Queerisierung der Geschichte: Die NS-Verfolgung polnischer LGBTQIA-Personen erforschen

Interview mit der Historikerin Joanna Ostrowska

| Interview: moku

Joanna Ostrowska ist eine polnische Historikerin und LGBTQIA-Aktivistin. In ihren Büchern veröffentlicht sie die Ergebnisse ihrer Forschungen zu sexueller Zwangsarbeit und zur Verfolgung psychosexueller Minderheiten bzw. homosexueller Männer während des Zweiten Weltkriegs. Im ersten Teil des Interviews mit der Graswurzelrevolution, der in der GWR 471 erschien, stellte sie einige Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus vor und deckte die Mechanismen der NS-Bürokratie auf. Im jetzigen zweiten Teil reflektiert Joanna Ostrowska ihre Arbeit als Historikerin und die Bedeutung ihrer Forschungen für die Geschichtsschreibung und für die heutige Situation der LGBTQIA-Menschen in Polen. Für ihr Buch „Sie. Homosexuelle während des Zweiten Weltkriegs“ wurde sie in der Kategorie Publikumspreis mit dem Nike-Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. (GWR-Red.)

 

GWR: Wo und wie hast du die Materialien zu deinen Büchern gefunden? Mit welchen Schwierigkeiten hattest du während der Arbeit zu tun?

Joanna Ostrowska: Die Suche nach Dokumenten ist natürlich ein mehrjähriger Prozess. Von Anfang an habe ich versucht, in mehrere Richtungen zu arbeiten. Beim Sammeln von Material über sexuelle Zwangsarbeit und im weiteren Sinne über intime Beziehungen während des Krieges sammelte ich Unterlagen über „Rosa Winkel“-Häftlinge (1) bzw. Männer, die homosexuell gelesen wurden, und nicht-heteronormative Menschen. Als ich auf eine Sammlung von Briefen von Menschen stieß, die zur Zwangssterilisation verurteilt wurden, oder von deren Familien, konnte ich nicht wegsehen. Ich werde nie den Brief von Martha Halm vergessen, in dem sie um Hilfe für ihre Tochter Erika bat, die nach der Sterilisation Schmerzen hatte. Jeder neue Fund war ein Ausgangspunkt für weitere Recherche. Meistens begann ich mit den Lagerakten und versuchte dann, die Biografien aus der Zeit vor der Inhaftierung und, wenn möglich, nach der Entlassung aus der Strafvollzugsanstalt zu vervollständigen.
Ich habe versucht, die zahlreichen Gerichts-, Gefängnis- und Lagerdokumente mit Familienarchiven abzugleichen, und ich habe so weit wie möglich nach persönlichen Dokumenten gesucht – Tagebüchern, Interviews, Briefen. Ich habe die Geschichte von Erich und Józef aus Tübingen erwähnt. In diesem Fall ist es uns dank der Unterstützung von Udo Rauch vom Stadtarchiv Tübingen gelungen, eine Sammlung von Gedichten zu finden, die Erich im Gefängnis geschrieben hatte, als er seine Strafe verbüßte. Dank dieses Zufalls konnten wir die Biografie vervollständigen. Erich und Józef sind nicht nur Protagonisten meines Buches, sondern ihre Geschichte wurde auch Teil der Ausstellung „Queer durch Tübingen“ (Udo Rauch, Karl-Heinz Steinle), die bis Juli im Stadtmuseum zu sehen war. (2)
Im Laufe von etwa einem Dutzend Jahren, in denen ich in Staatsarchiven und Gedenkstätten in Polen und im Ausland recherchiert habe, bin ich mehrfach mit unangenehmen Situationen konfrontiert worden, die mit dem von mir recherchierten Thema zusammenhingen. Unanständige – oft homophobe und sexistische – Bemerkungen, Versuche, Unterlagen zu verstecken, abgewiesene Kontaktversuche sind nur einige der Methoden, die mich von der weiteren Arbeit abhalten soll(t)en. Ohne die Hilfe und Unterstützung vieler deutscher Historiker:innen und Stiftungen hätte ich wahrscheinlich nicht jedes dieser Projekte zu Ende bringen können.
Wie auch immer, die „Schwierigkeiten bei der Durchführung dieser Forschung“ sind ein Thema für ein separates Buch, das ich in ein paar Jahren als Zusammenfassung von zwei Jahrzehnten Forschung zu diesem Thema in Polen zu schreiben gedenke.

Jedes Opfer wurde katalogisiert, Dokumente wurden gesammelt. Wurden diese Dokumente nach dem Ende des Kriegs weiterverwendet?

Die deutschen Dokumente wurden nach dem Krieg von den polnischen Behörden nicht verwendet, aber Gerüchten wegen „unmoralischer Handlungen“ während des Krieges und der Besatzung wurde nachgegangen. Dies galt sowohl für nicht-heteronormative Personen als auch zum Beispiel für Frauen, die verdächtigt wurden, sexuelle Beziehungen „zum Feind“ zu unterhalten.
Wie ich schon erwähnt habe, wurde Artikel 207 (3) bereits zwei Jahre nach dem Krieg angewendet. Die Bürgermiliz und später auch der Sicherheitsdienst haben während der gesamten kommunistischen Ära nicht-heteronormative Menschen katalogisiert. Wir haben Listen von „Schwulen und Lesben“ aus den frühen 1960er-Jahren. Die Namen meiner Protagonist:innen stehen von Anfang an darauf. Teofil Kosiński war unter ihnen. Das Fehlen von Zeitzeug:innenberichten hing also auch mit der Angst vor erneuter Überwachung zusammen. Claudia Schoppmann verwendet den phänomenalen Begriff „Zeit der Maskierung“ für die Zeit des Nationalsozialismus. Im Nachkriegspolen wurde die Verschleierung fortgesetzt, auch wenn das Gesetz auf den ersten Blick intime Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts nicht unter Strafe stellte.

In Polen bist du Pionierin in diesem Bereich, aber in den Niederlanden oder Deutschland wurden solche Forschungen seit Ende der 1980er geführt. Wie sah die Zusammenarbeit mit deinen Kolleg:in-
nen aus, z. B. mit Robert Sommer?

Seit Beginn meiner Arbeit habe ich versucht, in ständigem Kontakt mit Forscher:innen außerhalb Polens zu stehen. In den Danksagungen des Buches „Sie“ erwähne ich eine ganze Reihe von Namen von Personen, insbesondere aus Deutschland und Österreich, ohne die ich meine Forschungen nicht hätte durchführen können. Dank ihrer Unterstützung und Hilfe konnte ich viele Male aus der kreativen Sackgasse herauskommen.
Bevor „Sie“ entstand, veröffentlichte ich gemeinsam mit Lutz van Dijk und Joanna Talewicz-Kwiatkowska „Erinnern in Auschwitz“ – die erste in polnisch-deutscher Zusammenarbeit entstandene Publikation zur queeren Geschichte und Erinnerung an nicht-heteronormative Menschen im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau. Dank dieses Projekts war es möglich, Forscher:innen aus Polen und Deutschland zusammenzubringen. Ich glaube, dass wir nur so in der Lage sind, im politischen Sinne effektiv zu handeln, uns gegenseitig zu unterstützen und Erfahrungen auszutauschen.
Wenn es um das Thema sexuelle Zwangsarbeit geht, war die Hilfe und Unterstützung von Robert Sommer für mich entscheidend. Wir lernten uns 2007 während meines Stipendiums an der Berliner Humboldt-Universität kennen. Seitdem habe ich ihn für alle neuen Quellen, Dokumente und Erkenntnisse konsultiert. Dank ihm habe ich nicht aufgegeben und meine Forschungen fortgesetzt, trotz des Widerwillens vieler Professor:innen an polnischen Universitäten. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Bei der Erstellung von „Verschwiegen“ ging es mir nicht nur darum, neue Quellen aufzuzeigen, sondern auch darum, meine Erkenntnisse in die von Robert vorgeschlagene Erzählung zu integrieren.
In meiner Arbeit versuche ich auch, auf bereits „abgeschlossene“ Biografien zurückzukommen. Es ist mir gelungen, neue Fakten über Karl Gorath und seinen geliebten Zbigniew zu ermitteln. Ich arbeite an der Nachkriegsbiografie von Teofil Kosiński, die sehr viel komplexer ist. Ich habe sogar auf die berühmten Fotos aus dem KZ Sachsenhausen und dem KZ Buchenwald zurückgegriffen, die oft als Visualisierung der Häftlinge mit dem „Rosa Winkel“ verwendet werden, um festzustellen, wer wirklich darauf abgebildet war. Letztendlich beruhen jedoch alle diese Aktivitäten auf der Zusammenarbeit mit Forscher:innen von außerhalb Polens. Dank dieser Kontakte kann ich weiterarbeiten. Ich werde nicht aufgeben.

Wen möchtest du mit deinen Büchern erreichen?

Von Anfang an war es mir ein Anliegen, dass meine Bücher nicht nur einem geschlossenen akademischen Publikum zugänglich sind. Ich glaube, dass es bei der Queerisierung der Geschichte auch um die Inklusion der Leser:innen geht. Im polnischen Kontext versuche ich sicherzustellen, dass jedes Projekt, an dem ich beteiligt bin, auch eine aktivistische Dimension hat. Aus diesem Grund habe ich zunächst dafür gekämpft, dass Übersetzungen von Büchern von Heinz Heger oder Lutz van Dijk und Teofil Kosiński in Polen veröffentlicht werden. Meine Werke sind erst später entstanden. Wie auch immer, das alte Punk-Motto „Denke global, handle lokal“ liegt mir immer noch sehr am Herzen.
Darüber hinaus versuche ich jedoch, einige meiner Publikationen auch in Fremdsprachen zu veröffentlichen. Dank der Stiftung EVZ ist „Mein Führer! Opfer der Zwangssterilisation in Niederschlesien 1934–44“ in drei Sprachversionen – Polnisch, Deutsch und Englisch – kostenlos im Internet verfügbar. Wir haben den Sammelband „Erinnern in Auschwitz“ von Anfang an als zweisprachige Publikation geplant. Wenn alles gut geht, wird „Sie“ nächstes Jahr auf Deutsch im Touro College Berlin/Metropol Verlag erscheinen, dank der Unterstützung von Prof. Stephan Lehnstaedt.

Wie siehst du deine Forschung im Kontext der aktuellen Situation der LGBTQIA-Community in Polen?

Als ich 2005 mein Abenteuer mit der Geschichte der vergessenen Opfer des Nationalsozialismus begann, war mir wohl nicht bewusst, wie anders die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts sich entwickeln würden. Wir alle glaubten, dass rechtliche, soziale und pädagogische Veränderungen nur eine Frage der Zeit seien. Natürlich schreibe ich in der Einleitung zu „Sie“ ganz klar, dass es in Polen seit 1990 immer „zu früh“ für Veränderungen war, wenn es um die LGBTQIA-Community ging. Dieses „zu früh“ wird buchstäblich in allen Bereichen des Lebens wie ein Mantra wiederholt. Für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Eheschließungen, die Adoption von Kindern, das Gesetz zum Recht auf Wahl der Geschlechtsidentität usw. ist es „noch zu früh“. So war es auch beim Anti-Abtreibungsgesetz von 1993. Wir sehen die Auswirkungen heute.
Auf der anderen Seite hat die Regenbogen-Bewegung in Polen unglaubliche Arbeit geleistet, um den Alltag von LGBTQIA-Personen zumindest ein wenig zu verändern. Ich versuche, diese Aktivitäten mit meiner Arbeit zu unterstützen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der Mangel an historischer Queer-Forschung, der fehlende Zugang zu Publikationen und die fehlende Übersetzung von Büchern ins Polnische einen großen Einfluss auf die Geschehnisse in Polen haben – insbesondere seit 2015, als „Recht und Gerechtigkeit“ [Regierungspartei, poln. PIS – Anm. moku] die Parlamentswahlen gewonnen hat.
Gleichzeitig entstand „Sie“ zu einer Zeit, als die katholische Kirche in Polen ihre Kampagne gegen LGBTQIA-Menschen fortsetzte, unterstützt von polnischen Politiker:innen mit Präsident Andrzej Duda an der Spitze. Wenn man die Geschichte des Phantasmas der „homosexuellen deutschen Pest“ zurückverfolgt, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts auftrat, und es mit der „Regenbogenpest aus dem Westen“ vergleicht, die Erzbischof Marek Jędraszewski erwähnt, werden bestimmte Dinge auf gefährliche Weise vergleichbar. Als ob es im Laufe dieser Jahrzehnte nur eines Fingerschnippens bedürfte und alle Dämonen in genau derselben Gestalt zurückkehren.

Woran arbeitest du zur Zeit? Wovon handelt dein neues Buch?

Ich arbeite derzeit an zwei Büchern, die, wie ich bereits erwähnt habe, einfach die nächste Stufe meiner Arbeit zur Queerisierung der Geschichte sind.
Im Jahr 2023 plane ich die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel „Spuren“ – eine Sammlung von zwölf Essays, die mit kleinen visuellen Hinweisen (Fotografien, Zeitungsanzeigen, einzelnen Dokumenten) beginnen, die ich während der Arbeit an „Verschwiegen“ und „Sie“ gefunden habe. Einige Geschichten musste ich weglassen bzw. zeitlich verschieben. Sehr oft hatte ich keine Idee, wie ich mit ihnen umgehen sollte, wo ich nach weiteren Hinweisen suchen sollte. Ich brauchte mehr Zeit für die Forschung.
Sie alle befassen sich mit dem Thema Sexualität während des Zweiten Weltkriegs. Jede Geschichte ist sehr zweideutig, kompliziert und voller Lücken. Ich betrachte „Spuren“ als einen Anhang zu den beiden vorangegangenen Büchern, aber gleichzeitig versuche ich, die vorangegangenen Bücher zu „erweitern“.
Das zweite Projekt befasst sich mit der Geschichte der als „asozial“ bezeichneten weiblichen Häftlinge mit Schwarzem Winkel in den Lagern Auschwitz, Stutthof und Majdanek. Sowohl in „Verschwiegen“ als auch in „Mein Führer!“ habe ich ihre Biografien gestreift. In „Sie“ schreibe ich ausdrücklich, dass dies ein weiterer Schritt ist, die Geschichte auch im Kontext der Nicht-Heteronormativität neu zu schreiben. Im polnischen kollektiven Gedächtnis existieren Frauen, die als asoziale Gefangene oder Kriminelle galten, nicht – sie wurden ausradiert. Eine dieser Frauen war meine Urgroßmutter Władysława (verhaftet wegen illegalen Schlachtens). Ihr und anderen habe ich „Sie“ gewidmet. Nun ist es an der Zeit für eine eigene Studie.
In diesem Projekt interessiere ich mich nicht nur für die Biografien dieser Frauen, sondern vor allem für den Mechanismus der Nachkriegsstigmatisierung und der Auslöschung im kollektiven Gedächtnis. Ich bin sehr beeindruckt von den Arbeiten von Wolfgang Ayaß, Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal („‚Arbeitsscheu und moralisch verkommen‘: Verfolgung von Frauen als ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus“) oder Julia Hörath („‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938“). Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten.
Auch Dr. Joanna Talewicz-Kwiatkowska, die sich mit der Geschichte der Sinti:ze und Rom:nja in Auschwitz beschäftigt, ist für mich eine große Unterstützung bei diesem Projekt. Parallel dazu führen wir ein Projekt über die Geschichte der Romnja in diesem Lagerkomplex durch (Zusammenarbeit mit dem ODIHR (4)). Ich glaube, dass nur diese Art von Patchwork-Zusammenarbeit uns Hoffnung für die Zukunft gibt. Auch im politischen Kontext – im Gegensatz zu dem, was heute in Polen und in ganz Europa geschieht.

Danke für das Gespräch!

(1) Mit dem Rosa Winkel kennzeichneten die Nazis KZ-Häftlinge, die wegen Homosexualität in Haft waren.
(2) Siehe: https://schwaebischer-heimatbund.de/queer-durch-tuebingen-geschichten-vom-leben-lieben-und-kaempfen/ und https://www.queer.de/detail.php?article_id=40077
(3) Artikel 207 des polnischen Strafgesetzbuchs stellte homosexuelle Handlungen nur dann unter Strafe, wenn damit irgendeine Art von „Gewinn“ verbunden war („gewerbsmäßige Unzucht“). Indem jedoch die Strafverfolgungsbehörden „Gewinn“ z. B. auch auf Essenseinladungen oder kleine Geschenke ausdehnten, wurde Artikel 207 zur massenhaften Kriminalisierung von Schwulen und Lesben benutzt.
(4) ODIHR, Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (englisch: Office for Democratic Institutions and Human Rights; Einrichtung der OSCE)

Interview, Übersetzung und Anmerkungen: moku