Nicht nur die Graswurzelrevolution (GWR) hat mit ihrem 50-jährigen Bestehen dieses Jahr einen Grund zum Feiern eines Jubiläums, sondern auch die mit uns seit Langem befreundete französischsprachige Zeitschrift „Silence: écologie – alternatives – non-violence“, die es nun seit 40 Jahren gibt. Redaktionsmitglied Guillaume Gamblin war Mit-Autor des im Buchverlag GWR erschienenen Buches „Im Kampf gegen die Tyrannei“ über die gewaltfrei-revolutionären Bewegungen in Syrien nach 2011 und im Sudan im 20. Jahrhundert. Das Interview mit ihm führte für die Graswurzelrevolution Lou Marin. (GWR-Red.)
GWR: Guillaume, der Titel der Zeitschrift „Silence: écologie – alternatives – non-violence“ könnte diejenigen deutschsprachigen Aktivist*innen überraschen, die eure Geschichte nicht kennen. Angesichts des dramatischen Zustands der Ökologie weltweit würde man eher einen Ausdruck der Wut oder einen Aufschrei als Titel erwarten. Tatsächlich hieß ja die Zeitschrift, die „Silence“ vorausging, „La Gueule Ouverte“ (Aufgerissenes Maul). Kannst du uns über diese Namensänderung aufklären?
Guillaume Gamblin: „Silence“ wurde 1982 gegründet, zwei Jahre nach Auflösung der Zeitschrift „La Gueule ouverte“. Der neue Titel ist ein Augenzwinkern auf diese Zeitschrift; er entstammt aber auch einer Idee aus einem Comic von Didier Comès, der damals erschien (dt. Titel: „Silence, der Stumme“, Carlsen Verlag, Reinbek 1982; L. M.).
Es war nicht einfach nur eine Namensänderung. Es war ein anderes Medium mit einem anderen Kollektiv und mit einem Gesellschaftsziel, in dem nunmehr die Gewaltfreiheit ihren expliziten Platz finden sollte. Man kann aus dem Titel jedoch auch eine Kritik der gesellschaftlichen Ruhe interpretieren, die damals bei den ökologischen Fragen herrschte – und das Bedürfnis, davon zu reden, was in den anderen Medien unter dem Deckmantel des Schweigens verblieb.
Kannst du uns bitte zwei entscheidende Ereignisse nennen, die die Geschichte eurer Zeitschrift begleitet und geprägt haben?
Man kann sagen, dass „Silence“ aus dem Anti-Atomkraft-Kampf entstand; das war das einigende Band der Gründer*innen. Die Zeitschrift wurde also im Widerstand gegen das Programm der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft in Frankreich geboren, und sie schuf Verbindungen zwischen den ökologischen, energiepolitischen, antirepressionspolitischen und antimilitaristischen Themenbereichen.
„Silence“ hat sich übrigens in denselben Räumen getroffen wie die Koordination des Kampfes gegen den Schnellen Brüter „Superphénix“. Dabei handelte es sich um einen neutronenbetriebenen Reaktor, der in Creys-Malville an der Rhône im Departement Isère, zwischen Lyon und Genf, gebaut werden sollte (und 1997 aufgegeben wurde; L. M) – ein europäisches Projekt mit 51 % französischem, 33 % italienischem und 16 % deutschem Finanzierungsanteil. In der Folge gab es eine Zusammenarbeit mit dem Netzwerk „Sortir du nucléaire“ (dt. Aussteigen aus der Atomenergie; L. M.). Man kann sagen, dass sich diese Widerstandsprojekte zusammen entwickelt haben.
Ein anderes Schlüsselereignis war das Aufkommen der Vision einer „décroissance“, also der gesellschaftlichen Zielvorstellung eines „degrowth“ oder des Postwachstums. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat „Silence“ dieses Thema geradezu propagiert und über ein Buch und zahlreiche weitere Publikationen in die breitere öffentliche Diskussion eingebracht; aber die ersten Artikel in „Silence“ dazu stammen bereits aus dem Jahr 1993. Die Analysen basierten auf einer radikalen Kritik des Konzepts der „Entwicklung“ und ihrer vielen Formen, die alle die Ökologie mit dem Kapitalismus versöhnen wollten, wie es noch heute bei der so genannten nachhaltigen Entwicklung der Fall ist. Das Konzept des Postwachstums ist bei uns verknüpft mit einer technikkritischen Perspektive, die etwa auch Aktionen gegen Werbung und Werbeplakate usw. beinhaltet.
Neben dem Postwachstum und der Kritik des Entwicklungsbegriffs kann man auch weitere wichtige ideelle Quellen von „Silence“ nennen, etwa die soziale Ökologie, die seit 1984 mit dem Denken von Murray Bookchin verbunden wurde, oder den Ökofeminismus, der ab 1997 oft auf den Titelseiten von „Silence“ thematisiert worden ist.
In den 40 Jahren gab es sicherlich nicht wenige Veränderungen auf redaktioneller, technischer und organisatorischer Ebene. Kannst du uns einige dieser Veränderungen beschreiben?
Anfangs hatte die Zeitschrift eine nur regionale Verbreitung, rund um Lyon, und sie erschien vierzehntägig. Sie wurde komplett in freiwilliger Arbeit hergestellt. Computer existierten noch nicht; die ganze Ausgabe wurde von Freiwilligen auf der Schreibmaschine getippt, oft nachts, weil die Räume tagsüber von Initiativen benutzt wurden.
Der erste Computer tauchte 1986 auf, im selben Jahr, als sich die Zeitschrift frankreichweit ausdehnte und ein erster bezahlter Redakteur eingestellt wurde. Als eingetragener Verein lebte sie jedoch weiterhin größtenteils von der Arbeit Freiwilliger und dem, was sie schrieben.
Seit dem Jahr 2002 gibt es jedes Jahr ein Treffen der „Freund*innen von ‚Silence‘“ an wechselnden Orten, um mit Formen des ökologischen und selbstverwalteten Lebens zu experimentieren.
Wie sieht die Struktur der Zeitschrift heute aus? Wie hoch ist heute eure Auflage, und wie funktioniert der Vertrieb? Habt ihr Austausch auf internationaler Ebene?
Heute hat die Zeitung vier Teilzeitarbeiter*innen, die alle gleich viel verdienen. Die Zeitschrift lebt ohne Werbeanzeigen und vermeidet Subventionen, so weit es nur geht. Der – knappe – Finanzhaushalt basiert auf den Abonnements. Wir hatten einen Höhepunkt mit 5.000 Abos im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts; heute haben wir ein wenig mehr als 3.000 Abonnent*innen. Wir vertreiben die Zeitschrift außerdem in 180 Läden und über Infostände bei Bewegungsevents. Wir produzieren auch Bücher und Plakate zum Konzept des Postwachstums, zu Gewaltfreiheit, Feminismus u. a. Die Bücher verlegen wir in Zusammenarbeit mit rund zehn Verlagen, darunter auch dem Verlag „Écosociété“ in Québec. Eine zweistellige Anzahl von Freiwilligen kümmert sich jeden Monat um die Versendung der Zeitschrift an die Abonnent*innen, führt die Infostände durch, schreibt Artikel und Buchbesprechungen, liest Korrektur, organisiert Veranstaltungen etc.
„Silence“ hat enge Verbindungen zu rund einhundert Medien, darunter einigen im Ausland, etwa der „Graswurzelrevolution“ in der BRD oder „Moins!“ (dt. Weniger!; L. M.) in der Schweiz, sowie mit aktivistischen Netzwerken in Belgien und anderswo.
Unsere deutschsprachige Zeitschrift, die „Graswurzelrevolution“, ist sowohl in der anarchistischen als auch in der gewaltfreien Bewegung verwurzelt. Wie sieht es bei der Zeitschrift „Silence“ mit dem Raum für anarchistische Ideen aus? Seid ihr auch Gegner*innen der so genannten ökologischen Parteien wie der EELV (französische Grüne; Europe-Écologies-Les-Verts)? Hat sich eure Beziehung zu den Parteien im Laufe der Jahre verändert?
Mehrere Gründer*innen der Zeitschrift waren früher in einer ökoanarchistischen Student*innenzeitung, die hieß „Poing Noir“ (dt. Schwarze Faust; L. M.). „Silence“ tritt öffentlich nicht als explizit anarchistisch auf, aber ich denke, dass es in ihr seit ihren Anfängen einen libertären Geist gibt. Trotzdem steht die Zeitschrift für eine politische Öffnung, die den Bereich des Anarchismus überschreitet. Mitglieder des Vereins haben sich auch in der Partei der Grünen engagiert. Madeleine Nutchey, die von 1997 bis 2006 Verlagsleiterin war, war Mitglied der Grünen. Diese Verbindung zur Partei der Grünen wurde innerhalb der Zeitschrift in zahlreichen Debatten thematisiert. Heute ist niemand mehr Parteimitglied, aufgrund der Ablehnung der dort vorherrschenden Professionalisierung und aufgrund der Fehlentwicklungen, die aus den Kompromissen mit den anderen Parteien herrührten.
Es gibt keine Ablehnung der repräsentativen Demokratie, aber sie ist für „Silence“, so möchte ich es ausdrücken, nur ein sehr kleiner Bestandteil der Politik. Im Rahmen der Wahlen interessieren wir uns vor allem für demokratische Experimente mit rotierenden Mandaten oder auch Bürger*innenlisten. Wir stellen aber auch alle anderen Formen, Politik von unten zu machen, in den Vordergrund. Im Rahmen unseres Vereins versuchen wir, in einem ständigen Prozess von Versuch und Irrtum, Praxen der Selbstverwaltung zu verwirklichen.
Die aktuelle ökologisch-politische Lage in Frankreich ist manchmal schwer erträglich, mit seiner starken Atomindustrie, seinen 56 AKWs, den Atomwaffen der „Force de frappe“, den Interventionen der französischen Armee in mehreren Ländern Afrikas und dem Willen von Präsident Emmanuel Macron, die Atomenergie auch noch zur grünen Energie – selbst auf europäischer Ebene – zu erklären. Außerdem gibt es eine starke Gegner*innenschaft in der Öffentlichkeit gegen alternative Energiequellen wie etwa Windräder.
Wie schätzt du die aktuellen Perspektiven für den ökologischen Kampf in Frankreich ein? Auf welche Erfolge in der Geschichte ökologischer Kämpfe könnt ihr zurückblicken?
Der aktuelle Zustand des Planeten und der Gesellschaft kann uns in der Tat leicht verzweifeln lassen. Wir haben den Eindruck, uns gegen eine Dampfwalze zu stemmen. Aber in Wirklichkeit ist jeder autonome Freiraum, jede gerettete Tierart, jedes blockierte unnütze Großprojekt ein Sieg.
Sinn und Zweck von „Silence“ ist es vor allem, die engagierten Aktivist*innen in den verschiedenen Bereichen der Ökologie, der Gewaltfreiheit, des Feminismus und der sozialen Gerechtigkeit miteinander zu vernetzen, um einander kennenzulernen, Brücken zu bauen und zusammen voranzukommen. Wir loten die alternativen Möglichkeiten in den pädagogischen, wohnungspolitischen, arbeitspolitischen und landwirtschaftlichen Bereichen aus. Und wir stellen dabei fest, dass es eine Unmenge von inspirierenden Initiativen gibt. Es ist die Aufgabe eines Mediums wie „Silence“, diese Alternativen bekanntzumachen und deren Kämpfe zu verknüpfen.
Werdet ihr denn das Jubiläum „40 Jahre Silence“ gebührend feiern?
Ja. Und für unser 40-jähriges Jubiläum haben wir uns dafür entschieden, die Siege in den ökologischen Kämpfen zu feiern. Wir haben rund 200 erfolgreich geführte ökologische Kämpfe in den letzten rund sechzig Jahren aufzählen können. Von den bekanntesten wie dem Kampf der Bauern und Bäuerinnen im Larzac gegen die Ausweitung eines Truppenübungsplatzes oder Notre-Dame-des-Landes gegen einen geplanten Großflughafen über die weniger bekannten wie der Aufgabe bestimmter Atomkraftwerke, des Projekts eines Touristikzentrums, das einen Wald zerstört hätte, und einer neokolonialen Goldmine in Französisch-Guyana bis hin zu den Kämpfen für die Wiederinbetriebnahme regionaler Bahnstrecken.
Wir veröffentlichen in unserer Oktober-Ausgabe einen Schwerpunkt zu den Siegen der Ökologie und auch ein großes Wandplakat – eine Frankreichkarte „50 Siege der Ökologie“. Denn wir wollen zu unserem 40-jährigen Jubiläum die Erfahrungen vergangener Jahrzehnte von Kämpfen dafür nutzen, uns besser vorbereitet der Zukunft zuwenden zu können.
Vielen Dank für deine Antworten. Und wir wünschen euch alles Gute für die nächsten 40 Jahre!
Website von „Silence“: https://www.revuesilence.net/