Entgegen dem Eindruck, den das mediale Getöse erweckt, herrschen in der Ukraine keineswegs einhelliger Hurra-Patriotismus und Kriegsbegeisterung. Immer mehr Männer versuchen, sich durch Flucht dem Kriegsdienst zu entziehen – und zunehmend wird die internationale Presse darauf aufmerksam. Es ist bisher nur ein zartes Pflänzchen individueller Subversion, doch weckt es Hoffnung auf eine wachsende Kriegsmüdigkeit und Verweigerungshaltung der Bevölkerung auf beiden Seiten, die das Blutvergießen beenden könnten. (GWR-Red.)
In der Geschichte der Kriegsdienstverweigerung ist die aktuelle Lage der ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 seit Beginn der russischen Aggression im Februar ziemlich einzigartig: Während der ukrainische Staat zur Flucht ukrainischer Frauen und ihrer Kinder in die EU-Nachbarländer aufgerufen hat, dürfen diese Männer nicht ausreisen, auch dann nicht, wenn sie noch nicht für den Kriegsdienst in der ukrainischen Armee herangezogen werden. Es reicht, dass ihr Potenzial für die ukrainische Armee im eigenen Land bereitsteht.
Doch es mehren sich Fälle von Männern, die vor allem durch den Übertritt der Grenze zwischen dem Südwesten der Ukraine und Rumänien, entlang des Flusses Theiß in den Karpaten, dem Zwang, im Land zu bleiben, und dem potenziellen Kriegsdienst entfliehen wollen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr erhalten diese Flüchtenden, mitunter sind darunter Deserteure, Aufmerksamkeit, selbst vereinzelt in bürgerlichen Tageszeitungen. Es sind derzeit noch seltene journalistische Lichtblicke gegen den Pro-Kriegs-Einheitsbrei der herrschenden Medien.
„Man kann mir viel von Patriotismus erzählen“
So berichtete die französische Tageszeitung „Le Monde“ am 18. August 2022 über kriegsunwillige ukrainische Männer, die beim illegalen Grenzübertritt nach Rumänien von der ukrainischen Grenzpolizei festgenommen wurden, wie etwa ein Familienvater aus Kiew, der zu seiner Frau und seinen zwei Kindern, die seit März in Portugal untergekommen sind, flüchten wollte. Er hatte vor seiner Festnahme bereits mehrere Anläufe unternommen: „Ich hatte es weiter flussabwärts versucht, aber da waren Polizisten am Ufer. Ich habe es auch zu Fuß über die Berge versucht, aber ein Alter, den ich in einem Dorf getroffen habe, hat gedroht, mich zu denunzieren, falls ich nicht umkehre. Aber meine Familie in Portugal braucht Geld, ich kann ihr mit meinem ukrainischen Lohn nicht ausreichend helfen.“
Später nennt er dem französischen Reporter Jean-Baptiste Chastand einen weiteren Grund: „Wenn dich deine Kinder, die du seit Langem nicht mehr gesehen hast, anrufen und zu weinen anfangen, kannst du kaum beschreiben, was das mit dir macht. Man kann mir viel von Patriotismus erzählen, aber wenn man das erlebt, ist das etwas anderes. Und in meinem unmittelbaren Umfeld hat mich niemand dafür kritisiert.“
Manche der Flüchtenden versuchten, die Grenzposten zu umgehen, andere gaben sich als Autoaufkäufer in europäischen Nachbarländern aus, wodurch sie manchmal eine befristete Ausreisegenehmigung erhielten. Nach Angaben der ukrainischen Grenzpolizei, so der Bericht, wurden seit Kriegsbeginn 6.400 Männer zwischen 18 und 60 Jahren beim Fluchtversuch nach Rumänien festgenommen. „Einige hatten sich als Frauen verkleidet, andere haben versucht, sich in Fahrzeugen zu verstecken.“ (1) Die Dunkelziffer derer, die es geschafft haben, ist unbekannt.
Denunziation, Diffamierung und Repression
In der ukrainischen Grenzpolizei gibt es ausufernde Korruption. Ein Jugendlicher hat dem französischen Journalisten erzählt, sie kämen für 2.000 Euro an den Beamt*innen vorbei, ein calvinistischer Priester sprach sogar von nur 500 Euro Durchlassgeld.
Trotz großem Verständnis im familiären Umfeld werden die Flüchtenden auf höchster ukrainischer Staatsebene diffamiert. Ende Mai reagierte Präsident Wolodymyr Selenskyj im Fernsehen auf eine von 25.000 Menschen unterzeichnete Petition für die Aufhebung des Ausreiseverbots für Männer. Er verlautete, das sollten sie mal den Eltern ins Gesicht sagen, die ihre Kinder für die Ukraine verloren hätten. (2)
Die gefangenen Fluchtwilligen wurden vor Gericht zu umgerechnet 226 Euro verurteilt; schlimmer noch ist die Übermittlung ihrer Personalien an die Militärbehörden. Wenn sie dort als kriegstauglich eingestuft werden, können sie sofort an die Front kommen.
Die Grenzschützer*innen arbeiten auch gegen Schleuser*innen. Ende Mai fassten sie einen Jugendlichen aus einem Grenzort, der Fluchtwillige für 1.500 Euro ins Ausland bringen wollte. Er bekam dafür drei Jahre Knast. Auf den Busbahnhöfen überwacht Zivilpolizei ankommende Einzelpersonen und die Fahrkartenver-käufer*innen, die alle schwören, dass es keine Schleuser*innen mehr gebe. Die Behörden behaupten, dass in der gesamten Ukraine „170 Strafprozesse wegen illegaler Personentransporte über die Grenze anhängig sind“. (3)
In einer Gegend, in der die Grenze lang und gefahrvoll ist, wurden entlang des Flusses Theiß am Boden nur Stacheldrahtrollen angebracht, die leicht überwindbar wirken. In Wirklichkeit fehlen den Beamt*innen Jeeps und Drohnen, um eine effiziente Überwachung durchführen zu können, jammert ein Grenzer gegenüber dem französischen Journalisten. In den benachbarten Bergen jage er quasi den ganzen Tag Deserteure.
Hinzu kommt, dass auf beiden Seiten der Grenze – ein Überbleibsel aus Habsburger Zeiten – Rumänisch und Ungarisch Sprechende leben, die zudem die alten Schmuggelwege noch gut kennen. Ein Bürgermeister aus dieser Region meint beschwichtigend, so viele würden gar nicht abhauen – und wenn, dann seien das Leute, die nicht die psychische Verfassung für den Kriegsdienst haben. „Sie sind nicht dafür geschaffen, mit Waffen zu kämpfen. Und wenn sie blieben, würden sie nur auf einen Waffenstillstand mit den Russen hinarbeiten, um jeden Preis.“ (4)
Wenn die Geflüchteten einmal auf rumänischem Territorium sind, sind sie fast alle Sorgen los. Ein Asylantrag in Rumänien genügt, um jede Rückführung in die Ukraine unmöglich zu machen.
Frankreich: Auch kommunistische Presse berichtet über Kriegsdienstverweigerer
Doch nicht nur die bürgerlich-liberale Presse in Frankreich berichtet über Kriegsdienstverweigerer. Ganz im Gegensatz zu manchen pro-russischen, wagenknechtschen Linken in der BRD interviewte sogar die kommunistische Tageszeitung „L’Humanité“ sowohl einen russischen als auch einen ukrainischen Pazifisten, die sich dabei klar gegen den Krieg aussprechen. (5) Oleg Bodrow, russischer Ökologie-Aktivist und Mitglied des Internationalen Friedensbüros, meint, dass sehr hohe Todeszahlen in Russland zu einem psychologischen Schock führen könnten. Schon jetzt weigerten sich viele russische Soldaten, ihren Kriegsdienst in der Ukraine auszuüben. Das beweise die Tatsache, dass die russische Armee junge Leute mit einer Prämie von 2.200 Euro pro Person in die Armee locken muss. (6)
Und der in graswurzelrevolutionären Kreisen bekannte Jurij Scheliashenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung (UPM), der u. a. im Videoseminar vom 28. Juni 2022 über „Zivilen Widerstand in der Ukraine“ zu sehen war (7), erklärt im Interview mit Pierre Barbancey und Vadim Kamenka von „L’Humanité“, dass Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten begangen werden: „Jeder Krieg, auch ein so genannter Verteidigungskrieg, verletzt die Menschenrechte.“
Zu den Kämpfen um das AKW in Saporischschja merkt Jurij an, die russische Armee übe dort die Kontrolle aus und die Ukrainische Armee greife es an: „Der ukrainische Verteidigungsminister hat mindestens einen Angriff mit Drohnen zugegeben.“ (8) Und zur Entwicklung der Kriegsbereitschaft in der Ukraine sagt er: „Die Zahl der Leute, die an einen schnellen Sieg glauben, ist zurückgegangen. Viele Leute verstehen, dass die Ukraine einem langfristigen Desaster entgegengeht, und sie suchen nach Mitteln, um das Land zu verlassen.“ Auch er nennt die Zahl von 6.000 kriegsdienstpflichtigen Männern, die ins EU-Ausland zu flüchten versuchten und festgenommen wurden. „Die Lage ist besonders schlimm, weil die gegenwärtige Gesetzgebung keine legale Kriegsdienstverweigerung (KDV; L. M.) erlaubt.“ (9) Das ist neu; vor dem Krieg gab es in der Ukraine ein Recht auf KDV.
Motive für die Kriegsflucht junger Männer
Nicht nur in der französischen Presse scheint die monotone Pro-Kriegs-Berichterstattung langsam aufzubrechen, je länger der Krieg dauert. Auch das „Zeit-Dossier“ vom 11. August kann als hoffnungsvolles Beispiel dafür dienen. In ihm werden kampfunwillige und geflüchtete einzelne Russen und Ukrainer porträtiert, die es ins EU-Gebiet oder sogar nach Berlin geschafft haben. Reporterin Jana Simon interviewt in Ungarn den ukrainischen Kriegsgeflüchteten Ilja Owtscharenko, der in einem TikTok-Video das ukrainische Zwangsgesetz verurteilt, nach dem Männer unter 60 nicht ausreisen dürfen: „Pazifisten oder Christen, die nach dem Grundsatz ‚Du sollst nicht töten‘ leben, müssen das Recht haben, die Kriegsgebiete zu verlassen. Das ist ein Menschenrecht.“ (10)
Auch Jana Simon gibt die Zahl von 6.400 beim Fluchtversuch gefassten wehrpflichtigen Ukrainern wieder, die schon im „Le Monde“-Bericht genannt wurde. Die interviewten Ukrainer geben ganz einfache, aber überzeugende Gründe für ihren Unwillen, militärisch zu kämpfen, an. Owtscharenko erklärt: „Patriotismus halte ich grundsätzlich für eine gefährliche Ideologie. Es gibt keinen guten Patriotismus.“ Und er positioniert sich gegen den Grundsatz der Landesverteidigung: „Es ist unmoralisch, andere Menschen umzubringen, um unsere Frauen und Kinder zu schützen. Es ist grausam und dumm, Menschen zu töten, um Gebiete zu verteidigen.“
Selbstverständlich spricht er sich auch gegen Waffenlieferungen aus westlichen Staaten aus. „Das lässt den Krieg noch mehr eskalieren.“ (11) Owtscharenkos Video wurde von 180.000 Menschen angesehen.
Es sind Einzelfälle von Kriegsdienstverweigerern aus Russland und der Ukraine, über die in der „Zeit“ berichtet wird. Aber immerhin werden Rudi Friedrich und Connection e. V. erwähnt, die zusammen mit Pro Asyl eine Telefon-Beratungshotline für internationale Kriegsdienstverweigerer eingerichtet haben. (12)
In der BRD dürfen russische Kriegsdienstverweigerer derzeit auf Asyl hoffen, ukrainische Zwangsverpflichtete jedoch nicht: Das generelle Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird plötzlich selektiv gehandhabt. Als Asylgrund gilt Flucht vor Kriegsdienst nur, wenn sie einen Soldaten davor bewahrt, sich an einem völkerrechtswidrigen Angriff zu beteiligen; also gilt das für ukrainische Männer nicht. „Allerdings genießen Ukrainer derzeit einen vorübergehenden Schutz aus humanitären Gründen in der EU. Nicht nur Frauen und Kinder, sondern auch ankommende Männer dürfen bleiben.“ (13)
(1) Jean-Baptiste Chastand: „À la frontière roumaine, ces Ukrainiens qui ne veulent pas combattre“, in: Le Monde, 18. August 2022, S. 3.
(2) Selenskyj, nach: Chastand, ebd.
(3) Zit. nach: Chastand, ebd.
(4) Wasil Yovdil, Bürgermeister der Grenzstadt Solotwyno, zit. nach: Chastand, ebd.
(5) Pierre Barbancey/Vadim Kamenka: „Nos deux pays assistent à la mort de leur jeunesse“, Interview mit Jurij Scheliashenko und Oleg Bodrow, in: L’Humanité, 24. August 2022, S. 2–4. Dank an Silke von der Red. für Hinweis und Zusendung des Artikels.
(6) Oleg Bodrow, nach Barbancey/Kamenka, a. a. O., S. 4.
(7) Vgl.: http://www.dfg-vk-hessen.de/
bildungswerk/ziviler-widerstand-ukraine .
(8) Scheliashenko, zit. in: Barbancey/Kamenka, a. a. O., S. 3.
(9) Scheliashenko, a. a. O., S. 4.
(10) Ilja Owtscharenko, zit. in: Jana Simon: „Wir nicht“, in: Zeit, 11. August 2022, S. 13.
(11) Owtscharenko, a. a. O., S. 14.
(12) https://www.Connection-ev.org/get.out.2022 .
(13) Simon, a. a. O., S. 14.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
Wir freuen uns auch über Spenden auf unser Spendenkonto.