aktes: 284 tote und über 1.000 verwundete französische Soldaten. (Von den deutschen Toten schweige ich hier.)

Danach

Mit dem Gedenken ist es in Bezug auf „unsere“ Erzählung so eine Sache – jedenfalls für FranzösInnen. Allein die Tatsache, dass vom 11. November 1942 bis zum 8. September 1943 der äußerste Südosten Frankreichs, etwa ein Zehntel der Gesamtfläche, von der italienischen Armee besetzt war, bereitet offenbar Bauchschmerzen. Michèle Schlanger-Merowka hat festgestellt, dass 2001 in allen dreißig französischen Schulbüchern zur französischen Geschichte, die sie untersucht hat, die italienische Besatzung nicht einmal erwähnt wird (1). Und in der früher äußerst populären und auch in der BRD weitverbreiteten Geschichte des II. Weltkriegs des französischen Historikers Raymond Cartier (frz. 1965, dt. 1967, viele Nachauflagen) mit über 1.000 Seiten fehlt die Tatsache der italienischen Besatzung komplett (nebenbei, die Shoah wird mit einem Satz abgehandelt).
Und so könnte ich noch viele Beispiele bringen. Warum das alles? André Waksman, der Macher des Films „1943. Le temps d’un répit“, meinte einmal in Mainz: Dass Frankreich von der übermächtigen deutschen Wehrmacht besetzt wurde, ist zwar schlimm, aber immerhin verständlich; aber von „italienischen Opernsängern“ …, das geht ja gar nicht! Mensch kann es auch vornehmer und mit anderer Gewichtung ausdrücken, so Alfred Grosser (selbst 1943 in der italienischen Zone lebend) in einem Brief 2016: „Dieser italienische Schutz durch die Armee ist in Frankreich kaum bekannt geworden, weil man das Positive von Italien nicht wahrhaben will, weil der Vergleich mit Frankreich nicht sehr ehrenvoll ist.“

Also: Während französische Gendarmen noch mehr oder weniger eifrig für die Mörder „JüdInnen“ jagten, gab es in Südostfrankreich ein Gebiet, in dem diese „frei“ und relativ unbehelligt leben konnten; und dieses Gebiet war der deutschen und französischen Jagd entzogen, von einer Besatzungsmacht, die zu dem Zeitpunkt noch enger Verbündeter des Deutschen Reiches war.
Zur schwierigen Gemengelage Frankreich/Italien kommt hinzu: Bis 1860 gehörten die heutigen Départements Alpes-Maritimes (der frühere Comté de Nice), Savoie und Haute-Savoie über Jahrhunderte hinweg nicht etwa zu Frankreich, sondern zum Herzogtum Savoyen, dann Königreich Sardinien-Piemont, der „Keimzelle“ des entstehenden italienischen Staates. (Giuseppe Garibaldi ist in Nizza geboren.) Bald bevor der „endlich“ proklamiert wurde, fielen Savoyen und der Comté de Nice im Juni 1860 „endlich“ durch Geheimvertrag an Frankreich, das über die Jahrhunderte hinweg immer wieder in Savoyen, Sardinien-Piemont eingefallen war. (Selbstverständlich auch „Revolutions“truppen 1792 ff. gegen erbitterten bewaffneten Guerilla-Widerstand der „Barbets“ in den Seealpen.)
Und dann, am 21. Juni 1940, kurz vor dem Waffenstillstand zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, der üble Angriff der italienischen Truppen auf Frankreich, auch in den Alpes-Maritimes – mit geringen Gelände„gewinnen“. Und knapp zweieinhalb Jahre später die üble Besetzung und Besatzung ab 11. November 1942 (die für die „JüdInnen“ dort allerdings erst einmal lebensrettend war). Es wird immer gesagt, in den Alpes-Maritimes hätten „die Italiener“ einen schlechten Ruf. Ich bin nicht sicher, vermute aber, da ist etwas dran: Da ist viel Nationalismus im Spiel. Und (aus französischer Sicht): wie umgehen mit einem Übel (Besetzung und Besatzung), das für die verfolgten „JüdInnen“ eine Wohltat war, während der französische Staat für diese ein Übel war.

Und so tun sich französischer Staat und Gesellschaft schwer mit dem Gedenken an diese Episode. Es steht zwar „an jeder Ecke“ ein Gedenkstein für dies und das (z. B. „Morts pour la France, Avril 1945“, es folgen elf Namen von Soldaten des 3. RIA; dieser Stein steht unweit von Saint-Martin-Vésubie im Tal des Boréon), aber … in Saint-Martin-Vésubie eine Stele zum Gedenken an „unsere“ Episode zu errichten, erforderte einen jahrelangen Kampf: zweieinhalb Jahre. Der Gemeinderat war immer dagegen; u. a. Serge Klarsfeld, Alberto Cavaglion (2) und die jüdische Gemeinde von Nizza wollten diese Stele, die die Gemeinde Saint-Martin-Vésubie nichts kosten sollte. Allerdings war „Yad Vashem Nice“ dagegen, diese Stele ausgerechnet an den Rand des Platzes zu setzen, in dessen Mitte das Kriegsdenkmal für 1914/18 prangt („Morts pour la Patrie“). So aber geschah es: Am 10. September 1995 war die Einweihung mit etwa 200 Menschen; der Bürgermeister Gaston Franco war dabei, und auch der Präfekt der Alpes-Maritimes. Und dann steht im Text auf der Stele (der von Serge Klarsfeld „redigiert“ wurde) auch noch das: „Ici un millier des juifs … aidés par les organisations juives, protégés par l’armée italienne d’occupation ont connu un répit …“: „Hier haben etwa tausend Juden … mit Hilfe der jüdischen Organisationen, beschützt von der italienischen Besatzungsarmee, einen Aufschub erfahren …“ (Kursivsetzungen von mir, M. S.). Genau dieser Halbsatz war es, der André Waksman zu seinem Film „1943. Le temps d’un répit“ angeregt hat.
Nach vielen weiteren vergeblichen Versuchen war es dann am 25. September 2016 so weit, dass zwei weitere Stelen, neben die bereits bestehende gesetzt, eingeweiht wurden. Einige hundert Menschen waren da. Die eine Stele enthält die Namen der zehn „Justes parmi les nations“ („Gerechte unter den Völkern“) aus Saint-Martin-Vésubie, die im Lauf der Jahre durch Danielle Baudot Laksines (3) eifriges Beharren und Recherchieren von Yad Vashem in Jerusalem als solche anerkannt wurden. Die zweite, sehr große Stele enthält 261 Namen von „JüdInnen“, die in Saint-Martin-Vésubie in „résidence forcée“ gelebt haben und – so wird suggeriert – in Auschwitz ermordet wurden. (Diese Stele ist voller nicht zu begreifender Fehler – das will ich hier nicht weiter ausführen.) Bedingung für die Errichtung dieser Stele war, dass zugleich eine Stele für die „Justes parmi les nations“ errichtet wird. Erneut war der Gemeinderat gegen die neuen Stelen. Erst auf Intervention Éric Ciottis wurde dann bei einer Enthaltung dafür gestimmt.
Hier muss jetzt – ganz aktuell – kurz auf Ciotti eingegangen werden, langjähriger Präsident des Conseil Général der Alpes-Maritimes. Und Deputierter in Paris. Und bei „Les Républicains“ Rechtsaußen, der für diese als PräsidentInschaftskandidat aufgestellt werden wollte und erklärt hatte, er werde, käme es bei den PräsidentInschaftswahlen 2022 zu einer Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und dem rechten Ekel Éric Zemmour, für letzteren stimmen.
Jetzt wurde aber Valérie Pécresse in der Stichwahl gegen Ciotti PräsidentInschaftskandidatin der „Républicains“. Und nun kommt’s: Um die Einheit bei den „Républicains“ zu demonstrieren, treten Pécresse und Ciotti am 6. Dezember 2021 gemeinsam in „unserem“ Dorf Saint-Martin-Vésubie auf und werfen dort laut Presseberichten drei Kränze ab: einen für die Opfer der Flutkatastrophe vom Oktober 2020, die besonders das Tal der Vésubie getroffen hat, einen – klar – am Kriegerdenkmal, und den dritten … an der Stele für die „Justes“. Fertig. Die Botschaft ist klar, und die Stele zur Kranzabwurfstelle/stele degradiert. Vielleicht hatte es Ciotti ja von Anfang an so im Sinn. (Deshalb die Stele für die „Justes“ als Bedingung für die zweite, große Stele? Bis 2016 war Ciotti nicht gerade als Unterstützer der Bemühungen um ein Gedenken der „JuiVes de Saint-Martin-Vésubie“ aufgefallen. Ciotti ist übrigens in Saint-Martin-Vésubie geboren; auch seine Mutter soll „JüdInnen“ geholfen haben. Und dann wagt es Pécresse laut Medien, vor der Stele für die „Justes“ zu sagen, Saint-Martin-Vésubie verkörpere das mutige Frankreich, das seinen Werten treu bleibt! Wie bitte? (Von Italien selbstverständlich keine Rede.)
Noch eine Stelle (aber keine Stele): In Berthemont-les-Bains steht an der Stelle des „Hôtel Beau-Séjour“ seit einigen Jahren ein protziges Thermalbad. Nichts erinnert an die etwa 50 alten „JüdInnen“, die am 24. September 1943 dort verhaftet und dann ermordet wurden. Und ein Letztes: Am 30. Januar 2020 wird in Nizza vor dem jüdischen Friedhof auf der „Colline du Château“ u. a. in Anwesenheit der Klarsfelds eine sehr große Gedenkwand eingeweiht, auf der die 3.602 Verschleppten aus den Alpes-Maritimes genannt sind.
Und auch das gehört zum „Danach“: Die Gemeinde Lantosque im Tal der Vésubie erhält über Jahre hinweg bis mindestens 2016 jedes Jahr eine Überweisung von 2.500.- Euro von Erik Sokolower aus New York, der als Kind mit seiner Schwester in Lantosque überlebt hat.

Nun noch kurz zu den „Marches de la mémoire“ bei Saint-Martin-Vésubie (4). Seit 1999 findet jedes Jahr diese Marche in Erinnerung an die Flucht über die Alpen statt. Normalerweise am zweiten Sonntag im September. Die erste Marche ist eher ein Ausflug von neun Leuten, alle aus Italien, um die „Associazione Giorgio Biandrata“ aus Saluzzo, Piemont. Dabei unter anderen Alberto Cavaglion und das Ehepaar Sandro und Piera Capellaro (die beiden werden auf italienischer Seite bis heute die Marche mitorganisieren). Die neun gehen von Italien aus auf den Col de Fenestre. Im nächsten Jahr, wieder sind nur ItalienerInnen dabei, gehen sie zu vierzehnt auf den Col de Cerise. Bei diesem Wechsel bleibt es: In den „ungeraden“ Jahren geht es auf den Col de Fenestre, in den „geraden“ auf den Col de Cerise. (Nur bei der 23. Marche, 2021, gibt es eine Ausnahme wegen der Verwüstungen durch die Flutkatastrophe.)
Ab der dritten Marche, 2001, ist auch die französische Seite eingebunden: Die ItalienerInnen hatten Kontakt zu einigen Vereinigungen auf französischer Seite aufgenommen. Jetzt sind schon über 50 Leute dabei. Die ItalienerInnen gehen immer von San Giacomo di Entracque bzw. Terme di Valdieri aus auf die Cols, die FranzösInnen von der Madone de Fenestre bzw. Le Boréon aus. Dabei ist zu bedenken, dass die „JüdInnen“ im September 1943 erst einmal von Saint-Martin-Vésubie zur Madone de Fenestre – 13 km – bzw. nach Le Boréon – 8 km – gehen mussten, bevor der Aufstieg auf die Cols begann. Heute werden diese Strecken mit dem Auto gefahren. Auf den Cols treffen sich dann die beiden Gruppen, und es werden Reden gehalten. Ab der vierten Marche, 2002, wird auch ein Beiprogramm organisiert, meist am Vortag bzw. Vorabend. Auf der fünften Marche, 2003, sind schon 250 Leute da. In den folgenden Jahren werden im Durchschnitt etwa 60 Menschen kommen.
Noch heute ist ein „Überhang“ der italienischen Seite deutlich. In Italien wird über die Marche regelmäßig berichtet; in Frankreich im einzig in Frage kommenden Regionalblatt, „Nice-Matin“, nur sporadisch, und dann kurz. Auf den Cols dürfen übrigens keine Gedenkstelen etc. aufgestellt werden, da das ganze Gebiet Naturschutzgebiet ist („Parc National du Mercantour“).

Und, ganz zuletzt, vielleicht habt ihr es mitbekommen: Auch heute sind die Alpes-Maritimes Grenzgebiet. Und viele MigrantInnen, die es bis Italien geschafft haben, wollen weiter nach oder über Frankreich. Vor einigen Jahren hat der Olivenbauer Cédric Herrou aus Breil-sur-Roya angefangen, MigrantInnen, die den Übergang über die Alpen, oft bei Nacht, auch im Schnee, gewagt haben, mit einem Transporter aufzusammeln und auf seinem Grundstück unterzubringen. Das wurde von der französischen Justiz als „Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt“ angeklagt. In zwei Instanzen wurde Cédric seit 2016 deshalb verurteilt. Erst durch eine – juristisch überaus fragwürdige – Entscheidung des „Conseil Constitutionel“ 2018 wurde er „frei“gesprochen: Er habe aus „Fraternité“ heraus gehandelt. Cédric hilft weiter den grenzüberschreitenden MigrantInnen.

 

Ach ja, das „Danach“ der Mörder: Carl Oberg und Helmut Knochen werden 1954 in Paris zum Tode verurteilt, 1958 wird die Strafe in „lebenslänglich“ umgewandelt, 1962 werden sie „begnadigt“ und entlassen. Oberg überlebt die Entlassung nicht lange (bis 1965), Knochen, der feine Dr. phil., lebt bis 2003. Heinz Röthke wird nach 1945 in Paris in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Bis zu seinem Tod 1966 lebt er unbehelligt als Rechtsanwalt bzw. Rechtsberater in Wolfsburg. Kurt Lischka wird in Frankreich in Abwesenheit zu „lebenslänglich“ verurteilt, aber von der BRD nicht ausgeliefert. Erst 1980 wird er in Köln zu zehn Jahren Knast verurteilt; ohne die Initiative der Klarsfelds, die 1971 versucht hatten, ihn nach Frankreich zu entführen, wäre es nie dazu gekommen. Und Alois Brunner wird 1954 in Marseille und in Paris in Abwesenheit zum Tode verurteilt, flieht darauf aus der BRD nach Syrien, wo er dem Regime zu Diensten ist (welche Dienste wohl?).

Michael Scheer Dezember 2021

(1) Michèle Schlanger-Merowka: Lieux d’amnésie, d’anamnèse et de mémoire de la deuxième guerre mondiale dans la zone d’occupation italienne (Novembre 1942–Septembre 1943), Nice 2001, darin: Band I, S. 72; Band II, S. 282.
(2) Alberto Cavaglion: Nella notte straniera. Cuneo 1981. (Französische Übersetzung: Les Juifs de St-Martin-Vésubie. Nice 1995.)
(3) Danielle Baudot Laksine: La Pierre des Juifs. 5 Bände. Châteauneuf (de Grasse) 2003/2005/2008/2013/2014.
(4) vgl. Annette Stock: Gedenken eines Aufschubs – Aufschub des Gedenkens? „Les Juives de Saint-Martin-Vésubie“. In: Irene Scherer/Welf Schröter (Hrsg.): Erinnerungskultur stärkt Demokratie. Mössingen-Talheim 2019, S. 93-112.

QUELLEN:

A: Bücher

Danielle Baudot Laksine: La Pierre des Juifs. 5 Bände. Châteauneuf (de Grasse) 2003/2005/2008/2013/2014.
Selbst als Kind Überlebende der Shoah in den Alpes-Maritimes, hat sie sich als Erste und außerhalb des wissenschaftlichen Betriebs mit dem Thema beschäftigt. Von ihrer „Graswurzel“-Arbeit haben fast alle profitiert. Und von fast allen wird sie angefeindet.

Alberto Cavaglion: Nella notte straniera. Cuneo 1981. (Französische Übersetzung: Les Juifs de St-Martin-Vésubie. Nice 1995.)
Unverzichtbar. Enthält die – wohl von einem italienischen Soldaten/Kollaborateur erstellte – Liste der von Borgo San Dalmazzo aus Verschleppten. Albertos Vater Enzo und Onkel Riccardo waren „jüdische“ Partisanen im Piemont.

Jean William Dereymez (Hrsg.): Le refuge et le piège: Les Juifs dans les Alpes (1938-1945). Paris 2008.
Neuere Studien zum Thema.

Alfred Feldman: One step ahead. A Jewish Fugitive in Hitler’s Europe. Carbondale and Edwardsville 2001.
Alfred Feldman war auch in Saint-Martin-Vésubie in „résidence forcée“.

Eddy Florentin: La nuit du 8 Settembre 1943. Mérignac 2014.
Was alles an dem Tag geschah.

Serge Klarsfeld: Vichy – Auschwitz. Nördlingen 1989. (Neuauflage Darmstadt 2007)
Unverzichtbar. Versuch einer Gesamtdarstellung der Shoah in Frankreich.
Seit 1942 lebte die Familie Klarsfeld in Nizza. Am 30.9.1943 wird der Vater Arno Klarsfeld festgenommen und nach Auschwitz verschleppt; er überlebt nicht. Die Familie bleibt bis Februar 1944 versteckt in Nizza, erlebt die Befreiung im Département Haute-Loire.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Étoile errante. Paris 1992. (Deutsche Übersetzung: Fliehender Stern. Köln 1996.)
Ein Roman u. a. zum Thema. Der Nobelpreisträger Le Clézio, geboren in Nizza 1940, lebte zur Zeit der italienischen Besatzung mit seiner Mutter in den Alpes-Maritimes (Roquebillière im Tal der Vésubie).

Adriana Muncinelli und Elena Fallo: Oltre il nome. Aosta 2016.
Die Verfolgungsgeschichte der Verschleppten von Borgo San Dalmazzo. Versucht, den Namen ein „Gesicht“ zu geben.

Jean-Louis Panicacci: Les Juifs et la question juive dans les Alpes-Maritimes de 1939 à 1945. In: Recherches régionales Nr. 4/1983, S. 239–331.
Maître Panicacci ist der Historiker des Widerstands in den Alpes-Maritimes. Und Leiter des „Musée de la Résistance Azuréenne“ in Nice. Antipode Baudot Laksines.

Michèle Schlanger-Merowka: Lieux d’amnésie, d’anamnèse et de mémoire de la deuxième guerre mondiale dans la zone d’occupation italienne (Novembre 1942 – Septembre 1943). 2 Bände. Nice 2001. (Thèse d’Anthropologie, Université de Nice Sophia-Antipolis)
Merowkas späterer Ehemann Féodor hat versteckt in den Alpes-Maritimes überlebt.

Wolfgang Seibel. Macht und Moral. Die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, 1940–1944. Konstanz 2010.
„Kausalanalyse“, institutions- / akteurszentrierter Ansatz.

Annette Stock: Gedenken eines Aufschubs – Aufschub des Gedenkens? „Les Juives de Saint-Martin-Vésubie“. In: Irene Scherer/Welf Schröter (Hrsg.): Erinnerungskultur stärkt Demokratie. Mössingen-Talheim 2019, S. 93–112.
Stock arbeitet seit 2015 an einer ethnologischen Feldstudie zum Thema: Die AkteurInnen der „Erinnerungskultur“ innerhalb der Marches de la mémoire.
Das Buch enthält auch zwei Aufsätze von Arno Münster zu „unserem“ Thema.

Susan Zuccotti: Holocaust Odysseys. The Jews of Saint-Martin-Vésubie and Their Flight through France and Italy. New Haven und London 2007.
Beruht auf Gesprächen mit einigen Überlebenden, die in Saint-Martin-Vésubie in „résidence forcée“ waren.

B: Filme

Jean-Jacques Biton: La déportation des Juifs de Nice et des Alpes-Maritimes. Frankreich 1994. 97 min.
Besteht aus Interviews.

Jean-Jacques Biton: Les Justes dans les Alpes-Maritimes. Frankreich 1996. 43 min.
Besteht aus Interviews.

Audrey Gordon: Une histoire d’amour sous l’occupation italienne. Frankreich/Italien 2021. 52 min.
Behandelt ausführlich die Geschichte des italienischen Besatzungsoffiziers Federico Strobino und der in Saint-Martin-Vésubie lebenden „Jüdin“ Rimma Dridso-Levin. Beide fliehen gemeinsam über die Alpen. Ihr Sohn Mario wird im Februar 1944 im Piemont geboren.
Kann im Internet gefunden werden.

Joseph Rochlitz: The Righteous Enemy. USA 1987. 84 min.
Behandelt neben der italienischen Besatzungszone in Frankreich ausführlicher auch die italienisch besetzten Gebiete in Kroatien, Montenegro und Griechenland, in denen sich die italienische Armee ähnlich verhielt wie in Südostfrankreich. Im italienisch besetzten Teil Kroatiens hat Rochlitz’ Vater überlebt.
Kann im Internet gefunden werden.

André Waksman: 1943. Le temps d’un répit. Frankreich 2009. 56 min.
Der Film zum Thema. Alfred Grosser, der selbst 1943 in der italienischen Besatzungszone gelebt hat, schreibt 2016 über diesen Film: „Aber auch das deutsche Publikum könnte durch den Film erfahren, dass ‚die Deutschen‘ stets als eine bewaffnete und mörderische Einheit in Südfrankreich aufgetreten sind …“
Ist im Internet in der französischen Originalfassung und in einer englischen Fassung zu finden. Es gibt auch eine deutsch untertitelte Fassung.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.