Egal ob in Polen oder hier: Aktivistinnen müssen sich auch in anarchistischen Zusammenhängen gegen patriarchales Redeverhalten, geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung und allgemein gegen männliche Dominanz behaupten – aber es gibt auch positive Entwicklungen. Über Unterschiede und Ähnlichkeiten in den Bewegungen beider Länder hat Cindy Krämer für die Graswurzelrevolution mit der Anarchistin Ewa gesprochen.
GWR: Seit wann bist du in anarchistischen Gruppen aktiv?
Ewa: Seit ich 17 Jahre alt bin, bin ich in der anarchistischen Bewegung aktiv. Als ich noch in Polen lebte, habe ich u. a. in der No-Border-Bewegung und unterschiedlichen Antirepressionsgruppen Rechtshilfe organisiert. Ich nahm auch an Aktionen von Food Not Bombs teil und engagierte mich in der Mieter*innen-Bewegung. In Deutschland bin ich weiter in anarchistischen Strukturen aktiv, u. a. in lokalen feministischen Initiativen.
Wie wurdest du anfangs in den Gruppen aufgenommen?
Ich habe mich für soziale Bewegungen in Lateinamerika interessiert, und da in meiner Heimatstadt damals nur wenige daran Interesse hatten, habe ich durch Zufall Kontakt zu einer Person aus anarchistischen Kreisen bekommen. Da wurde ich auch auf die Geschichte der Zapatistas aufmerksam gemacht, also durch Fotos, Broschüren, Texte etc. Dadurch wurden mir auch die anarchistischen Prinzipien nähergebracht.
Später habe ich gemerkt, dass es so etwas gab wie ein Buddy-System, also eine Person, mit der ich Kontakt aufgenommen hatte, hat mir anarchistische Theorie und Praxis vermittelt und mich in die Strukturen eingebunden. Ich habe dann an unterschiedlichen Treffen und Aktionen teilgenommen, und im Endeffekt wurde ich zu einem aktiven Mitglied der anarchistischen Bewegung.
War dein Buddy ein Mann?
Klar. Die anarchistische Gruppe in meiner Heimatstadt war männerdominiert, aber das ist nichts Neues, denn in jeder Bewegung und Initiative, egal ob in Deutschland oder Polen, sind die Gruppen immer männerdominiert. Das bedeutet, es gibt wenige Frauen, die in der Bewegung bleiben bzw. aktiv sind und überhaupt sichtbar werden.
Um es plakativ auszudrücken: Wenn du eine anarchistische Demo siehst oder daran denkst, dann hast du sofort vor allem Männer vor Augen, die auch meistens in der ersten Reihe marschieren. Ich glaube, es gibt kein besseres Bild dafür.
Du bist ja schon lange aktiv. Woran liegt es, dass du dabeigeblieben bist?
Eine gute Frage, auf die ich keine einfache Antwort habe. Die anarchistischen Prinzipien sind mir sehr wichtig, und ich versuchte und versuche, sie in die Praxis umzusetzen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Gruppenzugehörigkeit, also einfach die Tatsache, dass du um dich herum Leute hast, die die Welt ähnlich wie du sehen, gemeinsame Ziele verfolgen und mit denen du sowohl über ernste Themen diskutieren als auch viel Spaß haben kannst. Aber es war und ist nicht so einfach dabeizubleiben, weil die Strukturen in den anarchistischen Gruppen und Organisationen männerdominiert sind. Das schreckt Frauen meistens ab.
Die von dir angesprochene Männerdominanz – wie drückt sich das aus?
Die Männerdominanz spiegelt sich vor allem in der Struktur der Gruppe wider, wie ich schon gesagt habe, aber auch im Verhalten. Im Verhältnis gibt es mehr Männer als Frauen, also ihre Zahl ist deutlich höher.
Während des Plenums kommen Männer öfter zu Wort und versuchen, ihre Ideen durchzusetzen. Wenn eine Frau zu Wort kommt, wird sie zwar gehört, aber ihre Worte werden nicht so geschätzt. Männer nehmen sich einfach mehr Raum, das bedeutet, sie nehmen sich mehr Zeit zum Reden, sie moderieren meistens das Treffen, da sie in der Mehrheit sind. Aber sie haben auch einfach eine stärkere physische Präsenz im Raum, u. a. durch ihre Mimik und Gestik, ihre Körpersprache ist anders, sie treten selbstsicherer auf. Frauen sind eher zurückgezogen und nur dazu da, um Notizen zu machen; sie nehmen eher die Rolle von Sekretärinnen ein, zum Beispiel.
Das ist nichts Neues, denn Frauen und Männer wurden so sozialisiert, und beiden Seiten ist es manchmal nicht bewusst, dass sie diese Schemata durch ihr Verhalten reproduzieren. Aber das soll auch keine Rechtfertigung für diese Tatsache sein, vor allem in der anarchistischen Bewegung. Man soll darüber sprechen und darauf aufmerksam machen, um diesem Diskriminierungsmechanismus bzw. der Marginalisierung der Frauen in den anarchistischen Initiativen oder Gruppen entgegenzuwirken. Und dabei auch das eigene Verhalten zu ändern.
Es tut sich schon seit Jahren etwas, um diese Situation zu ändern, aber es ist zu wenig. Diese männerdominierte Gruppendynamik muss aufgebrochen werden. Ist es nicht erschreckend, dass die Strukturen der anarchistischen Gruppen heteronormative Strukturen der Gesellschaft widerspiegeln?
Stimmt. Hast du weitere Beispiele neben dem Plenum?
Ich habe festgestellt, dass die Frauen in all diesen Initiativen, an denen ich teilgenommen habe, eine organisatorische Rolle übernehmen. Das bedeutet, dass sie z. B. Veranstaltungen planen und durchführen, während Männer auf der Bühne stehen und sich promoten. Als wir zum Beispiel eine Anti-Polizei-Demo in meiner Heimatstadt organisiert haben, wurden wir vor die Tatsache gestellt, dass die Aufgaben, die eigentlich männliche Mitglieder erledigen sollten, sodass die Demo überhaupt stattfinden könnte, „vergessen“ und nicht umgesetzt worden waren. Und im Endeffekt waren die Frauen diejenigen, die in den letzten Stunden vor der Demo die Lautsprecher und weitere Technik organisieren mussten, während Männer ihre Reden gehalten und sich als – wie man das so schön euphemistisch in anarchistischen Kreisen nennt – „informelle Leaders“ präsentiert und dadurch positioniert haben.
Irgendwie fühlte ich mich wie eine Statistin oder Zuschauerin und nicht als gleichberechtigte Teilnehmerin, eher als Bühnenarbeiterin, die schweigend im Hintergrund steht, denn als Aktivistin. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass die Frauen am Ende die Dinge regeln, quasi diese „dreckige Arbeit“ machen mussten. Frauen fühlten sich der Gruppe gegenüber verantwortlich und führten schweigend ihre Tätigkeiten fort, obwohl sie auch deswegen angepisst waren. Eine solche Aufgabenverteilung trägt dazu bei, dass die Frauen und ihre Arbeit unsichtbar gemacht werden. Aber die Effekte ihrer Arbeit sind ironischerweise sichtbar. Die Demo hat ja doch stattgefunden.
Ich kann mehrere solcher Beispiele nennen. Versteh mich nicht falsch, es soll kein Männer-Bashing sein. Das Problem ist, dass es sowohl Männern als auch Frauen nicht ganz bewusst ist, dass und auf welche Weise diese Diskriminierungs- und Marginalisierungsmechanismen funktionieren. Und wenn es ihnen schon bewusst ist, fehlen praktische Ideen, um es Schritt für Schritt zu ändern.
Du hast das Thema Sozialisation angesprochen. Liegt darin die Ursache, dass Frauen am Ende doch in die Bresche springen?
Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Grund dafür. Vor allem, wenn ich meine oder ältere Generationen anschaue. Ich bin in einer traditionell katholischen Familie aufgewachsen, schon als Mädchen musste ich typisch weibliche Tätigkeiten erledigen, einkaufen, putzen, mich um das jüngere Geschwisterkind kümmern. Das war eine Selbstverständlichkeit, die ich auch verinnerlicht habe und die ich dann später unreflektiert auch in den anarchistischen Gruppen fortgeführt habe. Das resultierte in der Übernahme von zahlreichen organisatorischen Aufgaben in anarchistischen Initiativen.
Mit der Zeit stellte sich heraus, dass es anderen Frauen genauso ging. In manchen Fällen führte es sogar zum Burnout, Rückzug, Selbstzweifel an den eigenen Fähigkeiten und dadurch auch Zweifel an den anarchistischen Prinzipien und ihrer Umsetzung. Irgendwann hast du keinen Bock mehr auf solchen Bullshit. Frauen haben sowieso zu viel zu tun in ihrem Leben. Du bist nicht nur Mutter, Frau, Freundin, Liebhaberin, sondern auch Arbeiterin und dazu Aktivistin. Und in den anarchistischen Strukturen musst du dich weiter um Reproduktions- und Emotionsarbeit kümmern.
Dadurch werden Aktivistinnen in dieser typischen Frauenrolle verstärkt, und durch dieses Verhalten wird die Geschlechterhierarchie in den anarchistischen Strukturen reproduziert. Es ist ein Teufelskreis. Es muss da mehr passieren, es muss mehr Reflexion von beiden Seiten geben. Und es reicht nicht, wenn die Genossen nach dem Plenum das Geschirr spülen oder den Raum aufräumen.
Hast du es in Gruppen thematisiert, oder wurde es von anderen erkannt und angesprochen?
Als mir bewusst wurde, dass die patriarchalen Mechanismen auch in anarchistischen Strukturen reproduziert werden – und ich brauchte selbst viel Zeit, um es zu erkennen –, versuchte ich es mit anderen Genossinnen zu besprechen. Es war keine leichte Aufgabe, ich dachte, ich irre mich vielleicht. Aber als ich damals mit zwei Genossinnen darüber geredet habe, stellte sich heraus, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es war sehr erleichternd für mich, mit jemandem darüber zu sprechen und dies überhaupt zu thematisieren. Dann haben wir angefangen, uns regelmäßig zu treffen, um uns gegenseitig zu unterstützen und über diese Themen zu sprechen.
Es ist auch wichtig, diese Erfahrungen zu teilen. Vor allem von erfahrenen Genossinnen kann man viel lernen. Bei einer Gelegenheit hat eine zu mir gesagt: „Du übernimmst zu viele Aufgaben. Frauen machen das immer. Pass mal auf dich auf.“ Damals habe ich es nicht so ernst genommen, aber trotzdem haben mich solche Aussagen schockiert. Und später stellte ich fest, dass diese Genossin recht hatte. „Wie konnte ich nur so blöd sein?“, habe ich mich selbst gefragt. Denn du kannst für die Idee brennen, aber wenn du nicht vorsichtig bist und nicht auf dich aufpasst, kannst du dich selbst verbrennen. Und Frauen neigen dazu.
Gab es dann einen Punkt, an dem ihr die Männer mit euren Beobachtungen konfrontiert habt?
Das ist auch ein interessantes Thema. Natürlich haben wir Männer mit unseren Beobachtungen konfrontiert. Sie versuchten, es zu bestreiten. Und dabei haben sie unterschiedliche Strategien verwendet. Die (männlichen) Genossen haben auf Kritik meistens mit blöden Witzen reagiert, um es runterzuspielen, oder haben sich beleidigt gefühlt. Manche haben auf die Kritik auch mit Rationalisierung reagiert, indem sie die Schuld an der Situation den Frauen zugeschrieben haben. Sie versuchten dabei zu beweisen, dass solche Zustände in einer anarchistischen Gruppe a priori nicht möglich sind. Durch diese Verdrängung verdrängen sie Frauen selbst, da wir keinen Bock auf solchen Quatsch haben. Aber wenn wir uns in unseren eigenen Gruppen dem Patriarchat nicht entgegensetzen, wie soll es sich dann in der Gesellschaft ändern?
Also klassisches „derailing“ (1) als Ablenkungsmanöver?
Ja. Wenn Frauen schon darüber sprechen, wird ihnen gesagt, dass sie übertreiben oder dass es in dieser Gruppe nicht der Fall ist. „Wir sind ja Feministen, wir unterstützen Frauen“, bekommt man dann zu hören.
Was kannst du in diesem Fall sagen? Es fehlen offensichtlich Kritikfähigkeit und die Bereitschaft, darüber zu diskutieren. Darüber muss man offen sprechen. Aber da fehlen Vertrauen, Mut und Offenheit – auf beiden Seiten. Beide Seiten tanzen vorsichtig auf Zehenspitzen um das Thema herum.
Frauen müssen also letztendlich auch hier die (Aufklärungs-)Arbeit machen? Oder siehst du Bewegung bei den Männern?
Ja, es bleibt an den Frauen hängen. Du kannst ein Feminist sein, aber es bleibt leider nur ein deklarativer Akt, da die Umsetzung hinter den Worten zurückbleibt. Zwischen Deklaration und Umsetzung besteht eine große Kluft.
Meine Bekannte sagte, dass manche Genossen „Feministen ohne Substanz“ sind. Das hört sich hart an, aber andererseits reicht es einfach nicht, an der Demo zum 8. März teilzunehmen. Keiner hat mich je gefragt, wie es ist, eine Frau zu sein, wie es ist, sich jeden Tag mit Diskriminierung, Sexismus und Ausgrenzung auseinandersetzen zu müssen. Da muss schon mehr passieren. Auch seitens Frauen muss mehr passieren.
Es scheint, als ob beide Seiten einer ungeschriebenen Regel folgten: Männer sollen nicht fragen, Frauen sollen nicht antworten. Männer wagen es nicht zu fragen, Frauen sollen es nicht zu wagen zu erzählen. Das ist ein Paradoxon des Patriarchats in anarchistischen Strukturen: Es wird ignoriert, dass das Problem existiert. Auch Frauen möchten es nicht ansprechen und verdrängen das Thema, da die Gruppe und ihre Aktivitäten „wichtiger“ sind. Diese Vermeidungsstrategie trägt dazu bei, dass das Patriarchat weiter in den anarchistischen Strukturen herrscht und Zensur bzw. Selbstzensur weiter bestehen. Es ist traurig, dass es selten dazu kommt, dass der Elefant im Raum angesprochen wird.
Was kann man dann tun?
Frauen brauchen einfach einen sicheren Raum, um über eigene Erfahrungen zu sprechen, um es weiterzutragen und auch in der Gruppe, deren Teil sie sind, so zu kommunizieren, dass es nicht nur wahrgenommen, sondern auch ernsthaft behandelt wird.
Es ist deprimierend, dass du als Frau nicht nur gegen eine patriarchale Gesellschaftsordnung kämpfen musst, sondern auch gegen patriarchale Strukturen in der eigenen anarchistischen Gruppe. Deshalb versuchen Frauen, innerhalb ihrer eigenen Organisation Frauengruppen zu gründen, oder suchen Verbündete außerhalb ihrer eigenen Organisation. Oft wird ihnen das übel genommen und ihnen vorgeworfen, dass sie die Organisation bzw. Bewegung spalten wollen. Blödsinn. Es reicht, wenn man ihnen zuhört und dabei eigenes Verhalten und Stereotype reflektiert. Paradoxerweise suchen Frauen in den anarchistischen Gruppen Zuflucht vor gesellschaftlichen Stereotypen und Schemata, um auch nur wieder das Gleiche zu erfahren. Aber es hilft nur die Auseinandersetzung mit den patriarchalen Strukturen.
Es wäre ideal, wenn die Genossen ihre aktive Unterstützung anbieten würden. Nichtstuerei oder Ignoranz, bzw. das Thema unter den Teppich zu kehren, führen zur Verdrängung der Frauen an den Rand der Bewegung und in der Konsequenz zu ihrer Resignation und dem Rückzug aus der aktiven Teilnahme – zumindest aus gemischtgeschlechtlichen Gruppen. Frauen organisieren sich öfters in eigenen Gruppen, die manchmal zur Selbsthilfegruppe werden.
Haben sich durch die eigenen Frauengruppen neue Impulse für die Bewegung ergeben?
Ja, sicher. Ein gutes Beispiel ist der Frauenstreik 2016 in Polen. Seit dem Frauenstreik sind viele feministische Gruppen entstanden. Das waren unterschiedliche Gruppen: Frauengruppen im engeren Sinn, aber auch solche, an denen sich männliche Mitglieder beteiligen konnten.
Diese Frauen haben auch schon in den Jahren zuvor viele anarchistische, Mieter*innen-, Klima-Initiativen usw. gegründet. Insbesondere in der Mieter*innen- und Arbeiter*innenbewegung sind Frauen die treibende Kraft; dadurch wird ihre Aktivität sichtbar. Sie kriegen auch für ihre Arbeit Anerkennung in der Bewegung und sind sich ihrer Bedeutung in dieser Bewegung bewusst. Sie experimentieren mit unterschiedlichen Aktionsformen, versuchen dabei, breite Gesellschaftskreise zu motivieren und für ihre Ideen zu gewinnen. Dies bedeutet, dass sie auch außerhalb der anarchistischen Kreise agieren – und sie werden nicht selten dafür kritisiert. Sie sind ein gutes Beispiel für die nachwachsende Generation von Aktivistinnen, die immer noch mit den gleichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert werden. Es ist aber ein guter Ausgangspunkt, um die Situation in der anarchistischen Bewegung und Gesellschaft zu ändern.
Sind auch die Aktionsformen dieser Frauen anders gelagert?
Um gehört zu werden, wenden die Frauen radikale Aktionen an, wie z. B. den Aufruf zum landesweiten Frauenstreik. Sie müssen laut und radikal und entschlossen sein, und ebenso ihre Aktionen, um gehört zu werden. Zum Vergleich: Wenn in Polen die Bergarbeiter streiken, ziehen sie vors Parlament, wo sie einen Berg Reifen anzünden; also in dieser Hinsicht war der Frauenstreik eine weibliche Version davon. Er hat die Öffentlichkeit erstaunt; dadurch wurden Frauen und ihre Arbeit, ihr Engagement gehört. Sie wurden ernst genommen. Die neue Generation, also junge Frauen, haben sich dank dem Frauenstreik lokal in Gruppen organisiert, in denen sie nicht nur ihre feministischen Ideale, sondern auch andere Ziele verfolgen.
Nicht vergessen werden darf, dass Frauen meistens eine Opferrolle zugeschrieben wird bzw. sie in diese Rolle gedrängt werden. Dadurch wird ihnen die Handlungsfähigkeit abgesprochen. Das ist leider auch eine Tatsache in der anarchistischen Bewegung. Aber durch ihren Aktivismus und die radikalen Aktionsformen zeigen Frauen, dass es nicht wahr ist, dass sie stark, handlungsfähig und entschlossen, dass sie schlagfertig sind. Dadurch können sie auch andere zur aktiven Teilnahme ermutigen. Es reicht, wenn man Richtung Iran schaut.
Dann scheint es ja nötig zu sein, sozusagen männlich konnotiertes Verhalten zu übernehmen, um sich Gehör zu verschaffen. Unter anderem im Hinblick auf die Mieter*innen-Bewegung scheinen aber klassisch eher weiblich gelesene Fähigkeiten, also Kommunikation und die Hilfe für Nachbar*innen, wichtig zu sein. Da können Männer doch auch noch lernen?
Es gilt, ein bestimmtes Paradoxon zu betrachten. Kommunikation und Networking bzw. Soft-Skills sind ein sehr wichtiger Teil jeder Bewegung, sei es nach innen oder nach außen, und da Frauen meistens die Emotionsarbeit in solchen Gruppen und Initiativen leisten, setzen sie diese Fähigkeiten auch in ihrem nach außen gerichteten Aktivismus ein. Zum Beispiel haben sich die Aktivistinnen der Mieter*innen-Bewegung die ihnen zugeschriebenen typisch weiblich konnotierten Fähigkeiten auch in der politischen Arbeit zunutze gemacht.
In Polen sind vor allem Frauen für das Zuhause verantwortlich, d. h. nicht nur für die Hausarbeit, sondern auch für alle administrativen Tätigkeiten. Sie kümmern sich also um die Rechnungen, beschäftigen sich mit dem Zustand der Wohnung, sie kommunizieren mit den Hausgemeinschaften, Ämtern und Nachbar*innen bezüglich der Wohnsituation. Sobald sich Probleme ergeben, greifen Frauen auf diese Netzwerke zurück, und so haben sie sich z. B. wegen der (Re-)Privatisierung des Wohnraums in Mieter*innen-Initiativen organisiert und sich für bezahlbaren Wohnraum nicht nur für die eigenen Familien, sondern für alle engagiert. Sie stehen im Vordergrund und sind auch erfolgreich. Obwohl ihre aktivistische Arbeit mühselig ist und am Anfang nicht ernsthaft betrachtet bzw. ignoriert wurde, wurde ihr Durchsetzungsvermögen ans Licht gebracht.
Gibt es weitere blinde Flecken auf der Seite der Männer?
Frauen haben eine zusätzliche Rolle in der Bewegung. Sie vermitteln nämlich zwischen der cis-männlichen und der LGBTQ-Welt (2). Ähnlich wie die LGBTQ-Personen werden Frauen an den Rand der Bewegung gedrängt und sind sich ihrer unterprivilegierten Rolle bewusst. Deshalb können sie sich besser in die Situation der LGBTQ-Personen hineinversetzen. Also leisten Frauen auch in dieser Hinsicht Emotionsarbeit. Und dafür ernten sie noch zusätzlich Kritik von beiden Seiten: Einerseits, weil sie „Identitätspolitik betreiben, statt sich auf die wichtigeren Themen zu konzentrieren“. Andererseits, weil sie sich „nicht genug für die Rechte der LGBTQ-Personen einsetzen“.
Die Marginalisierung von Frauen und LGBTQ-Personen ist ein wichtiges Problem, das von anarchistischen Initiativen nicht ausreichend ernst genommen wird. Das ist wieder dieses Paradoxon: Wie kann sich die Gesellschaft emanzipieren, wenn die eigenen anarchistischen Strukturen nicht fähig dazu sind bzw. ihre Mitglieder nicht dazu befähigen?
Nachdem du nach Deutschland gezogen bist, warst du auch dort aktiv. Kannst du Unterschiede zur Situation in Polen beschreiben?
Ich sehe sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zur Situation in Polen. In Polen und in Deutschland gibt es ähnliche Ursachen für die Männerdominanz und die Verdrängung von Frauen und LGBTQ-Personen an den Rand der anarchistischen Bewegung. Jede Frau wird zwar in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlicher Weise mit diesen Problemen konfrontiert. Aber Tatsache ist, dass diese Verdrängung stattfand und immer noch stattfindet. Ich glaube, dass es in jeder Generation geschieht. Es kann auf andere Art und Weise passieren, aber es passiert immer noch.
Es gibt auch kleine Fortschritte – sowohl in Polen als auch in Deutschland – mit dem Ziel, das zu ändern, z. B. Redezeitbegrenzung während des Plenums, sodass alle die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu sagen. Außerdem achtet man mehr auf die Ausdrucksweise, sodass sich niemand betroffen, beleidigt oder ausgeschlossen fühlt. Und das ist gut so, aber trotzdem wird der Kern des Problems nicht definiert, nicht genannt.
Eine der Ursachen dafür ist sehr starke Konfliktvermeidung, vor allem in Deutschland. Man führt hier zwar sehr viele Diskussionen während des Plenums, aber die sind meistens akademisch geprägt, also nicht selten zu verkopft, irgendwie versteinert, von oben herab, und deshalb auch nicht selten langweilig. So entsteht auch eine Wissenshierarchie, also die Genossen-Experten präsentieren Thesen und teilen sie den anderen mit, aber das Ganze ist fernab der Realität. Das alles zusammen hemmt wiederum andere Mitglieder und hält sie von aktiver Teilnahme ab – sie sind unsicher, ob sie manche Themen ansprechen sollen, weil ihnen die richtigen Worte fehlen und weil sie Angst haben, sich zu blamieren oder ausgeschlossen zu werden. Außerdem wissen sie nicht, ob sie etwas überhaupt sagen dürfen. Konsens halt.
Und die Mitglieder der Gruppe wissen selbst, was sie ansprechen sollen und was nicht, wie sie sich über bestimmte Themen äußern sollen und was sie überhaupt denken sollen. Dies führt zur Selbstzensur. Es entsteht „ein aktivistisches Ritual“, wie ich es nenne: Man geht zum Plenum so wie zur Kirche – aus Gewohnheit, weil es so halt ist. Also besser schweigen als ein Fass aufmachen, indem man die strittigen Fragen stellt.
Es fehlt Kritikfähigkeit. Kritik kann auch im Konflikt münden, aber sie ist ein wichtiger Teil der Diskussionskultur. Und Konflikt ist etwas Konstruktives, er muss nur auf die richtige Weise geführt werden. Davon kann die Bewegung nur profitieren. Sonst schaut man bloß in die Vergangenheit statt auch in die Zukunft. Sonst gibt es keinen Raum für neue Ideen, es gibt keine neuen Impulse, es werden keine neuen Praxen diskutiert, entwickelt und ausprobiert.
Und als Anarchist*innen sollten wird uns gegenseitig herausfordern. Nur so können wir der Lebens- und Arbeitsrealität der Menschen nahestehen und nach den in der Praxis umsetzbaren Lösungen oder Ansätzen im Einklang mit den anarchistischen Werten suchen. In Polen gibtʼs da mehr Mut dazu, man ist nicht so dogmatisch. Anarchistischen Idealen soll man folgen, aber dabei nüchtern und pragmatisch bleiben. Dies gelingt Frauen in besonderer Weise.
Führt das vermeintlich liberalere Klima in Deutschland eventuell dazu, sich zurückzulehnen bzw. manche Kämpfe gar nicht mehr zu führen?
In Deutschland sind die Kämpfe zum Teil eingeschlafen. Die Demo zum 8. März ist ein jährliches Ritual mit der ewig gleichen Aufzählung von Forderungen, aber ohne realistische Ideen, sie umzusetzen. Ich meine, diese Forderungen sind wichtig, aber der Weg wird nicht genannt. Außerdem werden Frauen bei solchen Veranstaltungen meistens als passive Opfer der Gesellschaft dargestellt, also quasi wieder als eine Masse ohne Stimme und Handlungsfähigkeit. Dies verstärkt dieses stereotype Bild von Frauen und schadet der Bewegung.
Außerdem gibt es keine Ideen, um Frauen in ihren Forderungen zu vereinen. In einer lokalen Gruppe versuchten zum Beispiel die Frauen, vor allem Akademikerinnen mit Kindern für den Frauenstreik zu gewinnen. Das war ihre Hauptzielgruppe. Dies zeigt, wie weit entfernt von der Lebensrealität vieler Menschen die anarchistische Bewegung ist, und wie akademisch und elitär noch dazu. Es scheint, als habe frau es sich in einer Nische bequem gemacht.
Es fällt auch leicht, denn was in Polen als fortschrittlich gilt, ist in Deutschland schon länger Standard, beispielsweise die Akzeptanz der Homo-Ehe selbst durch die CDU; in Polen dagegen ist dies eine linke Position. Aber man sollte seinen Kopf nicht auf solchen staatlichen Kissen ausruhen.
Danke für das Gespräch!
(1) Derailing oder Derailment bezeichnet eine manipulative Diskussionsstrategie mit dem Ziel, das Gespräch in eine andere als die ursprüngliche Richtung zu lenken.
(2) LGBTQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, and Queer; dt. lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und queer) bezeichnet Menschen, die nicht heterosexuell sind und/oder deren Geschlechtsidentität sich jenseits des binären Geschlechtermodells verortet.