"gute und schlechte geflüchtete"

„Roma flüchten vor Krieg und vor Rassismus“

Antiziganistische Diskriminierung von Roma aus der Ukraine

| Interview: Silke

Roma
In einem Hostel in Krakau - Foto: Romadnes

Bei der solidarischen Aufnahme und Unterstützung von geflüchteten Ukrainer:innen wird mit zweierlei Maß gemessen: Angehörigen der Roma-Community, die schon in der Ukraine systematischer Ausgrenzung und gewalttätigen Angriffen ausgesetzt waren und nun vor dem Krieg flüchten, wird oftmals der Zugang zu Hilfsangeboten in den Zufluchtsländern verweigert, und viele haben keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Roma Center e. V./Roma Antidiscrimination Network (RAN) geht im Interview mit der Graswurzelrevolution auf die allgegenwärtige Diskriminierung ein. (GWR-Red.)

GWR: Durch den Krieg in der Ukraine sind die katastrophale Situation von Roma und der herrschende Antiziganismus wie durch ein Brennglas sichtbar geworden. Wie waren die Lebensumstände der Community in der Ukraine vor dem russischen Angriff?

Roma Center/RAN: Wie überall gibt es in der Ukraine einen alltäglichen, institutionellen und strukturellen Rassismus gegen Roma. In der Ukraine ist er, wie auch in manch anderen Ländern Ost- und Südosteuropas, sehr viel offener und hat gravierendere Auswirkungen als in westeuropäischen Ländern, etwa was den Zugang zu Bildung, Arbeit und Wohnraum angeht, aber auch im Alltag gibt es einen viel offeneren Rassismus. Gleichzeitig gibt es einen starken Nationalismus. Roma sind in dieser Situation die ersten Sündenböcke. Ein gravierendes Problem langjähriger Diskriminierung ist, dass etwa 20 Prozent der ukrainischen Roma keine Papiere haben.
International Wellen schlugen vor allem die Angriffe 2018, bei denen rechtsextreme Bürgerwehren in verschiedenen ukrainischen Städten Roma vertrieben und ihre Siedlungen zerstört haben. Bei diesen Angriffen kam es zu mehreren Toten und Verletzten in der Roma-Community. Aber es gab natürlich auch schon vorher solche Angriffe. Nachdem 2016 ein kleines Mädchen ermordet und ein junger Rom als mutmaßlicher Täter verhaftet worden war, gab es Pogrome gegen Roma-Communities in verschiedenen Städten. Roma sind vertrieben worden, die Polizei sah zu. Es gibt erhebliche Zweifel an der Schuld des jungen Rom, es gibt Hinweise, dass er gefoltert wurde und Beweise gegen ihn gefälscht wurden.

Seit Beginn des russischen Einmarschs hat sich die gesellschaftliche Stimmung nochmals verschärft. Was sind die Hauptvorwürfe und zentralen Vorurteile, die gegen die Roma vorgebracht werden? Von wem geht diese Stimmungsmache hauptsächlich aus?

Wie die Situation in der Ukraine aktuell ist, ist schwer zu überschauen, und wir sind derzeit dabei, sie zu recherchieren, interviewen geflüchtete Roma. Wie alle ukrainischen Männer im „wehrfähigen Alter“ sind auch die Roma-Männer in der Armee und beschützen ihre Dörfer. Es kam bei der Flucht von Anfang an zu Diskriminierung, Roma wurden nicht in Züge gelassen. Papierlose Roma wurden vom ukrainischen Grenzschutz nicht über die EU-Grenzen gelassen, sondern nur nach Moldawien. Von dort wurde versucht, sie möglichst nach Rumänien loszuwerden. Ihre Situation ist schwierig.
Kürzlich waren wir in Polen, wo wir geflüchtete Romnja aus der Oblast Donezk und anderen stark umkämpften Orten interviewt haben. Diese haben durch die russischen Angriffe ihre Häuser verloren. Sie haben aber auch gesagt, dass sie Gewalt durch die ukrainischen Gadje (1) erlebt haben, sowohl von Angehörigen der Armee als auch von Zivilist:innen. Das rechtsextreme Asow-Regiment, das für ein besonders gewalttätiges Vorgehen gegen Roma berüchtigt ist, macht sich mittlerweile auch im Westen der Ukraine breit. Wie wir gehört haben, wurden in Transkarpatien inzwischen Roma von Nazis aus ihren Häusern vertrieben.

In verschiedenen ukrainischen Städten kam es zu erschreckenden antiziganistischen Vorfällen, zu körperlichen Angriffen und öffentlichen Demütigungen an „Prangern“. Was sind die Hintergründe?

Hintergrund ist der unreflektierte Rassismus gegen Roma in der ukrainischen Gesellschaft. Leute, die des Diebstahls oder Plünderns bezichtigt werden, werden in der Ukraine mit gelbem Klebeband an Laternen etc. festgebunden, und ihnen werden die Gesichter mit grüner oder blauer Farbe angemalt. Teilweise wurden sie ausgezogen und misshandelt. Die Bilder davon wurden in sozialen Medien verbreitet. Das ist aktuell eine Form der Selbstjustiz, die sich nicht nur gegen Roma richtet. Wenn man jedoch zugrunde legt, dass es zu den klassischen Stereotypen gehört, Roma Diebstahl zu unterstellen, so erstaunt es wenig, dass es oft benutzt wurde, um Roma zu misshandeln. Besonders schlimm war, dass das auch mit Roma-Kindern gemacht wurde.

Reflexartig entstand die Spaltung in gute und schlechte Geflüchtete, derzufolge weiße Ukrainer:innen vor dem Krieg fliehen, während ukrainische Roma aus derselben Region angeblich den Krieg nur nutzen, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Dieses Narrativ, das Roma unterstellt, „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu sein, ist nichts Neues.

Statt diese Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren, wurden die Darstellungen in sozialen Medien mit Hate Speech versehen. Da russische Medien diese Selbstjustiz in der Ukraine aufgriffen, wurden wiederum wir in sozialen Medien bezichtigt, russische Propaganda zu verbreiten, als wir die Bilder veröffentlichten. Das zeigt, wie unterkomplex auch in unserer Gesellschaft die aktuellen Debatten zur Situation in der Ukraine sind. Es ist hochproblematisch, dass jenseits der Wahrnehmung von „Russland = böse“, „Ukraine = gut“ nichts mehr zu existieren scheint.

Viele Roma sind aus dem Kriegsgebiet geflohen, aber im Gegensatz zur ukrainischen Mehrheitsbevölkerung erfahren sie wenig Hilfsbereitschaft, sondern sogar oft offene Diskriminierung. Wie ist die Lage beispielsweise im Nachbarland Polen, wohin viele Roma als erstes fliehen?

Die Lage in Polen, aber auch in Tschechien ist schlimm. Besonders wenn man da ist und sieht, wie groß die Solidarität generell mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist, fällt einem der krasse Gegensatz zum Umgang mit den geflüchteten Roma aus der Ukraine auf. Roma werden nicht in Bussen und Autos mitgenommen, erhalten vielfach keine Unterkunft, weniger zu essen, müssen das nehmen, was die weißen Geflüchteten übriglassen.
Es ist aber nicht nur der Umgang mit ihnen, sondern es sind auch die Narrative, die die Diskriminierung dann noch verschärfen. Reflexartig entstand die Spaltung in gute und schlechte Geflüchtete, derzufolge weiße Ukrainer:innen vor dem Krieg fliehen, während ukrainische Roma aus derselben Region angeblich den Krieg nur nutzen, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Dieses Narrativ, das Roma unterstellt, „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu sein, ist nichts Neues. Dem liegt generell die Verkennung ihrer Fluchtursachen zugrunde. Dass diese Spaltung jetzt auch auf Flüchtende aus denselben Kriegsgebieten angewendet wird, ist natürlich besonders drastisch. Denn: Während weiße Ukrainer:innen vor Krieg flüchten, flüchten ukrainische Roma vor Krieg und Rassismus und erleben bei dieser Flucht weiter Diskriminierung.

Auf der Weiterreise in die BRD kam es ebenfalls zu offener Diskriminierung von Roma aus der Ukraine. Kannst du das anhand einiger Beispiele deutlich machen?

Es gab diverse Vorfälle mit der Bahn. Roma wurden nicht am vorgesehenen Ort rausgelassen, oder ihnen wurde der Zugang zu Räumlichkeiten der Bahn für Geflüchtete verwehrt. Ein Fall ereignete sich am 8. April, dem Welt-Roma-Tag, am Dresdener Bahnhof (darüber haben wir auf unserer Website www.ran.eu.com berichtet).
Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Es kam vielfach vor, dass Roma nicht erwünscht waren, Unterstützer:innen bei uns anriefen, weil sie die Roma-Familien loswerden wollten, oder sie immer nur wenige Tage an einem Ort bleiben konnten und dann immer wieder weitergeschickt wurden. Es gab Fälle, bei denen den Menschen nicht geglaubt wurde, sie seien aus der Ukraine geflohen, und gesagt wurde „das sind Z* aus Rumänien, die wollen uns nur ausnutzen“, obwohl sie ihre Herkunft durch ukrainische Pässe nachweisen können.

Dagegen gab es jetzt allerdings auch massive Proteste. Welche Organisationen sind daran beteiligt, und was sind die wichtigsten Forderungen?

Als massiv würden wir die Proteste nicht bezeichnen. In Deutschland und international wurde vor allem der Umgang mit den BiPoC kritisiert, die aus der Ukraine fliehen, aber keine Ukrainer:innen sind, etwa Studierende aus afrikanischen Ländern oder Indien. Dass ukrainische Roma diese Diskriminierungserfahrungen teilen, wurde weitgehend ignoriert. In Deutschland waren es nur die migrantischen Roma-Organisationen, die auf die Situation der ukrainischen Roma aufmerksam machen, den Umgang mit ihnen kritisieren und Forderungen an die Politik ge
richtet haben. Wir fordern im Wesentlichen gleiche Rechte für alle, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, u. a. auch die rechtliche Gleichstellung der papierlosen Roma mit allen anderen Ukrainer:innen.

Wie ist die Lage von ukrainischen Roma, die hier angekommen sind? Werden sie bei der Unterbringung und bei den Hilfsangeboten benachteiligt?

Es gibt immer wieder Probleme mit der Versorgung, manche bekommen nicht genug zu essen und keine Unterkunft. Eine Romni war schließlich so verzweifelt, weil ihre Kinder die ganze Zeit hungerten und froren, dass sie zurück in die Ukraine gegangen ist. Da ist zwar Krieg, aber wenigstens ist sie nicht allein. Manche bekommen auch nicht die Leistungen, die ihnen von Gesetz wegen zustehen.
Generell ist die Situation in Deutschland besser als in den osteuropäischen Staaten, schon allein, weil weniger Geflüchtete nach Deutschland kommen. Jedoch ist man auch in Deutschland weit davon entfernt, angemessene Unterstützungsstrukturen zu haben. Es gibt eine allgemeine Überforderung, etwa bei der Unterbringung. Eine weiße Mutter mit zwei Kindern kann man leicht privat unterbringen. Aber Romnja fliehen oftmals nicht allein mit ihren Kindern, sondern sie fliehen, um sich zu schützen, oft in Gruppen mit mehreren Frauen und Kindern. Oft sind auch kranke, behinderte oder pflegebedürftige Angehörige dabei. Diese Gruppen kann man privat nicht so einfach unterbringen, und es gibt keine staatlichen Strukturen, die das auffangen könnten.

Zeitgleich werden ständig Roma in andere Staaten abgeschoben, in denen sie ebenfalls extremer Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt sind, die aber als „sichere Herkunftsländer“ deklariert wurden – beispielsweise die Staaten des ehemaligen Jugoslawien. Droht den ukrainischen Roma Ähnliches?

Der Umgang mit den geflüchteten Roma aus Jugoslawien ist seit mehr 30 Jahren schlecht. Obwohl die meisten von ihnen in den 1990er-Jahren vor Krieg geflohen oder vertrieben worden sind, waren sie über viele Jahre oder gar mehrere Jahrzehnte nur geduldet. Das bedeutet, sie durften bis Ende der 2000er-Jahre nicht arbeiten, sie hatten nicht die Möglichkeit, an kostenlosen Integrations- und Sprachkursen teilzunehmen, sie konnten sich nicht weiterentwickeln. Diese Situation hat das Herauskommen aus der Duldung für die meisten sehr schwer, für manche unmöglich gemacht. Ihre Kinder werden in diese Situation hineingeboren. Wir erleben es regelmäßig, dass in Deutschland geborene junge Roma abgeschoben werden. Gleichzeitig fliehen nach wie vor viele Roma aus diesen Ländern vor Diskriminierung und Rassismus und haben durch die Einstufung der Balkanländer als „sichere Herkunftsländer“ so gut wie keine Chancen auf Asyl.
Diese Situation fürchten wir aktuell vor allem für die papierlosen ukrainischen Roma, die nicht nachweisen können, dass sie Ukrainer:innen sind. Aber generell fürchten wir auch eine Situation wie nach dem Kosovokrieg. Nach dem Krieg hat die Mehrheitsbevölkerung des Kosovo systematisch ethnische Säuberungen gegen die Roma verübt und ihre Häuser geplündert und zerstört. Das ist bis heute ein komplexes, ungelöstes Problem.
Aktuell sehen wir, dass die Roma aus der Ukraine ihre Häuser verlieren, es gibt Gewalt durch die eigenen Landsleute. Dass rechtsextreme Gruppierungen wie Asow massiv aufgerüstet werden, lässt Schlimmstes für die Zukunft befürchten. Vor allem stellt sich die Frage, ob Roma dann dort jemals wieder zurückkönnen.

Wie können Roma, die hierher geflüchtet sind, am besten unterstützt werden?

Die Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist sehr groß. Das ist großartig. Die beste Unterstützung ist, diese Solidarität für alle Geflüchteten, unabhängig von ihrem ethnischen und sozialen Hintergrund, aufzubringen.
Darüber hinaus dürfen wir jedoch die spezifischen Probleme nicht aus den Augen verlieren. Das bedeutet, dass die papierlosen ukrainischen Roma den anderen Ukrainer:innen gleichgestellt sein müssen, und es braucht angemessene Unterbringung für die größeren Roma-Gruppen. Als wir in Polen waren, haben wir Roma besucht, mehr als 100 Personen, die von einer Roma-NGO in einem Hostel untergebracht wurden. Alles komplett spendenfinanziert. Diese Leute haben keinerlei staatliche Unterstützung bekommen, wurden komplett im Stich gelassen. Wir hatten für sie einen Spendenaufruf gemacht und haben die Spenden hingebracht. Am 13. Mai werden sie obdachlos, weil sie dann die Miete für das Hostel nicht mehr zahlen können. Wir rufen daher weiter zu Spenden auf, damit die Leute ein Dach über dem Kopf haben und nicht auf der Straße sitzen.

Danke für die vielen Informationen. Für eure weitere Arbeit wünsche ich euch viel Energie und viele solidarische Unterstützer*innen!

(1) Gadje ist die Romanes-Bezeichnung für Nicht-Roma.

 

Die Unterstützungsarbeit für geflüchtete Roma braucht Spenden:

Roma Center e. V.
IBAN:
DE11 2605 0001 0056 0575 40
Sparkasse Göttingen
Spendenzweck „Roma Ukraine“

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.