Die belarussische Menschenrechtsaktivistin Olga Karatsch lebt seit 2020 im Exil in Vilnius (Litauen). Seit 2014 arbeitet sie für die belarussische Nichtregierungsorganisation Nasch Dom (Unser Haus). In der GWR 476 hat sie die Lebensumstände der rebellischen, belarussischen Frauen analysiert. Im folgenden Artikel beschreibt sie die Situation geflüchteter Belaruss*innen im litauischen Exil. (GWR-Red.)
Am 2. Juli 2021 wurde in Litauen der „Ausnahmezustand“ verhängt, und die litauischen Behörden beschlossen, eine Mauer an der Grenze zu Belarus zu errichten, als der belarussische Diktator Alexander Lukaschenka einen Angriff auf Litauen startete, indem er den illegalen Transport von zigtausenden Migrant*innen aus Afrika und Asien an die Grenze organisierte, denen der „einfache Weg“ in die Europäische Union versprochen worden war. Es war Lukaschenkas raffinierte Rache dafür, dass Litauen begonnen hatte, massiv politische Flüchtlinge aus Belarus aufzunehmen.
Im Jahr 2020 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt, deren Ergebnisse erneut gefälscht wurden. Die populärsten Oppositionskandidat*innen wurden inhaftiert oder ins Exil geschickt, und in Belarus kam es zu den größten Protesten aller Zeiten, an denen rund eine Million Menschen teilnahmen, von denen viele anschließend aufgrund von Terror und Repression aus dem Land fliehen mussten. Laut Statistik sind seit 2020 etwa 45.000 Belaruss*innen aus verschiedenen Gründen nach Litauen gekommen. Es ist nicht so wichtig, mit welchen Visa und Dokumenten sie gekommen sind, all diese Menschen sind aus politischen Gründen nach Litauen gekommen, entweder auf der Flucht vor bestehender Verfolgung oder in Erwartung künftiger politischer Schikanen.
Heute fliehen die Belaruss*innen über die litauisch-belarussische Grenze, ähnlich wie seinerzeit die Ostdeutschen aus der DDR: Die Mauer wird jeden Tag stärker, die Flucht wird schwieriger, aber die Menschen fliehen weiter. Einige rennen durch den Wald, um Schlupflöcher in der Grenzmauer zu finden, andere bauen selbstgebaute Gleitschirme und fliegen über die Mauer, wieder andere werfen mit letzter Kraft Kinder und Hunde über die Mauer, reißen sich die Hände blutig am Stacheldraht. Sie versuchen dann, selbst über die Mauer zu klettern und viele brechen sich dabei die Beine. Immer mehr Belaruss*innen versuchen, den Fluss zu durchschwimmen, manchmal in Neoprenanzügen, manchmal nur in normaler Kleidung. Das Wasser ist eisig, der Winter in Litauen und Belarus ist nicht so mild wie der in Deutschland. Deshalb ist der Neman heute übersät mit Rucksäcken mit Dokumenten, die politische Flüchtlinge aus Belarus bei dem Versuch verloren haben, den Fluss im Winter zu durchschwimmen.
Doch damit enden die Missgeschicke der Geflüchteten aus Belarus nicht. Für einen Flüchtling ist es schwierig, den Kontakt zu seinen in Belarus gebliebenen Verwandten aufrechtzuerhalten. Das rachsüchtige Lukaschenko-Regime nimmt die Angehörigen der Geflüchteten als Geiseln. Vor allem Angehörige derjenigen, die im Ausland weiterhin aktiv gegen Lukaschenko kämpfen, werden zu Hause inhaftiert, entlassen und mit anderen Mitteln unter Druck gesetzt. Die Verwandten in Belarus wiederum scheuen sich, Kontakt zu den Geflüchteten aufzunehmen, weil sie den belarussischen Geheimdienst KGB fürchten. Wenn Sie ein belarussischer politischer Flüchtling in Litauen sind, wäre es außerdem fast unrealistisch, für ihre Mutter, Frau, Schwester usw., die in Belarus geblieben sind, ein Visum für Litauen zu beantragen, da Litauen keine Visa für solche Personengruppen ausstellt.
Die belarussischen Flüchtlinge befinden sich in Litauen in einer merkwürdigen Situation:
Es gibt keine staatlichen Unterstützungsprogramme für diese Menschen, und nur belarussische Organisationen im Exil, wie Unser Haus und Dapamoga haben in den letzten drei Jahren belarussische Flüchtlinge aufgenommen. Und jetzt, wo Alexander Lukaschenko russische Truppen nach Belarus einlädt und gnädigerweise sowohl belarussische Gebiete für den Angriff auf die Ukraine als auch die belarussische Industrie für den Bedarf des russischen Verteidigungsministeriums zur Verfügung stellt, müssen sich Belaruss*innen auch noch Vorwürfe anhören, dass sie weder Lukaschenko noch die russische Aggression aufhalten konnten. Diese Vorwürfe sind nicht so harmlos: Immer wieder werden Stimmen laut, die Visa- und Asylgesetze für Belaruss*innen zu verschärfen, Belaruss*innen werden von Hilfsprogrammen und Stipendienmöglichkeiten ausgeschlossen und vieles mehr.
In Litauen gibt es nicht genug Hilfe und keine staatlichen Unterkünfte für die geflüchteten Belaruss*innen. Es ist möglich, in Flüchtlingslagern zu leben, aber traumatisierte und verängstigte Belaruss*innen brauchen dringend psychologische Hilfe und einfühlsame Unterstützung, und das ist in solchen Lagern schwer zu organisieren. Worüber die Belaruss*innen selbst nicht sprechen wollen, ist die Welle von Suiziden und Suizidversuchen unter den belarussischen politischen Flüchtlingen. Der jüngste öffentlichkeitswirksame Fall war der eines jungen Arbeiters, der sich nach den Präsidentschaftswahlen 2020 an einem Streik beteiligt hatte: Der Mann nahm sich im August 2022 in Polen das Leben, weil er sich in Isolation, Einsamkeit und Entbehrung ohne jegliche Hilfe befand.
Vielen Belaruss*innen selbst ist es peinlich, über ihre Probleme zu sprechen. Erstens können sie immer noch nicht glauben, dass sie leben, frei sind und nicht gefoltert werden, und sie sind Litauen sehr dankbar für die Möglichkeit, einfach ohne Gewalt zu leben. Zweitens haben die Belaruss*innen nach dem Terror und der Gewalt, die sie in ihrer Heimat erlebt haben, Angst, mit staatlichen Behörden in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. In Belarus endet jede Kommunikation mit den staatlichen Behörden, selbst eine einfache Petition, oft in nächtlichen Durchsuchungen, Plünderungen durch Sicherheitskräfte, Strafverfahren und Drohungen, die Kinder ins Waisenhaus zu bringen. Wenn die belarussische Polizei Geld beim Wohnungseigentümer findet, teilt sie es unter sich auf und droht ihm mit zusätzlicher Gewalt und Schlägen, wenn er das Verschwinden von Geld auch nur erwähnt. Deshalb befürchten viele Belaruss*innen, die in Belarus von den staatlichen Behörden malträtiert wurden, dass ihnen dasselbe passieren wird, wenn sie die litauischen staatlichen Behörden um Hilfe bitten, obwohl sie nicht einmal litauische Bürger*innen sind.
Die Probleme der Belaruss*innen in Litauen verschwinden dadurch nicht, sondern nehmen zu, wenn alle darüber schweigen. Wenn ein Belarusse illegal nach Litauen kommt, hat er nur die Möglichkeit, in Litauen politisches Asyl zu beantragen, andernfalls wird er wegen illegalen Grenzübertritts strafrechtlich verfolgt. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Belarusse etwa ein Jahr lang auf eine Entscheidung über seinen Status warten muss und mindestens sechs Monate lang nicht legal in Litauen arbeiten darf. Nach Ablauf dieser sechs Monate werden bestimmte Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten auferlegt. Die meisten litauischen Arbeitgeber*innen wollen sich nicht mit der Registrierung eines Belaruss*innen mit einem fremden Status befassen und die Feinheiten des litauischen Steuerrechts verstehen. Es ist für sie einfacher, einen ukrainischen Flüchtling zu nehmen, der sofort nach seiner Ankunft in Litauen das Recht hat, zu arbeiten. Für Ukrainer*innen gibt es keine so komplizierten Verfahren.
Das Arbeitsverbot, der Mangel an Rechten, die unzureichende Unterstützung und die faktisch erzwungene Schwarzarbeit ha
ben für die Belaruss*innen nicht nur rechtliche, sondern auch psychologische Folgen. Das Jahr des Wartens auf den Status eines politischen Flüchtlings wird zu einer Überlebensfrage. So ist beispielsweise nicht klar, woher ein belarussischer Flüchtling das Geld für Miete und Nebenkosten nehmen soll, die sich in diesem Winter auf insgesamt 700 bis 800 Euro pro Familie beliefen. Bis zum 31. Dezember 2022 betrug die Unterstützung für belarussische Asylbewerber*innen 20 Euro pro Monat für Lebensmittel und Hygiene, aber ab dem 1. Januar 2023 ist Schluss damit.
Es sind Fälle bekannt geworden, in denen belarussische Eltern Essensgutscheine für ihre Kinder fälschen. Denn die belarussische Mutter hat kein Geld, um ihrem Kind Essen zu geben oder einen Essensgutschein zu kaufen, und wenn sie ihn dem Kind nicht gibt, geht die ganze Klasse essen, und das Kind bleibt allein in der Klasse zurück, hungrig und mit dem Gefühl einer großen Demütigung und einer ebenso großen sozialen Ungleichheit. Sie versuchen auch, nicht darüber zu sprechen, denn wie kann man über solche Situationen berichten?
Ja, ein belarussischer Asylbewerber erhält kostenlose medizinische
Versorgung. Das ist wichtig, weil viele Belaruss*innen bereit sind, illegal zu arbeiten, zum Beispiel auf Baustellen. Aber sie sind in der Regel körperlich nicht darauf vorbereitet, so dass Verletzungen keine Seltenheit sind, Menschen brechen sich Arme und Beine. Da die Arbeit illegal ist, gibt es keine Entschädigung für gebrochene Gliedmaßen. In dieser Situation helfen kostenlose Medikamente, aber es bleibt die Frage, woher man das Geld für die Medikamente nimmt.
Besonders betroffen und isoliert sind die belarussischen Flüchtlingskinder. Belarussische Kinder haben die gleiche Phobie: Sie haben große Angst, nachts einzuschlafen. Viele belarusische Flüchtlingskinder in Litauen haben nächtliche Durchsuchungen in Belarus überlebt, als der KGB und OMON, eine Spezialeinheit der belarussischen Miliz, nachts in Wohnungen eindrangen, die Eltern vor ihren Augen schlugen und oft einen Elternteil für immer mitnahmen. Jetzt haben die Kinder Angst zu schlafen, weil sie befürchten, dass „ein unbekannter maskierter Mann“ wieder kommt. Die Kinder mussten auch illegal über die Grenze fliehen, da das belarussische Regime den Eltern, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten, die Kinder wegnahm. In Litauen wurden die Kinder im Stich gelassen, die belarussischen Eltern waren die ganzen drei Jahre mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt, mit harter Arbeit in verschiedenen Jobs, mit dem Versuch, denen zu helfen, die in Belarus geblieben waren und weiter für die Menschenrechte kämpften, mit der Unterstützung der Unterdrückten, mit Protestaktionen, dann mit der Hilfe für ukrainische Flüchtlinge und vielem mehr. Es war keine Zeit, Kraft und Energie für Kinder übrig. Aber selbst dort, wo es eine Möglichkeit gibt, haben die Eltern Angst, ihre Kinder gehen zu lassen, so dass viele Kinder einfach zu Hause sitzen und nirgendwo hingehen.
Häusliche Gewalt
Das schwierigste Thema bleibt jedoch die häusliche Gewalt in den Familien ehemaliger politischer Gefangener. Männer, die von der belarussischen Polizei zu Krüppeln gemacht wurden (z.B. mit gebrochener Wirbelsäule), brauchen zusätzliche kostenlose Rehabilitationsmaßnahmen, die diese Merkmale berücksichtigen, aber es gibt keine solche Hilfe. In solchen Familien ist das psychologische Umfeld meist unerträglich. Die Ehefrau ist nun Alleinverdienerin und muss Tag und Nacht arbeiten, um eine Familie mit drei weiteren Kindern zu ernähren. Der Charakter des Mannes ist durch die ständigen Schmerzen und das Wissen, dass er für immer behindert ist, beschädigt. Die Familien brechen auseinander, die Ehefrauen können eine solche Dreifachbelastung (Auswanderung, Ernährung der Familie, oft mit gelegentlichen illegalen Einkünften, und auch die Pflege des behinderten Ehemanns und der Kinder sowie die Beherrschung der emotionalen Reaktionen des Ehemanns auf den Schmerz) nicht ertragen. Erschwerend kommt hinzu, dass sowohl die Ehefrau als auch der Ehemann sehr wohl wissen, dass die Behinderung und die unerträglichen Schmerzen des Mannes auf seine Teilnahme an den belarussischen Protesten zurückzuführen sind, während vorher alles in Ordnung und normal war. Die Familien sitzen in der Falle und brauchen Hilfe und Unterstützung, um aus dieser Falle herauszukommen, ohne zusätzliche Schuldgefühle und Selbstzerstörung.
Das belarussische Regime lässt auch nicht von seinen Versuchen ab, Druck auf die Belaruss*innen in Litauen auszuüben. Am 28. September 2022 wurde Mantas Danielis, ein litauischer Anwalt von Unser Haus, in Vilnius vom litauischen Ministerium für Staatssicherheit verhaftet. Dieser Anwalt war vom belarussischen KGB rekrutiert worden, um belarussische Menschenrechtsorganisationen in Litauen und ihre Aktivitäten zu überwachen, allen voran natürlich Unser Haus. Der belarussische KGB hat ein „Road Home“-Programm angekündigt, das allen Belaruss*innen, die vor politischer Verfolgung in die EU geflohen sind, anbietet, sich bereit zu erklären, in Litauen für den KGB zu spionieren, wenn im Gegenzug alle Strafverfahren in Belarus eingestellt werden und sie sicher nach Hause zurückkehren können. Allein im Dezember 2022 gab es 58 solcher Personen, die sich bereit erklärten, als Geheimagent*innen des KGB in der Europäischen Union zu arbeiten und Informationen über die belarussischen Flüchtlinge in Litauen und Polen sowie über die Aktivitäten belarussischer Menschenrechtsorganisationen zu sammeln und weiterzuleiten. Alle diese 58 Personen wurden nach ihrer Rückkehr nach Belarus sofort festgenommen und wegen ihrer Teilnahme an den Protesten inhaftiert, denn der belarussische KGB als Nachfolger des sowjetischen KGB hält nie seine Versprechen und nutzt Menschen leicht aus. Aber gerade das Verpfeifen und Bespitzeln solcher Belaruss*innen schafft eine zusätzlich schwierige Atmosphäre in der belarussischen Diaspora: Keiner traut dem anderen und jeder verdächtigt den anderen, für den KGB zu arbeiten.
Es kommt alles zusammen, und wir brauchen internationale Hilfe und Solidarität, um das alles zu bewältigen. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Heute bietet sich den Belaruss*innen im litauischen Exil eine einmalige Chance, zu sehen, wie Demokratie in der Praxis funktioniert, eine einmalige Chance, das koloniale Denken und die Abhängigkeit vom imperialen Russland zu überwinden, litauisch-belarussische Geschäftskontakte aufzubauen und zu stärken, sich nicht in Worten, sondern in der Praxis in die europäische politische Kultur und das Gesellschaftssystem zu integrieren und wirklich Teil Europas zu werden. Lassen Sie uns alle gemeinsam diese historische Chance für die Belaruss*innen nicht verpassen.