Die Proteste gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg sind schon lange Geschichte, die Themenschwerpunkte vieler Aktivist*innen haben sich verändert, doch die Repression dauert bis heute an: Gaston Kirsche befragte für die Graswurzelrevolution Kim König von der Ortsgruppe Hamburg der Roten Hilfe zum Stand der Prozesse fünf Jahre nach den Gipfelprotesten. (GWR-Red.)
Gaston Kirsche: Wie viele Verurteilungen gab es?
Kim König: Das kommt darauf an, wie man zählt. Allein für vermeintliche Straftaten während des G20-Gipfels gibt es bis jetzt 464 Verurteilungen. Darunter sind 238 Geldstrafen und 65 Jugendstrafen. In 172 Fällen wurden Freiheitsstrafen verhängt.
Und Freisprüche?
In 21 Fällen wurden die Angeklagten freigesprochen. Zudem wurden von den insgesamt knapp 1.500 Fällen, die die Staatsanwaltschaft verfolgte, über 400 eingestellt, da die Staatsanwaltschaft nicht an eine Verurteilung glaubte. 50 weitere Fälle wurden wegen so genannter Geringfügigkeit eingestellt.
Das steht für uns sinnbildlich für die Repression nach dem G20-Gipfel. Von der medial und politisch hochgekochten Verfolgung der G20-Proteste ist nicht viel übrig geblieben. Getrieben von der Politik griffen die Gerichte zu drastischen Urteilen, die andere von politischen Protesten abhalten sollten. Fünf Jahre nach dem Gipfel zeigt sich, dass selbst die Justiz den anfänglichen Ermittlungs- und Repressionseifer nicht mehr rechtfertigen kann.
Aber trotzdem werden Gerichtsverfahren vorbereitet?
Derzeit sind uns noch 40 offene Verfahren bekannt. Einige davon sind schon terminiert, bei anderen handelt es sich um Berufungsverhandlungen gegen die erstinstanzlichen Urteile. Sicher hat auch Corona allgemein die Verfahren ausgebremst. Doch wir sehen auch, dass im politischen Raum andere Themen wichtiger sind und damit das Interesse an der Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel abnimmt.
Wir sehen das auch am Rondenbarg-Komplex. Während des Gipfels hat die Polizei eine Demonstration brutal angegriffen. Es gab mehrere Verletzte. Allein in diesem Verfahren gibt es mehr als 80 Angeklagte. Die ersten beiden Verfahren dazu wurden aus unterschiedlichen Gründen abgebrochen. Wie und ob es weitergeht, ist völlig offen. Für die jugendlichen Angeklagten ist die Unsicherheit natürlich eine zusätzliche Belastung.
Aus den Crime-Dateien wären aber noch weitere Ermittlungsverfahren möglich?
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft laufen noch fünf Ermittlungsverfahren gegen zwölf Beschuldigte. Zwölf weitere Verfahren würden zudem gegen Unbekannt geführt. Darüber hinaus sollen in der Crime-Datenbank noch 766 Menschen als Beschuldigte geführt und 935 Bilder von Menschen gespeichert sein. Es ist also durchaus möglich, dass sich daraus noch weitere Verfahren ergeben. Das kommt aber letztlich vor allem auf den politischen Willen an.
In anderen Verfahren gegen Linke sehen wir wieder vermehrt so genannte Strukturermittlungsverfahren. So nennt sich strafrechtlich der Vorwand, um die linke Bewegung auszuspähen. Auch solche Ermittlungen können wir im G20-Komplex noch nicht ganz ausschließen.
Ist auf die Bedenken des Datenschutzbeauftragten wegen der Gesichtserkennungssoftware Videmo, der Auswertung von Bahnhofskameras und der Öffentlichkeitsfahndungen Rücksicht genommen worden in den fünf Jahren?
Soweit wir wissen, ist Videmo seit dem G20-Gipfel in Hamburg nicht mehr eingesetzt worden. Während des Gipfels wurde es aber flächendeckend eingesetzt und auch in den Verfahren ausgiebig genutzt. Die Strafverfolgungsbehörden nutzen zu Großereignissen häufig neue Mittel zum Test. Datenschutz spielt da die geringste Rolle.
Also hat die G20-Fahndung das Ausmaß an Polizeikompetenzen dauerhaft erweitert?
Auf jeden Fall hat der Gipfel dazu beigetragen, dass bestimmte Ermittlungsmethoden mehr Normalität geworden sind. Er hat sicher einen wesentlichen Anteil, dass die Öffentlichkeitsfahndung wieder stärker Einzug in die Polizeiarbeit gefunden hat. Auch für die europaweite Vernetzung und Fahndung nach Personen hat der G20-Gipfel sicherlich neue Maßstäbe gesetzt. Selbst wenn wir sehen, wie wenig vom ursprünglichen Verfolgungseifer übrig geblieben ist – für die Verfolgungsarbeit von Polizei und Justiz hat der Gipfel sicher einiges beigetragen. Daneben hat der paramilitärische Aufmarsch beim Gipfel sicherlich auch seinen Beitrag dazu geleistet, die Bilder schwer bewaffneter Polizeieinheiten bei Protesten weiter zu normalisieren.
Gegen Polizeigewalt wurde kaum ermittelt – wie ist der Stand bei den Anklagen?
Das ist leider ein trauriges, aber erwartbares Bild. Es wurden 169 Verfahren gegen Polizeibeamt*innen eingeleitet. Mehr als 130 wegen Körperverletzung im Amt. Mittlerweile sind 145 Verfahren eingestellt. Es gibt keine einzige Anklage.
Nur in einem einzigen Verfahren hat die Staatsanwaltschaft tatsächlich einen Strafbefehl erlassen. Dabei hatte jedoch ein Polizeibeamter einen Kollegen von ihm verletzt. Das mag abstrus klingen, aber für die vielen Verletzten durch Polizeigewalt ist das ein weiterer Schlag ins Gesicht. Im Fall eines leicht verletzten Polizisten kommt die Justiz plötzlich ins Agieren. Bei den vielen Opfern der polizeilichen Prügelattacken während des Gipfels regieren der Corpsgeist und die Unantastbarkeit polizeilicher Gewaltexzesse.
Was wäre zum Eindämmen der Polizeigewalt bei zukünftigen Großereignissen in Hamburg nötig?
Bei der Verfolgung polizeilicher Gewalt gibt es ein grundsätzliches Problem. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen fordern daher im ersten Schritt eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle. In der jetzigen Lage müssen wir Betroffenen von Polizeigewalt leider raten, nicht den Weg einer Anzeige bei der Polizei zu gehen. Eine sofortige Gegenanzeige und die Verfolgung der Betroffenen ist die Regel. Im Fall von Polizeigewalt greift leider regelmäßig die Täter-Opfer-Umkehr.
Der Gesamteinsatzleiter des G20-Gipfels, Hartmut Dudde, ist jetzt befördert in Pension gegangen. Erwartet ihr einen Kurswechsel in der Hamburger Polizeiführung hin zu Deeskalation und Dialogbereitschaft?
Nein. Hartmut Dudde war nur das Gesicht und der prominenteste Vertreter der Hamburger Linie. Die Eskalationsstrategie genießt breite Anerkennung innerhalb der gesamten Hamburger Polizei. Deswegen wird es einen Kurswechsel nicht geben. Das Polizeiproblem wird ein Polizeiproblem bleiben.
Weil der rot-grüne Senat den Eskalationskurs der Hamburger Polizeiführung nie hinterfragt?
Ja, politisch wurden die Verfolgung und das harte Durchgreifen noch befeuert. Der rot-grüne Senat ist nur mit Schaum vor dem Mund aufgefallen. Zwei Jahre nach dem Gipfel wurde das Polizeigesetz erheblich verschärft. Die Befugnisse der Polizei für den Eskalationskurs wurden noch ausgeweitet. Die harte Hamburger Linie wird von der Politik voll und ganz mitgetragen und unterstützt. Nicht zu vergessen ist der damals verantwortliche Innensenator Andy Grote nicht nur weiter im Amt, sondern in der Zwischenzeit auch dadurch aufgefallen, dass er wegen einer vermeintlichen Beleidigung seiner Person eine Hausdurchsuchung durchführen ließ. Und ein anderer damaliger Hauptverantwortlicher ist heute Bundeskanzler.
Gibt es im Rückblick Zahlen, wie viele Protestierende bei den Gipfelprotesten von der Polizei verletzt oder traumatisiert wurden?
Genaue Zahlen dazu gibt es nicht. Menschen, die bei Demonstrationen verletzt werden, meiden Krankenhäuser. Ihre Versorgung dort wird von der Polizei regelmäßig zum Anlass genommen, um strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Viele Verletzte haben sich während des Gipfels selbst, durch Bekannte oder Strukturen, verdeckt oder unter einem Vorwand medizinisch versorgen lassen. Auf Grundlage der Anzeigen wegen Polizeigewalt sprach der Senat in der Hamburger Bürgerschaft von 49 Verletzten, davon 21 Menschen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Auch zur Anzahl der traumatisierten Menschen gibt es leider gar keine Zahlen.
Zum fünften Jahrestag liefen fast keine Veranstaltungen?
Auch wenn der Aufschrei nach G20 groß war, so ist doch vieles längst wieder in Vergessenheit geraten in der so genannten Öffentlichkeit. Selbst in der lokalen Presse mehrten sich zuletzt anlässlich der Eröffnung des zweiten Rondenbarg-Verfahrens Stimmen, die die Verhältnismäßigkeit dieser lang andauernden Strafverfolgung infrage stellten.
Natürlich stellte und stellt die Repression nach G20 eine Ausdauerprobe für die Solidaritätsarbeit dar. Die Solidaritätskampagne zu den Rondenbarg-Verfahren zeigte jedoch eindrucksvoll, dass eine breite Unterstützung aus der Linken vorhanden ist; zuletzt sogar wieder stärker als im unmittelbaren Nachgang von G20.
Wir spüren regelmäßig viel Solidarität mit den Betroffenen der Repression. Der Umgang damit und die gemeinsame Auseinandersetzung können auch die politische Linke europaweit und international stärken. Es gibt viele Menschen, die sich mit konkreter Unterstützung, Soliarbeit oder auch Spenden für die Angeklagten der G20-Proteste einsetzen. Als Rote Hilfe stehen wir weiter an der Seite aller, die wegen ihres politischen Protests kriminalisiert werden, und lassen niemanden allein. Auch dabei spüren wir weiter Solidarität über Landes- und politische Spektrengrenzen hinaus.
Vielen Dank!
Die Crime-Datenbank „Schwarzer Block“
18 so genannte Crime-Datenbanken gibt es beim LKA der Hamburger Polizei, doch jene mit dem Namen „Schwarzer Block“ ist bei Weitem die umfangreichste: Sie führt rund 11.000 Personen, darunter 7.578 Beschuldigte und Verdächtige, gegen die ermittelt wird. Gelöscht werden soll sie erst nach Abschluss aller Ermittlungen zum Protest gegen den G20-Gipfel 2017.
Die Datei basiert auf der Ermittlungsarbeit der Sonderkommission (Soko) Schwarzer Block. Seit ihrer Gründung im Juli 2017 unmittelbar nach Ende der G20-Proteste habe die Soko über 3.400 Ermittlungsverfahren gegen mehr als 850 namentlich bekannte Beschuldigte geführt. Zeitweise haben bis zu 180 Mitarbeiter*innen mehrere hundert Hinweise, Spuren sowie knapp 100 Terabyte Fotos und Videos gesichtet und ausgewertet. Weitere Ermittlungsverfahren sind möglich.
Gaston Kirsche