Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie (Hg.): Atomkraft – nein danke! 50 Jahre Anti-AKW-Bewegung. Eine Geschichte erfolgreichen Widerstands, Ökobuch Verlag, Rastede 2022, 672 Seiten, 28,00 Euro, ISBN: 978-3-947021-25-3
Dieses Buch ist groß und schwer wie ein Atlas. Es ist auch wunderbar solide gebunden, so dass es sicher viele Jahre lang hält. „Atomkraft – nein danke!“ feiert fünfzig Jahre Anti-AKW-Bewegung, Untertitel: „Eine Geschichte erfolgreichen Widerstands“. Die Herausgeber berufen sich auf ein ähnliches Buch, das sie vor 25 Jahren zum entsprechenden Jubiläum veröffentlicht haben. Diesmal ist der Triumph noch größer: Die Atomkraft in Deutschland ist am Ende, die erneuerbaren Energien laufen den fossilen den Rang ab.
Üppig bebilderte Chronik
Die Macht der Bilder: Wer das Buch aufschlägt, ist fasziniert von den vielen Fotos, die meisten von Günter Zint, der mit seiner Kamera immer wieder im Zentrum des Widerstands agierte, ob in Wackersdorf, Gorleben oder anderswo. Gleich zu Beginn führen vier doppelseitige Großfotos ins Thema ein: Untergehakte Massen junger Menschen vor der Räumung der „Republik Freies Wendland“, Brutalität der Polizei, Kletterkünste, Menschenkette.
Zentrum des Buches ist eine Chronologie seit 1971, eingerahmt von großen Aufsätzen: Reimar Paul, der überhaupt die meisten Textbeiträge beigesteuert hat, liefert die Einleitung, den Schluss machen Artikel von Wolfgang Ehmke, Ursula Schönberger, Jochen Stay, Dieter Rucht und anderen. Sie alle sind seit Jahrzehnten engagiert im Widerstand und wissen, wovon sie reden. Und sie werfen auch einen Blick auf die Alternativen zur Atomkraft sowie den Einfluss der Anti-AKW-Bewegung auf die gegenwärtige Klimaschutzbewegung.
Die Chronologie wird aufgelockert nicht nur durch die schon erwähnten Fotos, sondern zusätzlich durch Würdigungen von herausragenden Persönlichkeiten der Bewegung, es sind insgesamt 15, darunter Robert Jungk, Jens Scheer, Marianne Fritzen, Walter Mossmann, Karin Wurzbacher, Cécile Lecomte. Außerdem werden „Brennpunkte“ vorgestellt, also Orte, die die Problematik, aber auch die Bewegung geprägt haben, darunter Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf, Morsleben, Tschernobyl, Fukushima und am Schluss der Ukraine-Krieg. Der Atomunfall von Harrisburg hat keinen eigenen Artikel erhalten, wird aber in der Chronologie erwähnt.
Vielfalt und Konfliktlinien
Mancher und manche wird die Chronologie und die Fotos auf der Suche nach Aktionen durchstöbern, bei denen er oder sie mitgemacht hat, und vielleicht enttäuscht sein, dass die eigene Aktion nicht so gewürdigt wird, wie sie es verdient. Auf der anderen Seite fördert das Studium der Chronologie aber auch Fakten zu Tage, die die enorme Vielfalt und Bandbreite des Widerstands anschaulich machen: Demonstrationen, Menschenketten, Leser*innenbriefe, Eingaben, Klagen, Sabotage, Bauplatz- und Gebäudebesetzungen, spektakuläre Kletteraktionen und und und. Daneben die kleinen Dinge, die im Alltag zum Widerstand gehörten: Regelmäßige Treffen, Recherche, Büchertische, Geldsammlungen … Neu war für mich, dass es schon einmal ein Tribunal gegen RWE gab.
Ausführlich kommt immer wieder die Zerrissenheit der Bewegung in „Gewaltfreie“ und „Gewaltbereite“ zur Sprache. Über all dem Ärger und Frust, der in den vielen Jahren entstanden ist, geriet aber das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen. Die Staatsgewalt, die, wie es irgendwo heißt, sich über lange Zeit geradezu zum Büttel der Atomindustrie gemacht hat, wurde vorsichtiger, und als ich vor einer Reihe von Jahren zu einer Blockade des Zwischenlagers ins Wendland kam, hatte ich den Eindruck, dass man sich dort die Polizei recht gut erzogen hatte: So viel Rücksicht und Vorsicht von Seiten der Beamt*innen hatte ich nicht erwartet.
Wahre Fundgrube
Wenn ich das Buch durchstudiere, schwirrt mir aber auch der Kopf von all den Gefahren, die die Menschheit für den Rest ihrer Geschichte beschäftigen werden. Die Verantwortungslosigkeit, mit der weltweit atomarer Müll produziert wurde und noch wird, vom Uranabbau über die Strahlenschäden beim Betrieb eines AKW bis hin zum Verbuddeln des Mülls in „sichere“ Bergwerke, kann nur kalte Wut hervorrufen.
Der Anhang des Buches umfasst eine Graphik zu den Laufzeiten der einzelnen AKWs, eine Karte der Orte atomaren Mülls, wichtige Adressen sowie Literaturangaben. Leider fehlt ein Sach- und Personenverzeichnis. Und dass auf den letzten Seiten gleich zwei wunderschöne, große Fotos ein- und dieselbe, sicherlich verdiente Aktivistin zeigen, ist bestimmt ein Versehen. Das ist aber auch meine einzige Kritik an diesem Buch, das ein Standardwerk und eine wahre Fundgrube genannt werden kann. Daneben behalten aber andere Bücher wie etwa „Die Anti-Atom-Bewegung“ aus dem Verlag assoziation a ihren Wert, weil sie mit Erfahrungsberichten aufwarten, die mehr in die Tiefe gehen.