„Irrweg“, „unsolidarisch“, „Drückeberger“ – die Aufzählung der Beschimpfungen und Herabwürdigungen, denen Gewaltfreie und Antimilitarist*innen in bürgerlichen Medien, aber auch seitens erschreckend vieler Linker ausgesetzt sind, könnte beliebig fortgesetzt werden. Alternativen zu Aufrüstung und Mord aufzuzeigen oder auch nur die Waffenlieferungen in die Ukraine zu hinterfragen, gilt im Moment in weiten Kreisen als groteskes Unding. In seinem Beitrag für die Graswurzelrevolution widmet sich Peter Nowak dem aktuellen Diskurs. (GWR-Red.)
Lange Zeit kritisierten Linke die deutsche Politik und auch große Teile der deutschen Bevölkerung für ihren Militarismus und für ihr Großmachtstreben, das im Refrain des „Lieds der Deutschen“, „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt“, sehr gut ausgedrückt wird. Nun hat man den Eindruck, manche Liberale und Linke sehnen sich nach der alten deutschen Pickelhaube zurück, spätestens seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine.
Zurück zur Pickelhaube
Da wirkt es schon so, als ob einige am liebsten nicht nur verbal mit an die Front wollten. Zudem wird die Gelegenheit genutzt, grundsätzliche Kritik am Militarismus zu erledigen.
„Warum ‚Nie wieder Krieg‘ von Anfang an ein Irrweg war“, erklärt uns ein Redakteur des Deutschlandfunk am 19. Mai 2022. Dabei sagt Jörg Himmelreich sehr offen, um welche Botschaft es ihm eigentlich geht: „Die militärische Verteidigungsfähigkeit ist dort überall ein hohes Ziel der nationalen Politik. Der deutsche Verzicht darauf, mit dem Verweis auf die eigene Geschichte, steht im Ausland im Verdacht, andere die Kohlen aus dem Feuer holen zu lassen, um sich selbst nicht zu verbrennen. Dieser ausgeprägte deutsche Pazifismus zulasten Dritter entspringt so einem deutschen Nationalismus, den er eigentlich zu überwinden vorgab.“ (1)
Hier wird den Leser*innen besonders penetrant das Konstrukt vom „deutschen Pazifismus“ vor Augen geführt. Auch die aus Bosnien stammende Publizistin Jagoda Marinić schrieb am 27. Juli 2022 in einer taz-Kolumne gleich im Titel von Deutschland als „Weltmeister im Pazifismus“ (2) – und das ist keineswegs als Lob gemeint.
Geschichtsvergessenheit als erste Bürger*innenpflicht?
Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet in einem Land, das ganz Europa zweimal mit einem Weltkrieg überzogen hat und für die Shoah verantwortlich war, der Pazifismus erneut zum Feind erklärt wird, und das ausgerechnet auch von Menschen, die sich als links verstehen und eigentlich wissen müssten, dass Pazifist*innen in Deutschland immer im Visier von Nationalist*innen aller Couleur standen. Schon 1920 wurde Hans Paasche, der sich durch die Erlebnisse des 1. Weltkriegs vom Nationalliberalen zum Pazifisten gewandelt hatte, von Militaristen erschossen. Gegen den Pazifisten und Kritiker der deutschen Kriegspolitik Theodor Lessing startete die Rechte schon in der Weimarer Republik eine Hetzkampagne, die ihn von seinen Lehrstuhl vertrieb. In seinem tschechischen Exilort wurde er von gedungenen Nazis ermordet. Die Leidenswege der Pazifisten Carl von Ossietzky und Erich Mühsam in den NS-Konzentrationslagern dürften eigentlich bekannt sein.
Doch das hindert einen linksliberalen Trendsetter wie Sascha Lobo nicht daran, im Spiegel vom 20. April 2022 gegen einen angeblichen „Lumpen-Pazifismus“ loszuziehen, wenn Menschen die Lieferung von immer mehr und immer tödlicheren Waffen nicht als Solidarität mit den Menschen in der Ukraine bezeichnen. (3) Merkwürdige historische Verrenkungen sind zu beobachten, wenn nun auf einmal ein deutscher Pazifismus als Feindbild herhalten soll, während gleichzeitig die Militärausgaben in die Höhe schießen und die Bundeswehr in aller Welt in Konflikten mitmischt.
Was ist eigentlich mit Pazifismus gemeint?
Auffallend ist, wie inhaltsleer die Debatte um den Pazifismus geführt wird. Kaum eine*r der Kritiker*innen führt aus, was sie*er damit eigentlich meint, und vor allem, warum ein angeblich spezifisch deutscher Pazifismus kreiert wird. Schließlich sind Politiker*innen, die gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind, deswegen nicht automatisch Pazifist*innen. Es gibt in allen politischen Lagern Stimmen, die gegen Waffen in bestimmten Konflikten sind, weil sie nicht „ihren“ nationalen Interessen entsprechen. Sie haben allerdings nichts gegen Waffenlieferungen in andere Konflikte. Das ist aber kein Pazifismus, sondern Geopolitik.
Es gab nach dem 2. Weltkrieg auch einige Menschen aus dem rechten politischen Spektrum, die deshalb gegen die Remilitarisierung waren, weil die Alliierten die Wehrmacht besiegt hatten und eine neue deutsche Armee auf ihrer Seite kämpfen würde. Historiker*innen sprechen auch von Nationalpazifismus. Viele Militärs hingegen setzten ihre Karriere, die sie in der Wehrmacht unter dem Nationalsozialismus begonnen hatten, in der Bundeswehr und teilweise in NATO-Stäben fort.
Missbrauch des Solidaritätsbegriffs
Es ist daher äußerst geschichtsvergessen, wenn auch manche Linke sich nun verbal auf die wenigen Pazifist*innen einschießen. Es ist zudem eine Parodie des Solidaritätsbegriffs, wenn ausgerechnet denen mangelnde Solidarität vorgeworfen wird, die nicht bereit sind, mit immer mehr Waffen weitere Opfer und Zerstörungen in der Ukraine in Kauf zu nehmen. Es wird auch von manchen Linken so getan, als wäre der höchste Ausdruck der Solidarität, wenn nur genügend todbringende Geräte in die Ukraine geschafft würden, damit sich dort die Menschen weiter gegenseitig umbringen und ihre Städte zerstören.
Sollte linke Solidarität nicht heißen, Menschen auf allen Seiten zu unterstützen, die nicht für Staat und Nation andere Menschen ermorden und andere Städte zerstören wollen? Sollte nicht gerade auch aus den Erfahrungen der Verfolgung von Pazifist*innen in Deutschland die Solidarität mit den entschiedenen Kriegsgegner*innen in allen Ländern zu den Essentials einer linken Praxis gehören?
Keine Pazifist*innen in der Ukraine?
Daher scheint es zunächst erfreulich, dass sich die Teilnehmer*innen aus der außerparlamentarischen Linken Deutschlands bei ihrer Rundreise in die linke Szene der Westukraine auch nach Pazifist*innen erkundigten. Doch die Anarchist*innen, Sozialist*innen, Feministinnen* und Gewerkschafter*innen, die die Besucher*innen dort trafen, stellten klar, dass es die nicht gibt. Als die Gäste aus Deutschland auf den Wissenschaftler Jurij Scheliashenko verwiesen, der in Kiew lebt und Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung ist, wird in der Zeitung analyse & kritik von Mai 2022 die Reaktion der westukrainischen Linken so beschrieben:
„‚Sheliazhenko, ein Linker?‘ Denis Pilashs Augenbrauen rutschen nach oben, als wir ihn am Abend des zweiten Tages darauf ansprechen. ‚Dazu kann ich zwei Sachen sagen: Erstens ist Yurii Sheliazhenko ein Einzelgänger, der keinerlei Verbindung zur Linken hat. Er ist niemand, den man bei linken Veranstaltungen treffen würde. Und zweitens bezeichnet er sich nicht mal selbst als links.‘ Ihm persönlich falle niemand aus der demokratischen und sozialistischen Linken ein, der sich gegen die bewaffnete Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg ausspreche, sagt Pilash. Auch alle Anarchist*innen, die er kenne, seien klar für den militärischen Widerstand gegen die russische Aggression.“ (4)
Ähnliches hätte man nach Beginn des 1. Weltkriegs hören können, wenn Mitglieder der Mehrheits-SPD nach Pazifist*innen in Deutschland befragt worden wären. Bemerkenswert ist aber die Reaktion der Gäste aus Deutschland, die keinen Versuch unternahmen, mit Jurij Scheliashenko in Verbindung zu treten und ihn über die Ukrainische Pazifistische Bewegung zu befragen. Niemand hatte scheinbar auch das Interesse, ihn zu fragen, wie er mit der staatlichen Verfolgung und den Angriffen von Nationalist*innen umgeht, die schon vor Beginn des aktuellen Krieges in der Ukraine Kritiker*innen des ukrainischen Nationalismus das Leben schwer machten. (5)
Die Kriegsmaschine lahmlegen
Dagegen sollte bedingungslose Solidarität mit allen, die gegen jeden Krieg agieren, die desertieren, überall den Transport von Waffen blockieren und die Zucker in den Tank streuen, zu den Selbstverständlichkeiten einer Linken gehören, die sich selbst noch ernst nimmt.
Sie sollte zudem die bereits lange diskutierten Konzepte der gewaltfreien Verteidigung besser bekannt machen als Alternative dazu, in einen Konflikt zwischen zwei hochgerüsteten Armeen noch mehr Waffen zu pumpen. Damit würde auch verhindert, dass der Pazifismusbegriff inhaltlich entleert wird und im wahrsten Sinne zum Pappkameraden einer bellizistischen Linken wird, die mit der NATO ihren Frieden gemacht hat.
(1) https://www.deutschlandfunkkultur.de/zeitenwende-aussenpolitik-pazifismus-krieg-100.html
(2) https://taz.de/Intellektuelle-zum-Krieg-in-der-Ukraine/!5867320/
(3) https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356. Mit Fakten nahm es Lobo bei seiner Pazifismus-Beschimpfung nicht genau, weshalb sich Spiegel-Online zu zwei Richtigstellungen veranlasst sah.
(4) Jan Ole Arps, Sebastian Bähr, Nelli Tügel: „Im Mahlwerk der Geopolitik“, analyse & kritik vom 12. Mai 2022, https://www.akweb.de/ausgaben/682/was-wollen-linke-in-der-ukraine-solidaritaets-delegation-in-lwiw/
(5) Ein Beispiel für die anhaltende Verfolgung von Pazifist*innen durch den ukrainischen Staat ist der Fall von Ruslan Kozaba, der 2015 wegen seiner Kritik am Krieg im Donbas inhaftiert wurde und seither immer wieder deshalb angeklagt wird. Im September 2022 sind zwei weitere Prozesstermine angesetzt.
Peter Nowak ist Mitautor des Buches „Nie wieder Krieg ohne uns. Deutschland und die Ukraine“, das vor wenigen Wochen im Verlag Edition Critic erschienen ist (https://www.editioncritic.de).