In dem Spielfilm „Maixabel“ geht es um die Zeit nach den Attentaten von ETA – um die Angehörigen der Erschossenen, aber auch um diejenigen, die Geschossen haben und dies bereuen.
Auf einer sattgrünen Wiese, umgeben von lichtem Wald, auf einem Hochplateau hoch über der Küste steht ein zerstörter Gedenkstein. Juan María Jáuregui 1951 – 2000 steht auf der durchgebrochenen Namensplakette, der Stein mit roter Farbe übergossen. Auch nach seinem Tod hört die Gewalt gegen Juan María Jáuregui, seine Ächtung durch Anhänger*innen von ETA nicht auf. ETA steht auf Baskisch für Euskadi ta Askatasuna, Baskenland und Freiheit. Peñas de Aya heißt das Hochplateau mit dem wunderschönen weiten Blick aufs Meer auf Spanisch, Aiako Mendiak auf Euskera, Baskisch. Es ragt nahe der Stadt Oiartzun im spanischen Baskenland auf.
Der Boden ist regensatt und aus Granit, und auch im Film „Maixabel“ schüttet es nicht nur in einer traurigen Sequenz wie aus Eimern. Aber besonders, als Ibon Etxezarreta (Luis Tosar) zurück ins Gefängnis in seine Zelle geht. Bereits zehn Jahre sitzt er ein, verurteilt für die Ermordung von Juan María Jáuregui, der von 1994 bis 1996 Zivilgouverneur der baskischen Provinz Gipuzkoa war. Am 29. Juli 2000 wurde er von einem Etarra mitten in einem Café durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet. Das dreiköpfige ETA-Kommando kann nach dem Attentat zwar fliehen, wird aber später verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Diese Geschichte ist real, für das Drehbuch des Filmes haben die Autorin Isa Campo und die Regisseurin Icíar Bollaín die mittlerweile aus dem straff organisierten Gefangenenkollektiv der bewaffneten Untergrundorganisation ETA ausgestiegenen Kommandomitglieder genauso befragt wie die Angehörigen der Opfer solcher Morde. Vieles geht auf die Gespräche mit Maixabel Lasa zurück, der Witwe von Juan María Jáuregui. Maixabel Lasa ist im Baskenland sehr bekannt, weil sie sich nicht auf die Rolle der trauernden Witwe reduzieren lassen will – sie lebt noch und hat die Entstehung des Filmes begleitet. Maixabel Lasa ist genauso wie ihr Mann, den sie mit 16 kennengelernt hatte, ihr Leben lang politisch engagiert.
Maixabel Lasa wurde ein Jahr nach der Ermordung ihres Mannes 2001 Direktorin des Büros für die Betreuung der Opfer des Terrorismus, einer Einrichtung der baskischen Regierung – bis 2012 hatte sie diese Funktion inne, unterstützt von der baskischen Regionalregierung der regionalistischen PNV, der Baskischen Nationalistischen Partei. Angefeindet wurde Maixabel Lasa von der spanisch-nationalen konservativen Volkspartei PP und der auf deren Linie liegender spanischen Vereinigung der Opfer des Terrorismus AVT, Asociación de Víctimas del Terrorismo. Denn während die AVT von Angehörigen von Opfern von ETA aus spanischer Polizei und Militär beherrscht wird, die uneingeschränkt für das unteilbare Spanien eintreten und im Konflikt um das Baskenland Partei für den spanischen Zentralstaat ergreifen, geht Maixabel Lasa einen anderen Weg und entzieht sich der einseitigen Instrumentalisierung der Opfer: 2008 öffnete sie die Arbeit des Büros für die Betreuung der Opfer des Terrorismus für alle Opfer der Gewalt, auch für die Opfer der Paramilitärs und der Polizei, auch für deren in den achtziger Jahren außerhalb der Legalität agierenden Todesschwadrone GAL. Diese Antiterroristischen Befreiungsgruppen, Grupos Antiterroristas de Liberación, folterten und ermordeten zwischen 1983 und 1987 vor allem im französischen Baskenland gekidnappte Etarrak, Mitglieder von ETA. Mindestens 28 Menschen. Vor 1987 lieferte Frankreich Etarrak nur aus, wenn konkrete, gerichtsfeste Straftatvorwürfe gegen sie vorgebracht wurden. Nach 1987 kooperierte Frankreich uneingeschränkt mit Spanien in der Bekämpfung von ETA und die GAL waren somit überflüssig geworden. Es konnte dem damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Felipe González nicht nachgewiesen werden, dass er die Anweisung zur Gründung der GAL gab, aber sein Innenminister wurde zu einer Haftstrafe verurteilt – die Begnadigung durch González folgte umgehend.
Der von ETA ermordete Juan María Jáuregui und seine Witwe Maixabel Lasa traten anders als ihr Parteifreund Felipe González vehement für einen Dialog zwischen dem spanischen Staat und der baskischen ETA ein, um das Blutvergießen durch Attentate ebenso zu beenden wie die Militarisierung des Baskenlandes durch den Zentralstaat. „Mit der Gewalt erreichst du absolut nichts, du musst die Sachen mit anderen Mitteln lösen, mit pädagogischer Erziehung, dadurch dem Nachbarn zuzuhören, um die Probleme, die wir Tag für Tag erleben, durch den Gebrauch des Wortes zu lösen” – ein typisches Statement nicht aus den Spielfilmdialogen, sondern von der echten Maixabel Lasa.
Zu Beginn des Filmes wird das Attentat auf Juan María Jáuregui gezeigt. Aus der Sicht des ETA-Kommandos. Es ist die einzige Sequenz, in der es schnell zugeht, hektische Action statt Nachdenklichkeit, vieler Worte und ebenso emotionaler wie auch intelligenter Dialoge, wie sie danach dominieren. Die zwei Schüsse in den Hinterkopf im Café auf den völlig ahnungslosen Juan María Jáuregui, der keinen Leibwächter hat und mit dem Rücken zur Tür sitzt, die schnelle Flucht über die Autobahn in einem geklauten Auto, das vor einer stillgelegten Fabrik hochgejagt wird, dieser Ablauf ist aus zahlreichen Berichten über die jahrzehntelang stattgefundenen Erschießungen bekannt. Anders ist es mit dem, was danach kommt.
Aber der Film lebt davon, die Geschichte der Attentäter und die der Angehörigen der Opfer parallel zu zeigen. Maixabel (Blanca Portillo) steht gerade im Bad, als das Telefon sehr lange klingelt. Niemand lässt so lange nervend klingeln, außer es gab ein Attentat. Ihr Tochter María (María Cerezuela) feiert gerade ihren neunzehnten Geburtstag mit Freundinnen am See, als überraschend die Tante angefahren kommt. Die Tante weint, als sie auf María zugeht, die sofort ohne ein Wort versteht, was passiert ist. Alles ist nur noch Schmerz. Die Kamera fährt weg in die Totale, inmitten einer landschaftlichen Idylle stehen zwei Frauen, die sich umarmen und hemmungslos weinen.
Gleichzeitig kommen die drei Etarrak in ihrer klandestinen Wohnung an, ein Vierter kommt dazu, hat Essen mitgebracht, sie stoßen an auf die aus ihrer Sicht gelungene Operation. Später im Film erzählt ein Etarra: Ja, es war so üblich, wie haben gelungene Attentate gefeiert. Aus einer rein militärischen Logik heraus, ohne Empathie für die Opfer.
Der Film wendet sich danach wieder Maixabel und ihrer Tochter María zu. Im Parteihaus der PSE, wie der regionale Ableger der sozialdemokratischen Partei Spaniens, PSOE, heißt, steht aufgebahrt der Sarg von Juan María Jáuregui. Eine Genossin nimmt Maixabel Lasa in den Arm, sagt nur: Jetzt haben sie innerhalb weniger Monate unsere beiden Männer ermordet. Im Jahr 2000 waren die meisten von ETA Ermordeten längst keine Offiziere des Militärs oder der paramilitärischen Guardia Civil mehr wie vor 1987 – die meisten wurden ermordet, weil sie Funktionen in spanischen Parteien innehatten, welche eine Unabhängigkeit des Baskenlandes, eine Trennung von Spanien ablehnten. Oder sich als Journalisten entsprechend äußerten. Oder sich als Firmeninhaber weigerten, die von ETA Revolutionssteuer genannten Abgaben an ETA zu zahlen. In einer sehr symbolischen Szene fährt Ibon, als er auf Freigang ist, die Orte seiner Attentate im Auto ab. Kurz sind einzelne Pistolenschüsse oder MG-Salven zu hören, wenn er dort ankommt: Bei der Redaktion des Diario Vasco, beim Firmensitz der Familie Korta. Es ist eine der Szenen, die ohne Kenntnis der Geschichte von ETA unverständlich sind, aber in spanischen Kinos bei vielen Zuschauenden die Erinnerung geweckt haben. Maixabel ist kein leichter Film, oft wurde geweint. Aber es ist gut, der starken Frau Maixabel zuzusehen, wie sie mit ihrer Trauer einen offensiven Umgang findet. So wie die reale Maixabel Lasa, die mit ihrem Einsatz für alle Opfer eine Menschlichkeit und Bereitschaft zur Aussöhnung zeigt, die bewundernswert ist.
Auch wenn der Film fast zwei Stunden lang ist – er ist nie länglich und immer wieder ergreifend, die Dramatik entsteht durch das Thema selbst und wirkt nicht übertrieben. Dazu tragen wesentlich die überzeugend gespielten Rollen bei – insbesondere Blanca Portillo als Maixabel. Auch die Kameraführung ist meist ruhig auf die Gesichter konzentriert, und auf die Orte der Handlung, die gut überlegt ausgewählt sind. Das Baskenland ist nicht nur schön auf den Bildern, wie beim Spaziergang von Maixabel an der Concha, der malerischen Strandbucht von Donosti. Es gibt auch die typischen Wohnblocks in den proletarischen Vierteln zu sehen, die tristen Autobahnen, den Betonklotz von Gefängnis. Und die Tonspur? Okay, an einigen Stellen ist die Musik etwas dramatisierend, zu viele Streicher, obwohl die Geschichte auch so dramatisch ist, konfrontativ. Und etwas mehr Stille vertragen könnte.
Aber da, wo der Film seine dichtesten Momente hat, da tragen ihn alleine die Dialoge. Oder, an zwei für die Inszenierung durch Icíar Bollaín typischen Punkten, trägt gemeinsames Singen auf Baskisch, stellt Gemeinsamkeit her, überwindet eine große Verunsicherung: Mit Texten des Protestes, des Durchhaltens im Widerstand. Überhaupt das Baskische: Zum Glück ist der Film in der untertitelten Originalversion im Kino. So ist zu hören, wann vertraut Baskisch gesprochen wird, etwa von der Tochter María mit ihren Freundinnen, und wann,wie meistens, Spanisch. Wie Worte aus dem Baskischen in Gespräche auf Spanisch eingeflochten werden: Nicht nur Kaixo, hallo, oder agur, tschüss. Aita – Papa, ama – Mutter. Aitona – Opa. Die Familien sind nicht nur für die Angehörigen der Opfer wichtig im Film. Egunon, guten Morgen, begrüßt die Mediatorin Esther (Tamara Canosa) im Gefängnis eine Gruppe von Etarrak. Heute eine Selbstverständlichkeit, aber unter Franco war bis 1975 der Gebrauch der baskischen Sprache verboten. Deswegen kann Maixabel nur wenig Baskisch, während ihre Tochter es fließend spricht.
Maixabel entschließt sich dazu, an einem Programm für Opfer von ETA und ausgestiegene Etarrak teilzunehmen – Treffen für Gespräche von Opfern mit Täter*innen. Um zu versuchen Antworten zu finden auf die quälenden Fragen als Angehörige: Warum mein Mann? Warum dieser sinnlose Mord, der so viel Schmerz und Verlust bewirkt hat?
Im Gefängnis Nanclares De Oca im Baskenland, wo die Handlung spielt, sind auch in der Realität die Gefangenen aus ETA zusammengelegt worden, die sich vom bewaffneten Kampf losgesagt haben. Und damit aus dem Gefangenenkollektiv von ETA ausgeschlossen wurden. Dieses früher sehr disziplinierte und disziplinierende, hierarchisch organisierte Gefangenenkollektiv erwartet, dass sich die Etarrak kollektiv den Angeboten der Gefängnisbürokratie verweigern – zum einen aus Schutz gegen die meist sehr harten Isolationsbedingungen in Haft; zum anderen aber auch, um die Gefängnisse als Front im Krieg gegen Spanien – und Frankreich – zu begreifen. Der Druck, der dafür erzeugt wird, kommt in harten Ausdrücken zum Ausdruck, mit denen sich die Ausgestiegenen von der „brutalen Sekte“, der „idiotischen Führung“ lossagen. Klar wollen sie gerne Haftverbesserungen und distanzieren sich dafür – wer will ihnen daraus einen Vorwurf machen? Die „Gefangenenfront“ in Haft ist ein weiterer Ausdruck eines militarisierten Agierens seitens ETA.
Umso wichtiger, dass Einzelne Gefangene die Chance bekommen, bei Interesse an den Gesprächen mit Opfern teilzunehmen. Der dramaturgische Höhepunkt des Filmes ist das Gespräch zwischen Maixabel und Ibon. Beide wissen, wer sie sind – Maixabel die Witwe seines Opfers, Ibon einer der drei Mörder ihres Mannes. Als Ibon erzählt, wie er zur ETA gekommen ist, hakt Maixabel ein: 1970, in den letzten Jahren der Francodiktatur, als im Burgosprozess Mitglieder von ETA zum Tode verurteilt wurde, da sei ihr Mann Juan María Jáuregui auch in ETA Mitglied gewesen, hätte sich aber mit einem klassenkämpferischen Flügel von ETA abgespalten*. Sie beide hätten sich 1973 der Kommunistischen Partei Spaniens angeschlossen. Und später, 1989, der sozialdemokratischen PSE. Ibon hört etwas ungläubig zu. Es wird deutlich – er wusste fast nichts über sein Opfer. Die ETA-Führung hatte die Ermordung von Juan María Jáuregui angeordnet, sein Kommando führte die Erschießung aus. Als Maixabel von Parteifreunden bedrängt wird, nicht an dem Gesprächsprogramm mit Etarrak teilzunehmen, antwortet sie mit ihrer so entwaffnend resoluten wie klaren Art: „Juan Marí hätte noch mit seinen Mördern gesprochen, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte“. So hätte es sein können. „Maixabel“ ist ein emotional wie politisch bewegender Film, darüber, dass etwas jenseits der nationalen und militarisierten Polarisierung baskische ETA versus spanischer Staat möglich war. Und ist. Und es ist eine Hommage an eine bewundernswerte Frau, Maixabel Lasa.
* Anm: Aus der klassenkämpferischen Abspaltung ETA-VI ging 1973 die gesamtspanische, trotzkistische Liga Comunista Revolucionaria (LCR) hervor, deren baskische Organisation die Liga Komunista Iraultzailea (LKI) war – Nachfolgeorganisation sind die Anticapitalistas, https://www.anticapitalistas.org, heute neben den anarchosyndikalistischen Gewerkschaften die wichtigste Organisation der radikalen Linken Spaniens. Ein kleinerer Teil von ETA-VI, darunter Jáuregui, trat der KP Spaniens bei.
Bereits 1966 hatte sich auf der fünften großen Versammlung ETA V in Kritik am baskischen Nationaismus eine kommunistische Strömung von ETA abgespalten, ETA Berri. Sie nannten sich bald Komunistak, und gründeten die Baskische kommunistische Bewegung, Euskadiko Mugimendu Komunista (EMK), aus der die spanienweit größte linkskommunistische Organisation der 70iger und 80iger Jahre entstand, Movimiento Comunista (MC). ETA spielte im Widerstand gegen die Francodiktatur eine große Rolle und brachte zwei bedeutende Organisationen der spanischen radikalen Linken hervor. EMK und MC haben die Militarisierung und den Nationalismus von ETA später scharf kritisiert und sich für die Opfer eingesetzt. Sie haben die Parteiform aufgegeben, aber nicht das Engagement: Derzeit gibt es verschiedene Netzwerke, NGOs und das Redaktionskollektiv http://www.pensamientocritico.org.
Maixabel, Spanien 2021, 115 Min. Jetzt im Kino.
Drama; Spanisch mit Untertiteln. Regie: Icíar Bollaín. Mit Blanca Portillo, Luis Tosar, Urko Olazabal, María Cerezuela
Auszeichnungen: 14 Nominierungen zum Spanischen Filmpreis 2022 - u.a. Bester Film, Beste Regie, Beste Schauspielerin*: Blanca Portillo, Bester Schauspieler: Luis Tosar, Bester Schauspieler Nebenrolle*: Urko Olazabal, Beste Nachwuchsschauspielerin*: María Cerezuela. Drei davon wurden Auszeichnungen (mit *).
Der Beitrag wurde am 10.6.22 auf Wunsch des Autors leicht korrigiert.
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