Der Krieg der Türkei gegen die Menschen in Rojava

Interview mit Make Rojava Green Again

| Interview: Silke

Während der Angriffskrieg des autokratischen Russlands gegen die Ukraine die Medien dominiert, wird über den Angriffskrieg des autokratischen NATO-Staats Türkei gegen die Kurd*innen in Rojava (Nordwest-Syrien) kaum berichtet. Das möchte die GWR ändern und hat deshalb Make Rojava Green Again (MRGA) interviewt. Die Kampagne Make Rojava Green Again wurde im Frühjahr 2018 von Internationalist*innen gemeinsam mit der demokratischen, kurdischen Selbstverwaltung in Nordost-Syrien begonnen. Das Ziel ist es, einen konkreten Beitrag zum Aufbau einer basisdemokratischen und ökologischen Gesellschaft zu leisten. Dabei umfasst die Kampagne direkte Unterstützung ökologischer Projekte vor Ort, Informationsarbeit über die ökologischen Herausforderungen in Syrien und die Diskussion über Lösungen der ökologischen Krise des Kapitalismus. (GWR-Red.)

GWR: Die Angriffe der Türkei auf Rojava verstärken sich immer mehr: Schon seit Monaten setzt das türkische Militär regelmäßig Chemiewaffen ein. Welches Ausmaß und welche Auswirkungen haben die C-Waffen?

MRGA: In der Geschichte der Unterdrückung des Türkischen Staates gegenüber der kurdischen Freiheitsbewegung gibt es viele Vorfälle, bei denen chemische Waffen eingesetzt wurden. So gibt es auch seit Frühling 2021 wieder vermehrt Berichte und Bildmaterial über den Einsatz chemischer Waffen in den Bergen Kurdistans. Die Pressestelle der kurdischen HPG (kurdisch Hêzên Parastina Gel, Volksverteidigungskräfte) berichtet von 323 Einsätzen international verbotener Waffen im Jahr 2021 und von 3152 Fällen im Jahr 2022. (1) Der letzte dokumentierte Einsatz von chemischen Waffen der Türkei in Rojava war 2019. Bei der Invasion von Serêkaniyê wurden Bomben mit weißem Phosphor über Wohngebieten abgeworfen. Bilder von Kindern mit völlig verätzten Körpern gingen um die Welt. Während die türkische Armee in den Bergen Süd- und Nord-Kurdistans Giftgase einsetzt, um kurdische KämpferInnen in ihren Höhlensystemen zu töten, sollte der Einsatz in Serêkaniyê vor allem dazu dienen, die Menschen zu verängstigen und zu einer schnellen Flucht zu treiben. (2)

Seit dem 20. November 2022 ist die Türkei zu anhaltenden Bombardierungen übergegangen, darunter Wohngebiete. Wurden dabei auch Zivist*innen ermordet?

Der direkteste Schlag gegen ZivilistInnen fand am 20. November statt. Türkische Kampfjets haben ein Elektrizitätswerk bombardiert. Viele Menschen sind herbeigeeilt, um zu helfen und den Schaden zu erfassen, wonach gleich nochmals Bomben abgeworfen wurden. Elf ZivilistInnen sind dabei gestorben, darunter ein Journalist, der vor Ort berichten wollte. In den Dörfern entlang der Grenze, wie auch in den Infrastrukturen, die Ziel militärischer Angriffe sind, werden immer wieder ArbeiterInnen oder BäuerInnen schwer verletzt oder getötet.

Bei den Bombardierungen greift die türkische Armee ganz gezielt die zivile Infrastruktur in den kurdischen Gebieten an. Welche Einrichtungen sind davon hauptsächlich betroffen?

Am meisten werden Öl-Infrastrukturen getroffen. Das Öl ist ein ökonomisch sehr wichtiger Teil der Region. Es wird im Winter zum Heizen der Häuser genutzt. Die meisten Nachbarschaften haben diesel-betriebene Generatoren, um die knappe Stromversorgung auszugleichen. Die Angriffe haben also direkte Auswirkungen auf die grundlegende Versorgung der Menschen. Es wird auch Infrastruktur zur Nahrungs- und Wasserversorgung angegriffen. So wurden zum Beispiel sechs der zehn Getreidesilos in Derbasiye zerstört. Am 22. Dezember 2022 wurde bei Kobanê ein Wasserwerk bombardiert, wobei drei Arbeiter verletzt wurden. Die Folgen für die Bevölkerung, in einer wirtschaftlich, auch aufgrund des Embargos, ohnehin instabilen Region, sind schwer. Wie gut, trotz allem, die grundlegende Versorgung speziell über den Winter erhalten werden kann, wird sich in der nächsten Zeit zeigen. Schwer abzuschätzen ist die Zahl der zivilen Todesopfer, die der langanhaltende Krieg auf niedriger Intensität zur Folge hat. (3)

Welche Auswirkungen haben diese Zerstörungen auf den Alltag der Bevölkerung?

Das Ziel dieser Angriffe ist es, die Ökonomie zu zerschlagen und die Lebensgrundlagen der Menschen hier zu zerstören. So steigt beispielsweise die Inflationsrate immer weiter, wodurch u.a. der Treibstoff teurer wird. Die Menschen bekommen einmal mehr zu spüren, zu was für Grausamkeiten imperialistische Staaten fähig sind, wie speziell auch der faschistische NATO-Mitgliedsstaat Türkei. Ebenso lernen sie, einmal mehr, dass ein Vertrauen auf die teilweise militärisch präsente USA nicht gerechtfertigt ist. Viele, die die Möglichkeiten haben zu fliehen, machen sich auf den Weg nach Europa. Andere, die das häufig trostlose Leben in den kapitalistischen Zentren des Westens kennengelernt haben, sind zurückgekehrt und engagieren sich in den zivilen Institutionen oder reihen sich sogar in die Frontlinien der militärischen Verteidigung ein. Viele Menschen in Rojava trauern um ihre durch den IS (Islamischen Staat) oder durch die türkische Armee ermordete Angehörige. Die Trauer wird zum Ausdruck gebracht durch das Ankämpfen gegen das vermeintliche Schicksal des eigenen und das der anderen in Rojava vertretenen Völker. Aus den vielen Opfern der Unterdrückung und des Widerstandes dagegen wird auch Stärke gewonnen. Auf jeder Beerdigung ermordeter Menschen wird immer wieder „Şehîd namirin!“ gerufen, was soviel bedeutet wie: „Die Getöteten sind unsterblich“.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass deutsche Waffenkonzerne der Türkei für ihren Krieg gegen die Kurd*innen Waffen liefern. Werden auch bei den aktuellen Angriffen deutsche Waffen eingesetzt?

Kürzlich ist ein Bericht erschienen, aus dem hervorgeht, dass die Raketen der Drohnen, mit denen gezielt Menschen in Nordost-Syrien umgebracht werden, elektromagnetische Teile aus Deutschland enthalten. Conflict Armament Research hat 2021 und 2022 Überreste von tödlichen Drohnenangriffen untersucht, wobei fast immer Teile der niederländischen Firma Kendrion gefunden wurden, die in Deutschland produziert werden. Es ist davon auszugehen, dass dies auch bei den Angriffen, die Ende 2022 gestartet haben, der Fall ist. (4) Das türkische Militär besitzt 32 RF-4E Jets, die aus Deutschland geliefert wurden, und baut ihre Howitzer, also schwere Artillerie, mit Motoren aus der BRD. Der größte Rüstungskonzern Deutschlands, Rheinmetall, ist involviert in eine neue Generation türkischer Panzer, die auch 2018 bei der türkischen Invasion in Afrîn, dem westlichsten Kanton Rojavas, eingesetzt wurden. (5)

Schon seit Jahren zerstört das türkische Regime systematisch die Lebensgrundlagen der kurdischen Bevölkerung in Rojava, nicht zuletzt durch gezielte Schädigung der ökologischen Bedingungen. Könnt ihr dafür ein paar Beispiele nennen?

Die zwei verheerendsten Methoden, mit denen der türkische Staat massive Eingriffe in die Natur als Waffe gegen die Bevölkerung Nordost-Syriens nutzt, sind das Begrenzen des Wasserflusses in den Süden und das Abholzen von Wäldern. In Afrîn, das seit 2018 durch türkische Militärs und islamistische Söldner des Erdoğan-Regimes besetzt ist, wurden Millionen Bäume entweder gefällt und auf dem Markt verkauft oder einfach verbrannt. In den ersten drei Jahren der Besatzung fällten die von der Türkei unterstützten syrischen Milizen fast 1,5 Millionen Bäume, darunter 650.000 Olivenbäume.
Unter diesen Olivenbäumen sind viele, die mehr als hundert Jahre alt waren. Die Region Afrîn ist bekannt für ihre an Olivenbäumen reiche Landschaft und war die grünste Region in Nordsyrien bis zur Besatzung durch die türkische Armee. Mehr als fünf Millionen Menschen in den Provinzen Ar-Raqqa, Aleppo und Deir Ez-zor sind abhängig vom Wasser des Euphrats, der auf türkischem Gebiet entspringt. Der Fluss ist von entscheidender Bedeutung für die Wasser-, Lebensmittel- und Energiesicherheit in der Region, insbesondere da die Sommer in der Region immer heißer werden, während die Niederschläge jedes Jahr abnehmen. Der Tishreen-Damm in Tabqa im Nordosten Syriens, der Energie für die Region erzeugt, muss mit weniger als der Hälfte der Wassermenge arbeiten, die für eine optimale Funktionsfähigkeit des Damms benötigt würde. Der Wasserspiegel befindet sich nur etwas mehr als einen Meter über der notwendigen Menge zur Funktionstüchtigkeit. Der Euphrat trocknet aus, was dazu führen wird, dass die Wasserpumpwerke nicht mehr genügend Energie erzeugen können. Die Landwirte sind schon jetzt gezwungen, Dieselgeneratoren für die Bewässerung der Landwirtschaft zu verwenden. Der Einsatz von Wasser als Waffe ist natürlich auch ein Angriff auf humanitärer Ebene. In den letzten Monaten hat sich die Wassersituation in der Region drastisch zugespitzt. Infolge des Mangels an Wasser für die Hygiene und des stagnierenden, schmutzigen Wassers in den Flussgebieten breiten sich Krankheiten aus. Es werden immer mehr Fälle von Cholera festgestellt, die über das Wasser übertragen werden. (6)