Wir blicken kurz zurück. Ausgelöst durch Benzinpreiserhöhungen kam es 2019 zu den wohl größten landesweiten Protesten in der Geschichte der islamischen Republik. Protestierende auch aus ärmeren Schichten eroberten die Straßen. Sie zündeten Polizei- und Regierungsgebäude an. Das Regime tötete geschätzt 1.500 Menschen. Die Tage sind heute als „Blutiger November“ bekannt. Man fand gefolterte und ermordete Menschen in Abwasserkanälen und Stauseen.
Als im Januar 2020 das Militär den Flug 752 der Ukraine International Airlines in Teheran mit Flugabwehrraketen abschoss und 176 Menschen starben, sah es nicht danach aus, als ob die Lage sich beruhigen würde. Erst mit dem heftigen Einbruch der Coronapandemie änderte sich die Situation im Land.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Das Missmanagement und die Unwilligkeit des islamischen Regimes führen jedoch von einer Krise in die nächste. Nach der Pandemie folgten im Sommer 2021 die Wasserproteste in Chuzestan. Von der mehrheitlich arabischen Bevölkerung in Chuzestan breiteten sie sich schnell nach Isfahan und darüber hinaus aus. Im Mai 2022 stürzte erneut ein Hochhaus ein, diesmal in Abadan. Was, wenn erst das erwartete „große Beben“ kommt? Lehrkräfte und Ingenieur*innen werden oft monatelang nicht bezahlt und müssen streiken, während die islamischen Stiftungen, Bonyad genannt, großzügig bedacht werden. Während im Land der Frauenanteil in naturwissenschaftlichen Fächern über 50 Prozent liegt, weit höher als in westlichen Industrieländern, predigen alte Mullahs im Fernsehen, dass der Platz einer Frau hinter den Türen ihres Heimes sei und nirgendwo sonst.
Der Funke
Es fehlte nur ein Funke. Mahsa Jina Amini wurde im Polizeigewahrsam getötet. Zeug*innenaussagen vor Ort, Röntgenaufnahmen und Aussagen der Familie belegen dies. Der behandelnde Arzt und die Journalistin Nilufar Hamedi wurden verhaftet.
Aus den Protesten an Jina Aminis Grab in der Provinz Kurdistan erwuchsen schnell landesweite Kundgebungen, und mit der Ablegung des Kopftuches bei ihrer Beerdigung wurde der kurdische Ruf „Jin, Jiyan, Azadî“ (dt. „Frau, Leben, Freiheit“) ins Persische übertragen und zur Parole der Bewegung.
Die Loslösung von Forderungen an das Regime, nach Reformen oder nach der Durchsetzung von Kompromissen und Anführern hat der Bewegung eine Weite und Perspektiven gegeben
Über die Bedeutung der iranischen Frauenbewegung und die Unterdrückungserfahrungen der Iranerinnen mit der Sittenpolizei „Gasht-e Ershad“ wurde bereits viel geschrieben. Ich möchte den Blick auf einen wichtigen Punkt werfen.
Das Ablegen des Hejab als ein Akt der Selbstermächtigung: Nicht nur symbolisch auf Demonstrationen wird das Kopftuch angezündet. In diesen Tagen sehen wir immer mehr Frauen, die in Alltagssituationen ohne Kopftuch unterwegs sind. Studierende an Universitäten heben die Geschlechtertrennung in den Mensen auf. Schülerinnen landesweit legen nicht nur den Hejab ab, sondern entfernen die Abbildungen des Religionsführers Chamenei von den Wänden und reißen sie aus den Schulbüchern. Sie richten sich gegen die Diktatur und die ideologischen Lehrinhalte.
Das Lied „Baraye“ (dt. „Für“) des iranischen Sängers Shervin Hajipour wird zu einer Hymne der jungen Bewegung, zu einem Manifest. Darin werden die künstlerischen Freiheiten, die Umweltprobleme, Tierschutz, die Armut und Straßenkinder, die Misswirtschaft, die psychischen Probleme, Transsexualität, der religiöse Fundamentalismus und die politischen Gefangenen angesprochen. Die Iraner*innen spielen den Song auf den Straßen und nachts aus den Fenstern ihrer Hochhausappartments.
Die Loslösung von Forderungen an das Regime, nach Reformen oder nach der Durchsetzung von Kompromissen und Anführern hat der Bewegung eine Weite und Perspektiven gegeben. Selbstverständlich gehört dazu auch, sich radikal gegen die Manifestationen des Regimes zu wenden und gegen die Staatsgewalt oft mit bloßer Hand zur Wehr zu setzen. Plakate und Wachhäuschen brennen. Graffitis überall.
Eine neue Dimension des Protests
Bemerkenswert ist die Solidarität der Bevölkerung untereinander. Was mit Mahsa Amini begann, bedeutet: Niemand bleibt allein. Ihr Ruf: „Habt keine Angst, wir stehen alle zusammen“. Belutsch*innen im Osten des Landes rufen „Für Kurdistan“ und Kurd*innen im Westen „Die Ehre der Belutschen ist auch unsere Ehre.“ Als die Studierenden der Sharif-Universität brutal von den Sicherheitskräften angegriffen werden, versuchen die Teheraner*innen mit allen Kräften, sich vor Ort zu versammeln oder mit ihren Fahrzeugen die Straßen zu blockieren. Die Iraner*innen haben gelernt, in jedem Video Ort und Datum zu nennen, um Irritationen und Fakenews vorzubeugen. „Die iranische Gesellschaft ist gewachsen, bewusster geworden, … wendet neue Taktiken an“, umschreibt der Popmusiker Dariush im Interview die neue Qualität der Bewegung.
Wir sehen Bilder von Gefangenenbefreiungen und Sicherheitskräfte, die sich vor Angriffen zurückziehen müssen. Selbst wo geschossen wird, stehen Menschen am Straßenrand und rufen „Bisharaf“ (dt. „Ehrlos“). Die Einzelhändler*innen streiken. Als der große Bazar in Teheran schließt, sorgt er für eine Massendemo im Zentrum. Arbeiter*innen in der Petrochemie in Bushehr traten in den Streik. Inzwischen befinden wir uns in der vierten Woche der täglichen Proteste, und die Menschen sind entgegen aller Brutalität des Regimes bisher nicht bereit, die Initiative erneut aus der Hand zu geben.
Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
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