Durch den Ukraine-Krieg schreitet die Militarisierung der Gesellschaft voran, und alternative Lösungsansätze werden verächtlich abgetan. Die patriarchale Kriegslogik mit ihrer Held*innenverehrung feiert fröhliche Urständ, ohne dass sich dagegen breiter Widerstand regt, und auch in innerlinken Diskursen macht sich binäres Denken nach dem Schema Freund*in/Feind*in breit. Elisabeth Voß skizziert für die Graswurzelrevolution eine antimilitaristisch-feministische Perspektive. (GWR-Red.)
Am Ostersamstag 2022 gab es in Berlin zwei Friedensdemonstrationen. Zum traditionellen Ostermarsch der Friedenskoordination (Friko) unter dem Motto „Die Waffen nieder!“ riefen unter anderem auch Attac und die Naturfreunde auf. Recht kurzfristig gab es außerdem einen Aufruf zu einem „Alternativen Ostermarsch“ ukrainischer und syrischer Aktivist*innen von „Adopt a Revolution“, „Vitsche“ und anderen: „Russische Kriege stoppen – für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit“.
Während die Friko für konsequente Gewaltfreiheit eintrat und feststellte, es brauche „Kompromissbereitschaft von beiden Seiten“, zeigte sich das alternative Demobündnis entsetzt, dass der Friko-Aufruf „die russische Aggression und das Recht auf Selbstverteidigung mit keinem Wort“ erwähnt. Es forderte zwar nicht ausdrücklich Waffenlieferungen, schrieb jedoch: „Viel zu lange hat man in Europa geglaubt, dass ein Krieg durch Annäherung an Russland verhindert werden kann“, und „es ist legitim, wenn sich Syrer*innen oder Ukrainer*innen Unterstützung wünschen, damit ihre Häuser, Schulen, Bäckereien und Krankenhäuser nicht weiter bombardiert werden“.
Ich war auf dem traditionellen Ostermarsch, denn ich kann und will meine gewaltfreie Haltung nicht aufgeben. Dort wurde auch Wladimir Putin verurteilt, jedoch war die Kritik an der NATO lauter und deutlicher. Ich maße mir nicht an, beurteilen zu können, welche Faktoren welchen Anteil an der Eskalation und am Krieg hatten. So misstraue ich zunächst allem, was ich dazu höre und lese. Einer Einschätzung des Wahrheitsgehalts von Medienberichten und Äußerungen von Expert*innen kann ich mich allenfalls versuchen anzunähern. Es erschließt sich oft nicht so leicht, wer beispielsweise von wem beeinflusst oder gesponsert ist oder vielleicht aufgrund ideologischer Erstarrung einen sehr engen Blick auf die Wirklichkeit hat. Ich versuche mich von verschiedenen Seiten zu informieren. Meine roten Warnlämpchen blinken vor allem bei denen, die versuchen, den Eindruck zu erwecken, sie wüssten ganz genau und besser als alle anderen Bescheid.
Bitte keine Helden (und auch keine Heldinnen)
Als ich die ersten Berichte von Anarchist*innen las, die in der Ukraine zu den Waffen greifen, hielt ich das für Fake News. Mittlerweile weiß ich – auch dank des sehr aufschlussreichen Interviews von Silke mit einem russischen Anarchisten in der April-Ausgabe der Graswurzelrevolution (GWR 468) –, dass es dort offensichtlich ähnliche Spaltungen gibt wie hier, allerdings unter ungleich existenzielleren Bedingungen. Ich kann nicht wissen, wie es ist, wenn die eigene Stadt, meine Nachbarschaft, mein Haus angegriffen werden. So warm und satt, wie ich hier sitze, bin ich sicher, dass ich weiße Tücher raushängen würde und nicht mit Waffen verteidigt werden wollte. Ich habe einen Sohn, den würde ich dafür nicht hergeben – meine Tochter selbstverständlich auch nicht. Wie könnte ich dann erwarten, dass andere Söhne oder Töchter ihr Leben für mich riskieren?
Im Krieg werden Heldenbilder geboren – die tapfer kämpfenden Ukrainer. Der Helden-Begriff ist schon seit einigen Jahren im Kommen. Dazu assoziiere ich: männlich und selbstgewiss, weil von höheren (eben heldenhaften) Motiven angetrieben. Einzelkämpfer (seltener Kämpferinnen), die wissen, wo es lang geht. Die nicht fragen, sondern anpacken. Helden siegen oder unterliegen, alles oder nichts. Aber Menschen können mehr. Zum Menschsein gehört auch das Scheitern. Und immer wieder fragen, zweifeln, verletzlich bleiben und trotzdem weitermachen.
Ob ich anders reagieren würde, wenn der Krieg hier stattfände und ich direkt betroffen wäre? Aber machen es nicht immer mehr Waffen immer schlimmer, führen in eine Eskalationsspirale der Gewalt statt zum ersehnten Frieden? Ich bin erschrocken, wie mittlerweile medial die gesamte Entspannungspolitik der letzten Jahrzehnte niedergemacht wird, als sei das alles falsch gewesen, als hätten sich alle geirrt, die glaubten, mit Russland verhandeln zu können. Was wäre denn die Alternative gewesen? In der medialen und politischen Öffentlichkeit scheint gänzlich unter den Tisch zu fallen, dass die NATO ebenso aggressive Kriege führt wie Russland, dass der im April 1999 begonnene Kosovo-Krieg gegen Serbien ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg in Europa war, an dem sich erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch die deutsche Bundeswehr aktiv beteiligte.
Erinnerungen an 1998/99
Ich werde nie vergessen, wie damals nach 16 Jahren Helmut-Kohl-Regierung alle Hoffnungen auf die im Herbst 1998 gewählte rot-grüne Bundesregierung zusammenbrachen. Ja klar, auf Regierungen zu hoffen gilt im anarchistischen Umfeld als fragwürdig, aber es ist ja auch nicht ganz egal, wer da sitzt. Die Grünen entpuppten sich schnell als olivgrüne Kriegstreiber*innen, und mit der Einführung von Hartz IV und Riesterrente wurde gleich noch das Sozialsystem angegriffen. Mit der Aktienrente setzt die neue Bundesregierung jetzt nach 16 Jahren Angela Merkel den Abbau der solidarischen Alterssicherung durch Privatisierung fort.
Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde vereinbart: „Die Strukturen der Bundeswehr müssen effektiver und effizienter gestaltet werden mit dem Ziel, die Einsatzbereitschaft zu erhöhen.“ Soll die Bundeswehr also noch mehr Kriege führen? Am Ukraine-Krieg beteiligt sich Deutschland bislang „nur“ mit Waffenlieferungen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages führte im März 2022 aus: „Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“ Mit dieser Ausbildung wurde bereits begonnen.
Da will ich mich nicht hinstellen und hilflos „Stoppt Putin“ oder so rufen. Selbstverständlich muss der Krieg gestoppt werden. Aber Herrn Putin ist es doch vollkommen egal, was irgendwelche Aktivist*innen hier von sich geben. Für mich wäre das eine reine Selbstdarstellung, belangloses Posing, um zu zeigen, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Es fällt mir immer schwerer, mir vorzustellen, wie sich politisch etwas zum Besseren wenden ließe. Aber wenn überhaupt, dann könnten „wir“ doch allenfalls Einfluss auf „unsere“ Regierung nehmen, dass sie mit der Kriegstreiberei aufhört und sich aktiv und konsequent für eine Verhandlungslösung einsetzt. Die Verurteilung von Putins Angriffskrieg kommt mir manchmal vor wie ein Ritual, ein gefordertes Bekenntnis zu etwas Selbstverständlichem, um den bösen Verdacht abzuwehren, vielleicht den russischen Angriffskrieg verteidigen zu wollen oder gar richtig zu finden. Sicher gibt es Trolle, die russische Propaganda verbreiten. Gefährlicher, weil im Mainstream meinungsbildend, erscheinen mir allerdings diejenigen, die sich vordergründig für die Ukraine und für „westliche Werte“ einsetzen und damit Aufrüstung und weitere Militarisierung meinen.
Fortschreitende Militarisierung des Alltags
Ich bin in Westberlin aufgewachsen, da gab es keine Wehrpflicht, und auch das trug dazu bei, dass sich hier ein einzigartiges alternatives Biotop entwickeln konnte. Nach der Wende änderte sich das, seit den 1990ern legen auch in Berlin Rekruten öffentliche Gelöbnisse ab – mittlerweile wohl auch Rekrut*innen, was deutlich macht, dass solche Gleichstellung eine patriarchale Institution wie die Bundeswehr modernisiert und stabilisiert, statt sie in Frage zu stellen. In den letzten Jahren häuft sich die Werbung der Bundeswehr im öffentlichen Raum. Der Einsatz von Soldat*innen im Inneren zur Unterstützung der Gesundheitsämter beim Krieg gegen Corona war ein weiterer Baustein in der zunehmenden Militarisierung. Eine wichtige Rolle spielt die Deutsche Bahn, die Anfang 2019 einen „Rahmenfrachtvertrag“ mit der Bundesregierung abgeschlossen hat, in dem militärischen Transporten nach Osten, an die litauische Grenze, Vorrang vor dem Personenverkehr eingeräumt wird. Seit 2020 dürfen Soldat*innen kostenlos mit der Bahn fahren – wenn sie Uniform tragen.
Einmal saß ich in einem Wagen zwischen Uniformierten, fast noch Kinder. Ob sie wissen, was Krieg bedeutet, wie viel Angst und Entsetzen, Schmerzen und Gewalt? Einer meiner Onkel sprach darüber, wie er im Zweiten Weltkrieg einem anderen, feindlichen Soldaten gegenüberstand, beide mit der Waffe in der Hand. Er wollte ihn nicht töten, wollte aber auch nicht selbst getötet werden. Also hat er geschossen. Es hat ihn sein Leben lang verfolgt, dass er einen anderen Menschen umgebracht hat.
Krieg ist die patriarchale Anmaßung, Herr über Leben und Tod zu sein – was richtet das in denen an, die damit konfrontiert sind, selbst bedroht, mitwirkend oder von Weitem zuschauend? Ist es überhaupt möglich, all diese Gewalt an sich heranzulassen, die Ungeheuerlichkeit des Tötens zu empfinden, oder ist es überlebensnotwendig abzustumpfen, um sich zu schützen?
Aus sicherer Entfernung gebe ich mich solchen Gedanken hin, wissend, dass Russland mit Atomwaffen droht und dass im russischen Fernsehen schon über die atomare Vernichtung Großbritanniens und Atombomben auf Berlin gesprochen wurde. Dass hinter dem Ukraine-Krieg alle anderen Kriege nahezu unsichtbar werden, finde ich politisch kritikwürdig, jedoch setzt mir dieser Krieg auch mehr zu als jeder andere, denn noch nie habe ich mich selbst so bedroht gefühlt. Nicht einmal 1984, als die US-Armee ihre Mittelstreckenraketen so bedrohlich nachrüstete, dass ein sowjetischer Präventivschlag möglich erschien. Wird Putin, ehe er den Krieg verliert, wirklich zum letzten Mittel greifen, um als Märtyrer in den Himmel zu kommen, wie er es schon vor Jahren als Option benannte? Und wenn er gewinnt? Ich sehe keine Alternative zur Verhandlungslösung, aber die scheint nicht gewollt und rückt mit jeder Waffenlieferung in weitere Ferne.
Eine Bewegung, die sich der militärischen Eskalation kraftvoll entgegenstellen würde, sehe ich nicht. Die Ostermärsche waren zwar besser besucht als in den Vorjahren, aber im Vergleich zu den vorherigen Massendemonstrationen mit gelb-blauem Nationalfahnenmeer doch recht überschaubar. Schon im Laufe der Corona-Zerwürfnisse habe ich immer mehr an den Möglichkeiten politischer Veränderungen gezweifelt. Es scheint mir, als seien viele kritische und sich als irgendwie links verstehende Aktive mehr daran interessiert, sich über die ihnen Nahestehenden zu empören, als über das Trennende hinweg gemeinsame Positionen und Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Schon der Versuch, die Entstehung des Krieges zu verstehen, wird mitunter als Rechtfertigung denunziert. Wie konnte es so weit kommen, dass „Russlandversteher*in“ schon vor Jahren zum Schimpfwort wurde, statt das Bemühen wertzuschätzen, etwas begreifen zu wollen, und dass, wer nicht in den anschwellenden Ruf nach Waffen einstimmt, der Putin-Unterstützung verdächtigt wird, als gäbe es keine Alternativen zum Krieg?
Duale patriarchale Logiken
Mich erschreckt die Unerbittlichkeit, mit der Meinungsverschiedenheiten nicht ausdiskutiert, sondern Andersdenkende niedergemacht werden, nicht nur in Medien, Politik und Gesellschaft, sondern auch in der gesellschaftlichen Linken und in selbstorganisierten politischen Zusammenhängen und Projekten. Die Frage, warum es oft so schwierig ist zwischen den Menschen, beschäftigt mich schon lange. Seit ich mich in Gruppen und kollektiven Zusammenhängen bewege, habe ich unzählige Male Streitereien und unlösbare Konflikte miterlebt und war nicht selten auch selbst involviert. So vieles ist daran zerbrochen. Oft scheint es nur noch Gut oder Böse, Freund*in oder Feind*in zu geben, keine Zwischentöne und Ambivalenzen.
Diese „Entweder-Oder“-Logiken verstehe ich als Ausdruck patriarchaler Denk- und Empfindungsmuster, die bestens mit der neoliberalen Konkurrenz korrespondieren. Ich bin auch davon überzeugt, dass sich mit der Durchdigitalisierung des Alltags das digitale Funktionsprinzip des 0-1-0-1 ins Denken und Fühlen einschreibt und nicht unerheblich zu diesen Spaltungen beiträgt.
Die Entwicklung digitaler Technologien entspringt der Militärforschung – das sollte nie vergessen werden. Am 6. April 2022 haben Verteidigungs- und Haushaltsausschuss des Bundestages der Anschaffung von Raketen zur Bewaffnung von Drohnen zugestimmt. Damit wird das automatisierte Töten auf Grundlage von „Künstlicher Intelligenz“ (KI) ermöglicht. Dieser Propagandabegriff hat nichts zu tun mit dem, was gemeinhin unter Intelligenz verstanden wird, die eine vielseitige menschliche Eigenschaft ist, geprägt von intellektuellen, emotionalen und kulturellen Fähigkeiten und Gewohnheiten. Selbstlernende Algorithmen machen bei der KI letztlich nichts anderes, als riesige Datenmengen abzugleichen und Schlussfolgerungen im 0-1-0-1-Modus zu ziehen.
Vielleicht ist die Automatisierung des Tötens die logische Konsequenz eines Denkens, das jede Wärme und Lebenszugewandtheit verloren hat und nicht mehr mit Empfindungen und zwischenmenschlicher Resonanz verbunden ist. Ein Symbol und eine grausame Realität der Destruktivität von patriarchaler Gewalt, die im Kapitalismus mit seiner systematischen Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur ihre Vollendung findet.
In diesem System gibt es keine Lösungen, aber immerhin Inseln der Hoffnung, wo beispielsweise Deserteur*innen und Geflüchtete unterstützt und Selbstversorgungsstrukturen organisiert werden. Alltagskämpfe, die direkt und unmittelbar wirken. Aber wäre es nicht endlich an der Zeit für ein großes Nein? Ein Nein nicht nur zu Militarisierung und Krieg, sondern zu jedem Gewaltverhältnis in Wirtschaft und Gesellschaft, überall, nicht nur vor der eigenen Tür. Das mag zunächst wie eine Binsenweisheit klingen, aber haben „wir“, habe ich mich nicht viel zu gut eingerichtet im Bestehenden? Was heißt es denn konkret, wenn ein solches Nein vom gepflegten Gedankengang zur materiellen Realität werden soll?